Soziologie des visuellen Wissens

Soziologie des visuellen Wissens

Organisatoren
Institut für Soziologie der TU Berlin – FG Allgemeine Soziologie /Sektion Wissenssoziolgie der DGS
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.05.2007 - 25.05.2007
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Von
Felix Degenhardt, Jule Lorenzen, Sabine Petschke, Frederik S. Pötzsch, Lisa-Marian Schmidt, René Tuma, Institut für Soziologie/TU Berlin

Im Zuge der ‘bildlichen Wenden’ der letzten Dekade, ist das Ikonische zu einem wichtigen Thema der Geistes- und Sozialwissenschaften geworden. Dass Bilder aber auch ein wichtiger Aspekt der Wissensgenerierung und -kommunikation und damit Bestandteil unseres Handelns und unseres ‘Wissens’ von der Welt sind, ist bisher eher ein Thema einzelner Disziplinen und Forschungsvorhaben gewesen. Wie sich die Visualisierung auf das Wissen selbst auswirkt und welche Ordnungen dadurch geschaffen werden, ob sich die Form und Struktur oder gar Inhalte des Wissens durch die Verwendung von Techniken der Visualisierung verändern und wie sich Visualisierungen auf die Produktion von Wissen auswirken, sind Fragen die bisher eher selten ins Zentrum des Iconic Turns vorgedrungen sind. Das DFG geförderte Projekt „Die Performanz visuell unterstützter mündlicher Präsentationen “ am Institut für Soziologie an der TU Berlin und die Sektion Wissenssoziologie der DGS, haben aus diesem Grund zu einer Tagung geladen, die dem Austausch unterschiedlicher Disziplinen dienen und verschiedenen Forschungen und Ansätzen ein Forum bieten wollte.

Den ersten Vortrag bestritt Martina Heßler (Offenbach) mit Überlegungen und empirischen Beispielen zur Verwendung von Farben in den Naturwissenschaften. Sie kam zu dem Schluss, dass der Bedeutung von Farben als Mittel sinnlicher Erkenntnis zu wenig Beachtung geschenkt würde. Für Farben ließe sich eine eigene Logik der Sinnproduktion feststellen, welche drei Aspekte beinhalte: (1.) Kontrast, Hierarchie, Differenz (2.) Farben fungieren als Code (3.) Farbsemantik. Sie erläuterte dies anhand von DNA-Darstellungen in natur- und populärwissenschaftlichen Zeitschriften der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Demzufolge drückt sich der in den 1980er-Jahren diagnostizierte Wandel der Farbverwendung in einer Verschiebung von schematisch schlichten, hin zu einer ‘bunten Wissenschaft’, welche eng mit den Visualisierungsmöglichkeiten durch den Computer verbunden sei, aus. Dabei ließe sich in populärwissenschaftlichen Zeitschriften ein freies Spiel der Farben feststellen (Dekoration), während in Fachzeitschriften Farbkodierungen verwendet würden (Erkenntnismittel).

Die „Visuellen Felder der Psychiatrie“ stellte Susanne Regener (Siegen) vor. An Hand unterschiedlicher Film-Stills, Fotos und Abbildungen, zeigte sie wie sich ‘das Bild’ der Psychiatrie zusammensetzt. Ein Bild welches sowohl der Außendarstellung dient, als auch gleichzeitig wissenschaftliches Lehrmaterial für die Ärzte bilde. Regeners Anliegen war es zu zeigen, dass Bilder nicht singulär auftreten, sondern im Sinne einer ‘Blickkultur’ in ein Geflecht aus Bezügen und Verweisen auf andere Bilder oder Texten eingebunden sind. Die Summe dieser Vorstellungen, bildet dabei einen Rezeptionshintergrund, der die Interpretation eines Bildes erst ermöglicht. Abschließend wies Regener darauf hin, dass Bilder stets zwischen wissenschaftlichem Anspruch und alltäglicher Ausdeutung stünden.

Zum Thema „Visualisierung und Quantifizierung“ in den Naturwissenschaften referierte Bettina Heintz (Bielefeld). Im Sinne einer ‘Technizität’ durchlaufen selektierte Messdaten komplexe ‘Manipulations’- und Transformationsprozesse, bis diese bildförmig und unter Rückgriff auf populäre Kodes dargestellt werden. Die spätere ‘Interpretation’ von Mustern in den Bildern setzt laut Heintz eine ‘Normalitätsfolie’ voraus, da kein externes Bildkriterium existiere. Unter Rekurs auf Th.M. Porter und N. Luhmann erläuterte sie folgend den Evidenzcharakter von Bildern. Sprache kann aufgrund der binären Struktur Kontingenzen erzeugen, während numerische Aussagen nur durch Wissen und Ressourcen widerlegbar sind. Bilder hingegen blockieren Kontingenzen und suggerieren dadurch eine höhere Objektivität. Laut Heintz macht die fehlende Selbstreferentialität die Überzeugungsfunktion wissenschaftlicher Bilder aus, wohingegen Bilder in der Kunst eindeutig selbstreferentiell seien und darstellen, was und wie sie etwas zeigen.

