Universalität in der Provinz – die vormoderne Landesuniversität Gießen zwischen korporativer Autonomie, staatlicher Abhängigkeit und gelehrten Lebenswelten

Universalität in der Provinz – die vormoderne Landesuniversität Gießen zwischen korporativer Autonomie, staatlicher Abhängigkeit und gelehrten Lebenswelten

Organisatoren
Horst Carl; Friedrich Lenger; Historisches Institut, Neuere Geschichte I und II
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.06.2007 - 09.06.2007
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Von
Kerstin Weiand, Neuere Geschichte I, Philipps-Universität Marburg

Im Angesicht der Portraitgalerie der Professoren, eines zentralen Erinnerungsmediums der Gießener Universität, fand am 8. und 9. Juni im Senatssaal eine universitätsgeschichtliche Tagung anlässlich des 400jährigen Jubiläums der Justus-Liebig-Universität statt. Unter dem spielerisch-koketten, vielleicht auch „trotzigen“ (LOTTES) Titel „Universalität in der Provinz – die vormoderne Landesuniversität Gießen zwischen korporativer Autonomie, staatlicher Abhängigkeit und gelehrten Lebenswelten“ hatten Horst Carl und Friedrich Lenger ein Programm entworfen, das weit über ein solennes Memorieren der eigenen Vergangenheit hinausging. In sechs Sektionen wurde sowohl in zeitlicher und thematischer Hinsicht, aber auch bezüglich der geschichtswissenschaftlichen Forschungsansätze ein weiter Bogen gespannt: Lag der Schwerpunkt eindeutig auf der Frühen Neuzeit, so wurde der Blick doch auch auf gegenwärtige Tendenzen und zukünftige Entwicklungen gelenkt. Viele der behandelten Themen, wie das Verhältnis von Universität und Landespolitik, Fragen der Studienfinanzierung oder Studentenproteste, bewiesen eine nahezu zeitlose Aktualität. Dies entsprach der Intention der Veranstalter, aus Anlass des Jubiläums mittels historischer Reflexion der eigenen Vergangenheit und deren Einordnung in übergeordnete Kontexte auch den gegenwärtigen Standort kritisch zu hinterfragen und auf diese Weise die Zukunftsfähigkeit der Gefeierten aufzuzeigen. In diesem Sinne wurde die wechselvolle Geschichte der Ludoviciana bzw. Justus-Liebig-Universität nicht nur thematisiert, sondern in der deutschen wie europäischen Universitätsgeschichte verortet. Der Fokus wurde zudem über traditionelle universitätsgeschichtliche Ansätze erweitert auf sozialgeschichtliche und vor allem – ganz im Sinne des Profils der Gießener Geschichtswissenschaft – kulturgeschichtliche Fragestellungen nach den Lebenswelten und Selbstdeutungen von Universitätsangehörigen sowie nach der Funktion von universitären Erinnerungskulturen.

