Fichte in Berlin. Spekulative Ansätze einer Philosophie der Praxis

Fichte in Berlin. Spekulative Ansätze einer Philosophie der Praxis

Organisatoren
Arbeitsgruppe "Berliner Klassik 1786-1815" an der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.11.2002 -
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Von
Ursula Baumann, Institut für Geschichtswissenschaft, TU Berlin

Üblicherweise taucht Fichte in der Philosophiegeschichte hauptsächlich mit seinen frühen in Jena entstandenen Werken auf, der Wissenschaftslehre (1794) und der Grundlage des Naturrrechts (1796). Die Vernachlässigung seiner in Berlin entstandenen Arbeiten ist aber sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht nicht gerechtfertigt. Die von der Interdisziplinären Arbeitsgruppe "Berliner Klassik 1786-1815" an der BBAW und Ursula Baumann veranstalteten Tagung, hatte das Ziel, einen vielfältigen Zugang zu den in Berlin entwickelten Ideen des Philosophen zu ebnen. Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist geplant.

Günter Zöllner (München) thematisierte das Verhältnis von "Idealismus und Realismus beim späten Fichte" und stellte dessen in Berlin entstandene Versionen der Wissenschaftslehre in den Kontext des Gesamtwerks. Gegen eine weitverbreitete Lesart, die Fichtes Entwicklung von einem an Kant orientierten Idealismus des endlichen Subjekts hin zu einem Realismus des Absoluten versteht und damit eine starke Affinität zum späten Schelling behauptet, betonte der Vortrag die Kontinuität von Fichtes "erster Philosophie" als "Real-Idealismus", der durchgängig dem Kantischen Konzept von Philosophie als Wissenschaft von den Grenzen der Vernunft verpflichtet bleibt und sich von den zeitgenössischen Romantikern des Absoluten scharf abgrenzt.
In seinem Vortrag über "Religion, Revolution und Transzendentalphilosophie" führte Christoph Asmuth (Berlin) in die späte Religionsphilosophie Fichtes ein. Ausgehend von den populärphilosophischen "Anweisungen zum seligen Leben" von 1806 hob er hervor, dass es Fichte zentral um eine rationalisierte Fassung der christlichen Metaphysik gegangen sei. Der Grundsatz, dass das Christentum vor der Kritik der Philosophie bestehen können müsse, der im zeitgenössischen Berlin eine durchaus verbreitete Überzeugung artikulierte, schlägt sich in Fichtes Gottesbegriff nieder. Als Ausgang moralischer Verpflichtung, (die aber auch ohne Gott besteht), und als oberste transzendentale Bedingung des Wissens verweist der Titel "Gott" auf die Realität des Vernünftigen schlechthin, von dem es keinen, gerade auch keinen theologischen Begriff geben kann. Gegen die These, dass Fichtes Philosophie als negative Theologie zu lesen sei, wandte sich Asmuth jedoch mit dem Hinweis, dass Fichte zufolge die Wissenschaftslehre eindeutig über den Standpunkt der Religion hinausgeht, weil erst die Philosophie den genetischen Zusammenhang aller Wissensformen transparent macht. Einen Dualismus von Glauben und Wissen a la Kant lehne Fichte ab.
Hartmut Traubs (Mühlheim/R) Vortrag über "Fichtes Philosophie der Bildung und Erziehung" belegte die Anschlußfähigkeit der fichteschen Pädagogik gegenüber aktuellen didaktischen Konzepten und leitete mit dem Hinweis auf den starken pädagogischen Impuls, der sich generell durch Fichtes Denken in seiner Handlungsorientierung zieht, zu dem Teil der Tagung über, der
dem Zeitgenossen Fichte im engeren Sinn gewidmet war, dem engagierten Intellektuellen, der mit einer bis dahin unerhörten Emphase eine Philosophie der Praxis vertrat und mit seinen öffentlichen Vorträgen immer auch politisch wirken wollte.