Wie werden abstrakte Zusammenhänge visuell dargestellt? Der Beitrag von Claudia Globisch und Christoph Ernst (Erlangen-Nürnberg) behandelte die Funktion des Diagramms. Sie begannen mit einer theoretischen Einführung, in der sie sich ganz besonders der Theorie der Diagrammatik von C.S. Pierce widmeten. Als empirisches Material präsentierten Globisch und Ernst drei Diagramme aus dem Bereich der Antisemitismusforschung, die sie unter verschiedenen Gesichtspunkten einander gegenüberstellten und auf mehreren Analyseebenen exemplarisch abhandelten. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Diagrammen in der Wissensproduktion zunehmend eine eigenständige Rolle zukomme, welche stärker berücksichtigt werden sollte – gerade auch in Zeiten von Digitalisierung und Computerisierung.

Jürgen Raabs (Luzern) Vortrag hatte die „soziale Genese des Blicks und die soziologisch-genetischen Sinndeutung des Kunstwerks“ zum Thema. Zunächst verwies er auf die unmittelbaren Bezüge, die die Kunstgeschichte und die Wissenssoziologie in ihrer Gründungszeit zueinander aufwiesen. Die Darstellung von Parallelen und Divergenzen der Überlegungen von K. Mannheim, P. Bourdieu und E. Panofsky, schloss Raab mit der Frage nach der methodischen Umgangsweise mit den im Wahrnehmungsakt sich vollziehenden Prozessen der Sinnkonstitution. Am Ende seines Vortrags plädierte Raab für eine an P. Berger und Th. Luckmann anschließende visuell orientierte Wissenssoziologie, um der gesteigerten Komplexität und den Paradoxien sich wandelnder Wahrnehmungs- und Gestaltungsformen gerecht zu werden.

Frederik S. Pötzsch (Berlin) ging in seinem Vortrag der Frage nach, inwieweit PowerPoint eine paradigmatische Kommunikationsform der Wissensgesellschaft sei.
Dazu ging er weit in die Geschichte zurück und diskutierte anhand von J. Crary, wie sich am Ende des 18. Jahrhunderts ein neuer Diskurs der Wahrnehmung ausbildete und zu einer Disziplinierung des Blickes führte. An der Geschichte des Projektionsbildes konnte er zeigen, wie dieses als Medium der Aufmerksamkeitssteuerung funktioniert.
Gerade das Medium PowerPoint, so Pötzsch, trage maßgebend zu einer Ökonomisierung von Wissensbeständen bei, was paradigmatisch für eine so genannte Wissensgesellschaft sei.

Den Beginn des zweiten Tages bildete der Vortrag von Ralf Bohnsack (Berlin). Er konstatierte zunächst, dass die enormen Fortschritte in der Entwicklung von qualitativen Methoden zu einer Marginalisierung des Bildes geführt hätten, weil diese sich überwiegend der Textlichkeit von sozialen Vorgängen widmeten. Weltdeutung und Handlungsorientierung vollziehe sich jedoch auch im Ikonischen. Im Rahmen der dokumentarischen Methode skizzierte er ein Verfahren, mit dem man sowohl der Textlichkeit als auch der Bildlichkeit sozialer Untersuchungsgegenstände gerecht werden könne, welches aber trotzdem die Eigengesetzlichkeit des Bildes berücksichtige.

Udo Kuckartz (Marburg) wechselte in seinem Beitrag die Blickrichtung: nicht die Untersuchung von Erscheinungsformen des Visuellen war sein Thema, sondern Visualisierungen in der qualitativen Datenanalyse. Am Beispiel der sozialwissenschaftlichen Analysesoftware MAXQDA, konnte er zeigen, wie Visualisierungen dazu beitragen, Datensätze zu interpretieren und zu präsentieren. Seiner Meinung nach bringe dies der Untersuchungstätigkeit erhebliche Vorteile, welche sich in einer Steigerung des Erkenntnisgewinns niederschlagen können.