Die Tagung begann mit einer Sektion im Zeichen der Gründung der Ludoviciana im Jahre 1607 sowie deren Einbettung in die zeitgenössische Hochschullandschaft des Alten Reiches und Europas. Zunächst zeichnete Anton SCHINDLING ein anschauliches Bild von der Vielfalt des Hochschulwesens im Heiligen Römischen Reich um 1600, zwischen Späthumanismus und Konfessionalisierung. Neben der „klassischen“ Vier-Fakultäten-Universität, die sich am Pariser Vorbild orientierte, entstanden noch weitere Institutionen höherer Bildung im Reich, so etwa die reformierten Hohen Schulen oder die Gymnasia illustria. Zwar entwickelten sich im Reich gemäß der Konfessionsgrenzen verschiedene Bildungslandschaften, jedoch habe – so SCHINDLING – der Humanismus mit seiner Hochschätzung des klassischen und des christlichen Altertums sowie des klassischen Lateins als Gelehrtensprache die allgemeine Verständigungsbasis für einen konfessionsübergreifenden Bildungs- und Kommunikationsraum geboten. Dies sei im Umfeld der Verfechter des sogenannten „Konfessionalisierungsparadigmas“, das immer nur Teile der komplexen Struktur frühneuzeitlicher Verhältnisse abbilde, insgesamt zu wenig beachtet worden. Diese Ausführungen am Gießener Beispiel zu konkretisieren unternahm Manfred RUDERSDORF, der die Gründung der Ludoviciana als eine für die Frühe Neuzeit typische Kettenhandlung beschrieb, die von dynastischen, territorialen und konfessionellen Faktoren beeinflusst wurde. Ihre Entstehungsvoraussetzungen waren die hessische Landesteilung und die sich entwickelnden konfessionellen Gegensätze zwischen den beiden hessischen Linien, dem reformierten Kassel und dem lutherischen Darmstadt, die die Einrichtung Marburgs als hessischer „Samtuniversität“ schließlich nicht mehr opportun erscheinen ließen. Die Gründung der Ludoviciana vollzog sich somit unter dem Zeichen hessen-darmstädtischer Territorialstaatsbildung. Den Kontext dieses Vorgangs zeichnete Wolfgang WEBER, indem er das europäische Hochschulwesen der Zeit vorstellte, das von einer Gemengelage von Inklusion und Exklusion, von Monopolisierung und Konkurrenz geprägt war. Er unterschied verschiedene Universitätslandschaften in Europa, für deren Vernetzung konfessionelle und regionale Aspekte entscheidend waren. Allerdings bemühte man sich mit der verstärkten Orientierung an nicht konfessionalisierten Wissen gerade in den Naturwissenschaften zunehmend um den Aufbau einer Res publica scientiae über die Konfessionsgrenzen hinweg; dabei seien Wissensaustausch und universitäre Vernetzung im europäischen Raum erst in Ansätzen erforscht.

Nach diesen institutionsgeschichtlichen Einführungen widmete sich die zweite Sektion unter dem Titel „Innovationen durch Intervention?“ den Wechselwirkungen von Hochschule und Politik. Die Universitätsreformen im 18. Jahrhundert, die aus einem rational und vor allem utilitaristisch ausgerichteten Bildungsverständnis der Aufklärung rührten, skizzierte Günther LOTTES aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive. Dabei wurde deutlich, dass die aufgeklärte „Wissensrevolution“, die das Corpus des vorhandenen Wissens ebenso berührte wie die Regeln der Wahrheitsfindung, die Kommunikationstechniken und Medien und die Institutionen und Akteure des Erwerbs und der Weitergabe von Wissen, von großem Einfluss für die Entwicklung der Universitäten war. So dienten fortan Nützlichkeit und Brauchbarkeit als Maßstab für die Legitimierung von Forschungs- und Lehrinhalten, was u.a. in der Einrichtung des Fachs „Kameralwissenschaften“ seinen Niederschlag fand. Insgesamt hätten sich die Universitäten entgegen dem Topos ihrer Aufklärungsferne den Herausforderungen der „Wissensrevolution“ durchaus gewachsen gezeigt. Deren Auswirkungen auf Gießen beleuchtete Eva-Marie FELSCHOW anhand der Universitätsreformen des 18. Jahrhunderts. Der wissenschaftliche Erneuerungsprozess und die Neuorientierung der Lehrinhalte im „Geist der Aufklärung“ führte sie vornehmlich auf landesherrliches Engagement zurück. Seit dem 18. Jahrhundert habe sich der landesherrliche Zugriff auf die Autonomie der Universität gesteigert und schließlich deren Gestaltungsspielraum drastisch verringert. Allerdings seien die Reformprozesse aufgrund von Finanzierungsproblemen oftmals wenig stringent durchgeführt worden. Die Frage nach der akademischen Freiheit stellte sich für FELSCHOW angesichts gegenwärtiger Reformprozesse heute von neuem. Winfried SPEITKAMP drehte die Perspektive gleichsam um, indem er nach der Rolle von Universitäten für die Politik, nach der Intervention von Professoren in den Staat des frühen 19. Jahrhundert fragte. Drei Gießener Exempla des professoralen Politikers, August Friedrich Wilhelm Crome, Karl Ludwig Wilhelm von Grolman und Heinrich Karl Jaup, stellte er unter drei Aspekten, dem Kampf zwischen Reform und Restauration, dem Diskurs über die Nation sowie der Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Politik vor. Trotz zum Teil heftiger Kritik an ihren politischen Positionen konnten sie ihre Doppelrolle dabei vielfach aufrecht erhalten. Ihrer Selbstwahrnehmung nach waren sie Wissenschaftler, die aufgrund ihres Fachwissens für die Politik als Ratgeber unentbehrlich waren.

