Zeiten des Umbruchs. Die ersten Schweizerischen Geschichtstage 2007

Zeiten des Umbruchs. Die ersten Schweizerischen Geschichtstage 2007

Organisatoren
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte (SGG); Historisches Institut der Universität Bern
Ort
Bern
Land
Switzerland
Vom - Bis
15.03.2007 - 17.03.2007
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Von
Ruth Ammann, Bern

Es war sowohl organisatorisch als auch inhaltlich eine gelungene Premiere: Mit den ersten Schweizerischen Geschichtstagen stellten die Schweizerische Gesellschaft für Geschichte (SGG) und das Historische Institut der Universität Bern Historikerinnen und Historikern eine neue Plattform des Austauschs zur Verfügung. Unter dem Titel „Zeiten des Umbruchs“ wurden aktuelle Forschungen zur Antike, zum Mittelalter, der Frühen Neuzeit und zur Zeitgeschichte in 43 Panels und circa 180 Referaten vorgestellt und diskutiert – ein Anlass, dem mehr als 630 Teilnehmerinnen und Teilnehmer beiwohnten.

Obwohl der Schwerpunkt der Tagung auf der Geschichtswissenschaft in der Schweiz lag, trugen drei Festvorträge zweier renommierter Forscherinnen und eines Forschers ebenso zur internationalen Reichweite bei, wie die Referentinnen und Referenten der einzelnen Panels: Ein Drittel von diesen forscht oder lehrt an Universitäten außerhalb der Schweiz. Damit wurden die Organisatorinnen und Organisatoren dem Anspruch gerecht, sowohl ein Forum für Forschungen an Schweizer Universitäten zu bieten als auch den Austausch mit und das Interesse von international tätigen Historikerinnen und Historikern zu fördern.

Im Zuge der Umstrukturierung der Hochschullandschaft durch die Bologna-Reform ist es der SGG als Vertreterin aller Historiker und Historikerinnen in der Schweiz ein Bedürfnis, in Zusammenarbeit mit den historischen Instituten sich verstärkt national und international zu positionieren. Bereits 2003 hatte die SGG zu einer gesamtschweizerischen Tagung zum Thema „Erinnern und Vergessen“ an der Universität Freiburg eingeladen, bei der die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und die Arbeit der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg im internationalen Kontext diskutiert wurden. Mit den kommenden Geschichtstagen soll diese nationale und internationale Vernetzung der schweizerischen Geschichtswissenschaft weitergeführt werden.

Der große Andrang bei den ersten Geschichtstagen in Bern ist nicht nur der Premiere, sondern auch dem Tagungsthema geschuldet. „Zeiten des Umbruchs” sprechen aktuelle gesellschaftliche Veränderungen ebenso an wie Umbrüche in der Vergangenheit. Die Geschichtswissenschaft scheint prädestiniert, aktuellen Wandel wenn nicht zu erklären, so doch in einer langfristigen Perspektive einordnen zu können. Das Publikum setzte sich denn auch nicht nur aus Historikerinnen und Historikern, sondern auch aus Studierenden, Geschichtslehrerinnen und lehrern und weiteren Interessierten zusammen. In den Panels stellten neben Professorinnen und Dozenten auch Doktorierende und vereinzelt Lizentiatinnen und Lizentiaten ihre Forschungen vor. Statt eigene Panels für Studierende und Doktorierende einzurichten, wurde so ein Austausch zwischen verschiedenen akademischen Hierarchieebenen möglich.

Der Eröffnungsvortrag von Wolfgang Reinhard, Emeritus für Neuere Geschichte der Universität Freiburg im Breisgau und Fellow am Max-Weber-Kolleg, verwies auf die Aktualität des Umbruchs sowohl für die Wahrnehmung gegenwärtiger gesellschaftlicher Prozesse als auch als Gegenstand der Geschichte. Unter dem Titel „Aufstieg und Niedergang des modernen Staates“ vertrat Reinhard die These, die modernen Staaten Europas seien seit 1975 im Niedergang begriffen. In seiner Tour d’Horizon der modernen Staatsgeschichte, deren Ursprung Reinhard in den europäischen Monarchien der frühen Neuzeit verortete, zeichnete er den Aufstieg des modernen Staates als eine Geschichte der Vereinheitlichung. Mit der Zentralisierung der Staatsgewalt in den Monarchien ging der Aufbau einer Verwaltung einher, die zunehmend den Adel verdrängte. Die Justiz wurde zur Staatsaufgabe und das Territorium der Zentralmacht zunehmend klar umrissen. Mit der Gleichstellung aller Männer als „Staatsbürger“ im Zuge der Französischen Revolution wurde der Staatsbegriff auf „das Volk“ ausgeweitet. Während Monarchien ihre Legitimation aus Gott oder einem Naturgesetz hergeleitet hatten, legitimierte sich der moderne Staat durch die Volkssouveränität, welche das Volk als den letzten Entscheidungsträger ausweist. Diese Legitimation sei jedoch, so Reinhard, fiktiv und selbstreferenziell.