Infographiken laden den Betrachter zum „Flanieren und Marodieren“ ein, folgerte Jo Reichertz (Essen) aus einer Untersuchung dieser Form der Wissenspräsentation. Diese Form sei dazu geschaffen, komplexes Wissen, Begriffe und logische Zusammenhänge besser erfassen und transportieren zu können. An Beispielen, wie etwa dem Titelbild des Hobbesschen ‘Leviathan‘ und populärwissenschaftlichen Infographiken in Illustrierten, zeigte er, dass der Blick des Betrachter durch diese Graphiken nicht in eine vorgegebenen sequentielle Bahn gezwungen würde, sondern dass dieser seinen Blick schweifen lässt. In der anschließenden Diskussion wurden die zeitdiagnostischen Implikationen der von Pötzsch erläuterten PowerPoint Präsentationen mit Reichertz These kontrastiert.

Ebenfalls mit popularisiertem Wissen beschäftigte sich Daniela Eichholz (Dortmund). Sie zeigte, mit welchen Strategien in Science Centern (natur)wissenschaftliche Inhalte Laien zugänglich gemacht werden. Hierbei vermischen sich wissenschaftliche und ästhetische Kriterien, wobei Inhalte in Form von ‚Edutainment‘ dargeboten werden. ‚Hands-on – Minds-on’- so nennt sich dieses Konzept, das die Vortragende anhand konzeptioneller Statements der Ausstellungsgestalter und der Analyse der Darstellungsstrategien erläuterte. Neben der haptischen Erfahrung, spielt das Visuelle dabei eine maßgebende Rolle und bildet damit eine zentrale „Brücke“ zum Denken. Das kritische Fazit der Vortragenden lautete, dass die Ausstellungsgestalter einen engen Zusammenhang zwischen Sehen und Verstehen annehmen, die erzeugten Lerneffekte bei den Besuchern jedoch fraglich seien.

Anhand eines Beispiels von fotographischer (Selbst)Präsentation referierte Roswitha Breckner (Wien) über die Segmentanalyse von Bildern. Angelehnt an WJT. Mitchells Konzept des „Imagetext“ und S. K. Langers Symboltheorie, konnte Breckner zeigen, in welcher Weise die einem Bild immanenten präsentativen und diskursiven Symbolisierungen aufeinander bezogen als eine spezifische Form der Wissensproduktion zu interpretieren sind. Sie zeigte ferner, wie es auf Grundlage einer detaillierten formalen Bildbeschreibung möglich ist, einzelne Bildebenen zu identifizieren und diese sukzessive zu interpretieren. Diese Methodik erlaubt es den Bildsinn als einen spezifischen Zusammenhang seiner Elemente zu rekonstruieren. Um die einzelnen Bildelemente und -ebenen in Beziehung setzen zu können, bedürfen Bilder nach Breckner jedoch ebenso textlicher Elemente, was im Ergebnis die Herstellung von Evidenz und eine kontextuelle Verortung erlaubt. Laut der Vortragenden entfalten diese Kombinationen aus indexikalischen Anzeichen und bild-textlichen Symbolisierungen ihre Wirksamkeit jenseits einfacher Abbildverhältnisse und können so als eine Form der Produktion von Wissen beschrieben werden.

In ihrem Vortrag präsentierten Regine Herbrik und Tobias Röhl (Konstanz) erste Forschungsergebnisse des DFG-Projektes „Kommunikative Vermittlungsstrategien des Imaginären“ am Beispiel von Pen-and-Paper-Fantasy-Rollenspielen. Im Fokus ihrer Forschung steht dabei die Beantwortung der Frage nach der Funktionsweise von kommunikativen Aushandlungsprozessen, innerhalb derer sich mehrere Akteure auf ein gemeinsames Imaginäres einigen. Im Verlauf ihres Vortrages konnten Herbrik und Röhl zeigen, dass die Kommunikation im Spiel multimodal realisiert wird. So erfüllen gerade Gesten, seien sie emblematisch, deiktisch, ikonisch etc. im Spiel wie in der alltäglichen Lebenswelt multiple Funktionen, wie die Herstellung von Anschaulichkeit, die Steuerung der Aufmerksamkeit oder die Nachahmung der visuellen Wahrnehmung. Im Ergebnis ermöglichen die Gesten den Spielern die Kommunikation über mehrere Sinnwelten hinweg. Auch topographische Karten, so argumentierten Herbrik und Röhl, erfüllen im Spiel die Funktion der Schöpfung und Imagination einer plausiblen fiktiven Welt (Weltkarten) und der Verortung innerhalb dieser (Lagepläne). Eine weitere Vermittlungsstrategie bildet das Ikon (Bild), welches eine mimetische Funktion erfüllt und eine intersubjektive Festlegung der Imagination von Objekten, Figuren und Landschaften der Spielwelt erlaubt. Abschließend wiesen die Referenten darauf hin, dass gerade aus Gründen der Gleichzeitigkeit, der zeitlichen Beständigkeit und des „Präsenzeffektes“ visuelle Kommunikationsstrategien im Spiel zur Anwendung kommen.