Konkretisiert wurden die Wandlungsprozesse, die die Universitäten seit dem 19. Jahrhundert prägten, in der dritten Sektion, die sich der Entwicklung einzelner wissenschaftlicher Disziplinen und Bildungsinhalte in Gießen widmete. Neill BUSSE stellte dar, dass das Wirken Justus Liebigs, des Namenspatrons der heutigen Universität, entgegen älterer Forschungsmeinungen, die Liebig allein als Exponenten innovativer Wissenschaftlichkeit und einer modernen auf dem Leistungsprinzip basierenden Gesellschaftsordnung sahen, von einer Parallelität von Traditionellem und Neuem geprägt war. Zwar habe sich Liebig im Hinblick auf Methode und Forschung sowie in seiner Förderung wissenschaftlicher Qualifizierung durchaus progressiv gezeigt, in sozialer Hinsicht sei er jedoch noch stark traditionellen Mustern verpflichtet gewesen, wie BUSSE an Liebigs Mitarbeitern nachweisen konnte, die zum großen Teil einen stark regionalen Bezug aufwiesen, zumeist gehobenen Gesellschaftsschichten entstammten und sich zudem mittels Heiraten nicht nur mit Liebigs eigener Familie, sondern auch – ganz im Sinne der frühneuzeitlichen Familienuniversität – mit eingesessenen Professorenfamilien Gießens verbanden. Unter dem Stichwort „Fachspezialisierung“ gab Athina LEXUTT einen engagierten Überblick über die Entwicklung der Theologie im 19. Jahrhundert. Im Zuge der Aufklärung hatte diese ihre Stellung als Leitdisziplin verloren und wurde als Wissenschaft zunehmend in Frage gestellt. Gerade dieser Legitimationsdruck erwies sich für die Entwicklung der Theologie – oder besser der „Theologien“ – als fruchtbar. Eine Vielfalt unterschiedlicher Lehrmeinungen und Forschungsperspektiven entwickelte sich, die für die Theologie noch heute von großer Bedeutung sind. Der Kampf um wissenschaftliche Anerkennung und die Gestaltung des Fachs für die Zukunft sei auch – so LEXUTT – für die Gegenwart der theologischen Disziplin zentral. Die Professionalisierung der Lehrerbildung als einer besonderen Stärke der Gießener Universität beschrieb Vadim OSWALT. Die Trennung von Gymnasial- und Hochschullehrerausbildung, von Fachwissenschaft und Fachdidaktik sowie die zweiphasige Lehrerausbildung konnte sich erst allmählich seit dem 19. Jahrhundert entwickeln. In den gegenwärtigen Modellen zum Lehramtsstudium, die ihren Schwerpunkt oft auf didaktische Ausbildung legten, vermisste OSWALT das für eine qualitätsvolle Lehrerbildung zentrale Gleichgewicht von Didaktik und Wissenschaft.