Den Niedergang dieses Staates nach 1975 verortet Reinhard in genau diesem Punkt der Selbstlegitimation des modernen Staates. Da dieser nur durch sich selbst bestätigt werde, sei er anfällig für delegitimatorische Kritik. Durch seine Rolle im Zweiten Weltkrieg, während der Dekolonisierung und durch Skandale um Machtinhaber wurde die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit dem Staat brüchig. Der Handlungsspielraum des Staates verkleinere sich seit dreißig Jahren in dem Maße, wie seine Legitimität in Frage gestellt werde. Mit fortschreitendem Niedergang werde der Staat deshalb nur noch ein Referenzsystem unter anderen sein und mit diesen konkurrieren, ohne freilich restlos zu verschwinden.

Die Rolle der Geschichtswissenschaft in der Wissensgesellschaft
In den Ausführungen Reinhards wurde deutlich, dass die Französische Revolution als historischer Bruch den Prozess der modernen Staatsbildung bestätigte, aber keineswegs begründete. Auch der Niedergang des Staates, wie ihn Reinhard skizzierte, wurde nicht durch einen Bruch, sondern eine langfristige Transformation eingeleitet. Diese Auffassung wurde im Verlauf der Tagung immer wieder aufgenommen. Dabei wurde die Gleichzeitigkeit von Veränderungen und Kontinuitäten betont. Reinhards Darstellung des Niedergangs des modernen Staates verwies nicht zuletzt auf die Frage nach der Rolle der Geschichtsschreibung als (vormals) legitimierende Disziplin moderner Staatlichkeit.

Das Panel „Die ewige Eidgenossenschaft. (Wie) Ist im 21. Jahrhundert Nationalgeschichte noch schreibbar?“ schloss an diese Frage an, um die veränderte Rolle der Geschichtswissenschaft in der jüngsten Geschichte zu thematisieren. Thomas Maissen, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Heidelberg, verwies darauf, dass auch die Idee der Schweiz als einer Willensnation maßgeblich aus einer vermeintlich gemeinsamen und langen Geschichte hergeleitet worden sei. Stellte die Nationalgeschichte lange die Geschichtsschreibung par exellence dar, so wurde sie im Zuge poststrukturalistischer Kritik als Master Narrative mit ideologischer Schlagseite entlarvt. An ihrer Stelle wurde eine Partikulargeschichte eingefordert. In der Schweiz, so Maissen, erfreuten sich gerade Kantonsgeschichten eines großen Interesses. Die Regionalität der Untersuchungen bewahre vor der Gefahr, die Nation legitimieren zu müssen, und garantiere darüber hinaus eine größere Anerkennung durch die Scientific Community. Der Trend weg von der National- hin zu Regionalgeschichte sei unverkennbar.

Gleichzeitig sei jedoch in Zeiten vermeintlicher Umbrüche ein starkes Bedürfnis nach Nationalgeschichte auszumachen. Neokonservative Kreise bedienten dieses Bedürfnis mit der monopolartigen Belegung gewisser Themen. Ihnen obliege derzeit die Deutung der Geschichte der Migration, der Neutralität oder der europäischen Integration der Schweiz. Dieser Trend stelle für die kritische Geschichtswissenschaften eine Gefahr dar, der es offensiver zu begegnen gelte als mit dem bloßen Rückzug von der Nationalgeschichte. Vielmehr müsse die Nation als ständiger und wechselhafter Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen Akteurinnen und Akteuren eine Umdeutung durch die Geschichtswissenschaft erfahren. Die Geschichtswissenschaft müsse hier eine aktive Rolle übernehmen, statt die Deutung dessen, was Nationalgeschichte sei, der Politik zu überlassen.