Christian Vähling (Bremen) lenkte in seinem Vortag die Aufmerksamkeit auf den Comic als einen „Prototyp des visuellen Denkens“. Zunächst referierte er, dass der Comic noch immer ein Stiefkind der Forschung sei und außer in einigen Arbeiten zur Rezeptionsästhetik von Texten und Bildern, kaum thematisiert wurde. Die meisten Arbeiten analysierten den Comic entweder unter dem Gesichtspunkt der Textes oder des Bildes, eine Trennung die laut Vähling nicht möglich ist, da Bild und Text hier nach ganz anderen Gesetzmäßigkeiten funktionieren. Texte seien linear, logisch und kausal, wohingegen Bilder mit V. Flusser als assoziativ und ‘kreisend’ beschrieben werden können. Demnach wären Comics, so Vähling „eiernd“, was er nachfolgend an einigen Beispielen demonstrierte. Im Comic trägt das Bild die Erzählung, wird so zum narrativen Element und der Text zum illustrativen, da er nur bestimmte Teile hervorhebt oder kommentiert. Dies wird auch daran sichtbar, dass Comics auch ohne Text funktionieren aber eben nicht andersherum. Die Ursache dafür liegt in der Bildanordnung, welche ein dynamisches und erzählendes Element schafft. Auf Grund dieser Struktur ist es möglich die Bilder zu lesen, als wären sie das zeitlich narrative Element des Textes.

Abschließend ging Ronald Hitzler (Dortmund) auf das Verhältnis von „Observation und Exibition“ in der medienbeherrschten Gegenwart ein. Er wies darauf hin, dass M. Foucaults Begriff des ‘Panoptikums’ als Metapher für die rationale Disziplinargesellschaft auch die Deutung als „Kuriositäten-Panoptikum“ zuließe und wir uns heute in einem solchen befänden. Das Sinnbild diese Panoptikums, so Hitzler, sei nicht mehr das Benthamsche Gefängnis, sondern die Peep-Show, das heißt ein Panoptikum in welchem sich alle so verhalten, als ob sie ständig die Aufmerksamkeit ihrer Mitmenschen verdienen würden oder aber doch zumindest bräuchten. An drei ausgewählten Beispielen konnte er dies zeigen. Zunächst (1.) an der zunehmenden Form der staatliche Überwachung durch Kameras im öffentlichen Raum und der Tatsache, dass diese heute kaum mehr als Eingriff in die freiheitlichen Bürgerrechte wahrgenommen werden, (2.) an der kommerziellen und privaten Überwachung zum Schutz des Eigentums, aber auch der Kunden und schließlich (3.) an den Videos auf Seiten wie YouTube oder Webcam-Livestreams, in denen sich die Macher selbst inszenieren und ihre „15 Minutes of fame“ (A. Warhol) bekommen. Dies seien laut Hitzler Beispiele bei denen offensichtlich nicht die Angst vor Überwachung und Kontrolle der Privatsphäre und der Freiheiten überwiegt, sondern die Lust daran sich selbst darzustellen oder aber das Gefühl, dass dies alles der eigenen Sicherheit diene. Damit wies Hitzler eindringlich auf die Paradoxie hin, dass unser privates Leben immer zum Gegenstand öffentlicher ‘Anschauungen’ wird, diese selbst aber längst fördern oder aber zumindest dulden.

Am Ende lässt sich feststellen, dass das Thema des visuellen Wissens oder auch des visualisierten Wissens ein weites Feld ist, das als solches nur interdisziplinär bearbeitet werden kann. Dass dabei manches aus der Sicht verschiedener Disziplinen unterschiedlich bewertet und interpretiert wird, haben die Diskussionen gezeigt und damit auch das Manko, das eine fachübergreifenden Kooperation wie die der Visual Culture in Deutschland noch nicht wirklich Fuß gefasst hat, dies aber dringend nötig ist, will man den vielfältigen Aspekten des Visuellen gerecht werden.


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