Der folgende Tag stand ganz im Zeichen kulturwissenschaftlicher Annäherungen an die Universitätsgeschichte: Im Mittelpunkt der einzelnen Sektionen standen professorale und studentische Lebenswelten sowie universitäre Erinnerungskulturen.

Den frühneuzeitlichen Professor nahm die vierte Sektion in den Blick. So trat Detlef DÖRING zur Ehrenrettung dieses Typus an, der in der älteren Forschung zumeist plakativ als „Schulmann“ abqualifiziert worden ist, der überkommenes Wissen hütete, während moderne Forschung außerhalb der Universitäten erfolgte. DÖRING forderte eine Differenzierung dieses Bildes: Die häufige „Vererbung“ von Professorenrängen im Rahmen sogenannter Familienuniversitäten etwa habe keineswegs zwingend im Gegensatz zum Leistungsprinzip gestanden. Trotz geringer Mobilität vieler Professoren habe doch die Peregrinatio academica der Studierenden sowie die internationale Korrespondenz der Professoren untereinander – laut DÖRING der „Blutkreislauf der Respublica academica“ – zu einem regen wissenschaftlichen Austausch geführt. Jede noch so geniale Entdeckung sei immer auch in der wissenschaftlichen Gesellschaft der Zeit zu verorten und auf die Akzeptanz und Rezeption durch bestehende Wissensinstitutionen angewiesen gewesen. Sowohl im geisteswissenschaftlichen wie im naturwissenschaftlichen Bereich seien innerhalb der Universitäten bedeutsame und innovative Forschungsleistungen erbracht worden. Ausgerüstet mit den theoretischen Instrumentarien des Bourdieuschen Habitus-Konzeptes und der Kantorowizcschen Zwei-Körper analysierte Marian FÜSSEL die Verhaltensmuster von Professoren in der Frühen Neuzeit. Anekdotenreich verdeutlichte er etwa am Beispiel des Hauses, das zunächst zugleich als Wohn-, Arbeits-, und Lehrstätte gedient hatte, die zunehmende Trennung von öffentlicher und privater Sphäre, die im Habitus der Professoren häufig keinen Niederschlag fand, was dann zwangsläufig den Eindruck von Skurilität erwecken musste. Die Fortführung eines Habitus auch unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen bezeichnete FÜSSEL mit dem Begriff des Don-Quijote-Effekt. Dabei seien zwei Körper auszumachen: Die Logik eines spezifischen, überzeitlichen professoralen Habitus, der nicht zuletzt die soziale Distinktion des Professorenstandes zum Ausdruck gebracht habe, sei von der individuellen, sterblichen Person des Professors zu trennen. In einer gendergeschichtlich ausgerichteten Perspektive stellte Heide WUNDER die wenig beachtete Lebenswelt der weiblichen Angehörigen des frühneuzeitlichen Akademikers vor. Anhand der Auswertung von Leichenpredigten zeigte sie exemplarisch, dass der Gattin eines Professors große Bedeutung zum einen in der Vermittlung familiärer Netzwerke, zum anderen durch das Einbringen ihrer Mitgift und ihr Wirken im Haushalt im ökonomischen Bereich zugekommen sei. Eine Asymmetrie der Beziehungen zwischen den Ehepartnern lasse sich rechtlich, nicht jedoch in der Lebenspraxis ausmachen.