Stefan Reiß (Frankfurt/M) ("Der Philosoph als Politikberater") führte das Berliner Beziehungsnetz Fichtes vor. Anders als in Jena suchte Fichte in Berlin weniger den Umgang mit Philosophen und Literaten als vielmehr mit Mitgliedern der Regierung und der Administration. Auch wenn Fichte, wie die Hörerlisten seiner öffentlichen Vorträge beweisen, in diesen Kreisen durchaus Anklang fand, lassen die Preußischen Reformen einen politischen Einfluß des Philosophen nur sehr indirekt erkennen. Spuren Fichtes kann man finden in den Denkschriften Altensteins und Hardenbergs, in der Universitätsgründung Humboldts und den Plänen der Militärreformer zu einem Volkskrieg.
Jean-Christophe Merle (Tübingen) ("Fichtes Machiavelli-Schrift als Anwendung des Kantschen Erlaubnisgesetzes") setzte sich kritisch mit der gerade in letzter Zeit wieder stark vertretenen Interpretation auseinander, die Fichtes Machiavelli-Schrift
als Abkehr von den Idealen der Französischen Revolution liest und Fichte daher einen Verrat an den früher von ihm selbst verfochtenen Idealen vorhält: In einem zynischen außenpolitischen "Realismus" würden Macht und Gewalt als einziges Prinzip der internationalen Beziehungen behauptet. Völlig ausgeblendet - so Merle - bleibe bei diesem Vorwurf der Regimewechsel, der zwischen Fichtes Revolutionsschrift (1793) und seiner Machiavelli-Schrift (1807) in Frankreich selbst stattgefunden hat. Dass Fichte 1807 die Menschenrechte als alleinige Prinzipien zur Errichtung eines neuen Gemeinwesens für ungeeignet findet, kann nicht als generelle Absage an die Menschenrechte interpretiert werden, sondern ist als Resultat einer politischen Erfahrung, nämlich der tyrannischen Herrschaft Napoleons zu sehen. Fichte vertritt 1807 die Position, dass die Menschenrechte durch ein Rechtssystem und ein Staatsrecht ergänzt werden müssen, wenn man einem neuen, republikanischen Staat ein sicheres Fundament geben will. Die Klugheitsrezepte, die Fichte bei Machiavelli und Clausewitz tatsächlich findet, dienen ausschließlich dem Ziel der Errichtung einer Republik und stehen im Rahmen einer systematischen Anwendung des in Kants "Zum ewigen Frieden" formulierten Erlaubnisgesetzes.
Auch Ursula Baumann (Mannheim/Berlin) betonte in ihrem Beitrag über "Frühnationalismus und Freiheit: Fichtes Berliner Perspektiven einer deutschen Republik" die Kontinuität zu den Ideen von 1789. Die aggressiv-polemischen Töne der "Reden" sind der antikolonialistischen Selbstvergewisserung gegen Napoleon geschuldet. Das zentrale und immer noch relevante Thema der "Reden", die im 20. Jahrhundert im Kontext eines kulturalistischen Nationalismus eine höchst problematische Wirkungsgeschichte entfalteten, ist die Frage, wie sich ein stabiles Gemeinwesen konstituieren kann, in der die Individuen das Gemeinwohl als ihre eigene Sache begreifen. Fichte entwirft hier das Projekt einer sittlichen Gemeinschaft, die über einen bloß legalen Rechtszustand hinausgeht und als ideale deutsche Republik die ursprünglichen Ideale der Französischen Revolution in ganz Europa verbreiten soll.
Wäre es auch verfehlt, aus den thematisch heterogenen Vorträgen ein einheitliches Ergebnis destillieren zu wollen, so kann man doch festhalten, dass die dem "Berliner" Fichte gewidmete Tagung sowohl im Bereich der theoretischen als auch in dem der praktischen Philosophie die Kontinuitätslinien zu der Jenaer Zeit hervorhob. Während ein Einfluß der Berliner Lebenswelt des Philosophen auf die nach 1800 entstandene Wissenschaftslehre wohl kaum substantiierbar ist, ist das öffentliche Wirken Fichtes ab 1804 nicht denkbar ohne den Resonanzboden, den die damalige preußische Metropole bot. Insbesondere die Reden an die deutsche Nation hätten schwerlich in der Provinz gehalten werden können. Einen Hauch jener Atmosphäre einer religiös traditionskritischen und der Französischen Revolution gegenüber lange freundlich gestimmten städtischen Gesellschaft kann man nicht zuletzt auch in der fichteschen Religionsphilosophie vernehmen.


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