Den professoralen Lebenswelten wurden in der fünften Sektion die der Studenten gegenübergestellt. Fokussierend auf studentische Devianz regte Barbara KRUG-RICHTER einen kulturgeschichtlichen Blick auf das frühneuzeitliche Studentenleben im europäischen Raum an. Die demonstrativen Verstöße gegen bestehende Ordnungen seien Teil einer an soldatischen Leitbildern ausgerichteten „Jungmännerkultur“ gewesen, die vornehmlich der Konstituierung eines Studentenstandes und der Distinktion gegenüber anderen Gesellschaftsgruppen dienten. Einen bis heute zentralen Aspekt studentischen Lebens, die Studienfinanzierung, nahm Matthias ASCHE in den Blick, indem er die Vielfältigkeit des frühneuzeitlichen Stipendienwesens aufzeigte. Aufbauend auf älteren, punktuellen Formen der Förderung habe sich seit der Reformation besonders in protestantischen Territorien auf der Basis säkularisierten Kirchengutes und vor dem Hintergrund neuer, auch kirchlicher Kompetenzen des protestantischen Fürsten ein stringentes landesherrliches Stipendienwesen entwickelt. Daneben gab es stets auch Studienförderungen anderer Provenienz: Während das landesherrliche Stipendium vor allem eine dynamische Wirkung im Sinne einer Erhöhung der sozialen Mobilität entfalten konnte, förderte etwa das Auslandsstipendium die regionale Mobilität von Studierenden, während das Familienstipendium sich vornehmlich als ein Instrument der Beharrung erwies. Klaus RIES stellte in einer vergleichenden Betrachtung der Studentenproteste um 1800 in Gießen und Jena die Frage, warum die „Politisierung“ der Studentenschaft in Gießen eine sehr viel radikalere Ausprägung erfahren habe als zu gleicher Zeit in Jena. Die Begründung hierfür sah er in der gegensätzlichen politischen Haltung der Landesfürsten in Kassel bzw. in Weimar. Hatte der Hessen-Darmstädter durch seine „rheinbundabsolutistische Zentralisierungspolitik“ weite Teile der intellektuellen Bevölkerungsschichten gegen sich aufgebracht, so führte die liberale Reformpolitik in Sachsen-Weimar zu einem grundsätzlich harmonischen und konsensuellen Verhältnis von Staat und Gesellschaft.

Mit der Reflexion universitärer Erinnerungskulturen nahm die sechste und letzte Sektion einen Gießener Forschungsschwerpunkt auf. Dabei beschränkte sich auch diese Sektion keineswegs allein auf die Gießener Jubilarin: Joachim BAUER erörterte die Verschränkung verschiedener Erinnerungskulturen am Beispiel der Jenaer Salana, ohne es zu versäumen, Parallelen etwa zu Gießen und Marburg aufzuzeigen. Der konfessionell ausgerichtete Gründungsmythos der Jenaer Hochschule als der Nachfolgerin des im Schmalkaldischen Krieg verlorenen Wittenbergs und als Hort wahren Luthertums verband sich im 19. Jahrhundert mit einer nationalen Ausrichtung des Mythos, für den vor allem auch die Wartburg zentrales Symbol der Nation wurde. Passend zum äußeren Rahmen der Tagung stellte Bauer zudem Professorengalerien als Beispiele universitärer Erinnerung vor. Die Gießener Erinnerungskultur beleuchtete Carsten LIND, indem er die Feierlichkeiten zu den Universitätsjubiläen von 1707 bis zur Gegenwart auf das ihnen zugrunde liegende Zeichensystem hinterfragte. Orientierten sich die Jubiläen 1707 und 1907 noch sehr stark an Rangordnungen und Hierarchien der Beteiligten und wurde hier besonders die enge Beziehung von Universität und Landesobrigkeit unterstrichen bzw. bis 1957 auch durch Beteiligung anderer Universitäten die „corporate identity“ des Hochschulsystems insgesamt herausgestellt, so fehlten derartige Elemente der symbolischen Repräsentation bei den Feierlichkeiten 2007. Der Legitimitätsdruck, sich als moderne Massenuniversität, als „nützliche Staatsanstalt“ zu erweisen, habe – so stellte LIND nicht ohne eine Spur Ironie fest – dazu geführt, dass die Universität ihre korporative Bindungskraft eingebüßt habe. Signifikant machte dieser Beitrag am Ende der Tagung noch einmal deutlich, dass in ihrem Zentrum weniger das Feiern der eigenen Vergangenheit stand als vielmehr die Reflexion der eigenen Geschichte in Verbindung mit einer kritischen Hinterfragung der gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen: Standortbestimmung statt Jubel.

Zum Abschluss schlug Eckhart G. FRANZ noch einmal den Bogen zum Beginn der Tagung, indem er ausgehend von der Gründung der Ludoviciana deren wechselvolle und durchaus mit Brüchen versehene Geschichte als hessische Landesuniversität bis in die Nachkriegszeit vor seinen Zuhörern ausbreitete.

Ganz im Einklang mit dem Anspruch der Jubiläumstagung, auch gegenwärtige und zukünftige Tendenzen in der Bildungslandschaft zu thematisieren, stand der öffentliche Abendvortrag, zu dem die Veranstalter nach einem kleinen Empfang und einer Ansprache des Präsidenten der Justus-Liebig-Universität, Stefan Hormuth, luden: Peter STROHSCHNEIDER, der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, informierte seine Zuhörer über „die zukünftige Entwicklung des föderalen Hochschulsystems“. Ausgehend von der These einer gegenwärtigen strukturellen Überforderung des Hochschulsystems, wies er darauf hin, dass eine weitere Expansion in seinen Augen nicht ohne einen grundlegenden Strukturwandel zu leisten sei. Neben der Rolle und Funktion des Wissenschaftsrats als Bindeglied zwischen Politik und Wissenschaft fasste er die Ergebnisse der Föderalismusreform in Bezug auf die Hochschulpolitik und die Auswirkungen des Wegfalls des Hochschulrahmengesetzes zusammen. Dabei wies er auch auf die Risiken, die – etwa im Blick auf die Universitäten finanzschwacher Länder – mit der fast ausschließlichen Kompetenz der Länder in Hochschulfragen verbunden seien. Den Hochschulen komme in verstärktem Maße die Rolle von Akteuren im Sinne von Entscheidungsträgern zu. Ihre künftigen Aufgaben führte STROHSCHNEIDER an den Stichworten „Differenzierung“, „Kooperation“ und „Lehre“ aus. Vor allem sprach er sich für eine „Entschleunigung“ der Reformprozesse sowie für ein stärkeres Zusammenwirken von universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen aus.

Das ambitionierte dichte Programm der Tagung in Verbindung mit der herrschenden drückenden Hitze verlangte den Teilnehmern zwar nicht wenig Disziplin ab, sie können jedoch in summa auf eine gelungene Veranstaltung zurückblicken, die ein breites Spektrum universitätsgeschichtlich orientierter Fragestellungen aufwarf und gerade aus diesem Grunde wichtige Anregungen für perspektivische und methodische Erweiterungen der Universitätsgeschichtsforschung insgesamt bot. Die institutions-, wissenschafts-, kultur-, gender- und sozialgeschichtlichen Zugänge haben die Vielfältigkeit dieses Fachs auf markante Weise verdeutlicht. Dazu haben besonders auch die jüngeren Referenten beigetragen, die sich neben prominenten Vertretern der Universitätsgeschichte durchaus behaupten konnten und die das Innovationspotenzial und die Zukunftsfähigkeit dieses Fachs auf überzeugende Weise veranschaulichten. Das Spannungsverhältnis von Partikularität und Universalität, das die einzelnen Sektionen prägte, sowie der weite zeitliche und thematische Rahmen, in dem die Beiträge angesiedelt waren, trugen dazu bei, ein komplexes Bild der frühneuzeitlichen Universität und ihrer Entwicklung hin zu einer modernen Lehr- und Forschungseinrichtung entstehen zu lassen. Dass dabei der Aktualitätsbezug einen breiten Raum einnahm und auch gegenwärtige und künftige Entwicklungen im Hochschulwesen aus historischer Perspektive kritisch hinterfragt wurden, gehörte zu den besonderen Stärken der Tagung.

Eine Veröffentlichung der Beiträge ist geplant.

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Horst Carl

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