Die anschließenden Redner und eine Rednerin bezogen aus unterschiedlichen Sichtweisen Position zu der von Maissen skizzierten Problemstellung. Irène Hermann von der Universität Fribourg unterstrich, wie wichtig es in der aktuellen Situation sei, auch breite Bevölkerungsschichten anzusprechen, nicht nur Fachleute – eine Forderung, die kontrovers diskutiert wurde. Während einige Voten dringend eine Popularisierung historischer Erkenntnisse forderten, verwehrten sich die meisten gegen das Erzählen „einfacher Geschichten“. Auffällig an dieser Diskussion war, dass eine kritische, aber leicht lesbare Geschichtsschreibung offenbar einen Widerspruch darstellte. Immer wieder wurde darauf verwiesen, dass kritische Geschichte das Lesevergnügen kaputt mache (Christoph Conrad) und, umgekehrt, populäre historische Literatur a priori keinem kritischen Wissenschaftsverständnis stand halte – eine These, die überprüft werden müsste.

Was Geschichte für die Gegenwart zu leisten habe, war auch das zentrale Thema der öffentlichen Podiumsdiskussion „Wieviel Geschichte braucht die moderne Wissensgesellschaft?“. Es diskutierten Madeleine Herren, Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Heidelberg, Roger Sablonier, Emeritus für die Geschichte des Mittelalters an der Universität Luzern, und Rudolf Stichweh, Professor für Soziologie an der Universität Luzern, unter der Moderation von Susanna Burghartz, Professorin für Geschichte des Spätmittelalters und der Renaissance an der Universität Basel. Charles Kleiber, Staatssekretär für Bildung und Forschung und Unterzeichner der Bologna-Reform für die Schweiz 1999, ließ sich entschuldigen.

Zwei unterschiedliche Geschichtsauffassungen kamen in den beiden Input-Referaten von Hermann Lübbe, Professor für Philosophie und Politische Theorie an der Universität Zürich, und Valentin Groebner, Professor für die Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern, zum Ausdruck. Während Lübbe wortgewaltig die moderne Wissensgesellschaft als so vergangenheitsbezogen wie noch nie apostrophierte und die Musealisierung und Denkmalbewegung als Beleg seiner These verstand, Groebner stellte dem die Aussage gegenüber: “In der Wissensgesellschaft sind Historiker Spezialisten für schlechte Laune.” Denn die Aufgabe von Historikerinnen und Historikern bestünde letztlich im Aufzeigen von Fehlern und Brüchen in der Vergangenheit. Sie verknüpften Geschichte damit zwar mit der Gegenwart, jedoch nicht um diese zu bestätigen, sondern sie kritisch zu analysieren. Für Lübbe hingegen stellte gerade die Besinnung auf Geschichte einen Gegenpol zur noch nie da gewesene Dynamisierung unserer Zeit dar – die Geschichte sollte die Menschen gewissermaßen vor der Wissensgesellschaft retten.

Dem widersprach Madeleine Herren vehement. Sie stellte nicht nur die Beschleunigung als historisches Novum des beginnenden 21. Jahrhunderts in Frage, sondern kritisierte Lübbes genealogisches Geschichtsverständnis. Gerade in Zeiten des vermeintlichen Wandels verkauften sich Ursprungserzählungen als Selbstvergewisserung gut, so Herren, doch seien sie in ihrem Wesen durchwegs konservativ. Auch für Regina Wecker, Professorin für Geschlechtergeschichte an der Universität Basel, war hier die Groebnersche „schlechte Laune“ im Sinne einer skeptischen Haltung durchaus angebracht.

Ähnlich wie in der Diskussion um eine (un-)mögliche Nationalgeschichtsschreibung waren sich die Historikerinnen und Historiker (nicht aber der Philosoph) am runden Tisch und im Publikum einig, dass Geschichte die Auseinandersetzung in der Gegenwart fördern und fordern müsse. Das Problem der Vermittlung dieser Geschichtsauffassung und deren Verteidigung in der wissenschaftspolitischen Landschaft manifestierte sich jedoch gerade, wenn auch ungewollt, an diesem runden Tisch: Viele Aussagen der Podiumsteilnehmenden blieben vage und assoziativ oder waren nur für Kundige des universitären Universums verständlich. Die klare Positionierung von Herren war eine wohltuende Ausnahme und Rückfragen aus dem Publikum machten einzelne Voten im Nachhinein klarer.

Wahrnehmung von Brüchen und nachträglich Festschreibung: Die Frage der Periodisierung
In ihrem Festvortrag „Evénement, périodisation, mutation. Une étude de cas: l’accès des Françaises à la citoyenneté politique“ thematisierte Françoise Thébaud, Professorin für zeitgenössische Geschichte an der Universität Avignon, den Bruch des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung Frankreichs 1944-1946 aus der Perspektive der Frauengeschichte. Sie stellte eingangs die provokative Frage, ob die Französinnen Ende des Zweiten Weltkrieges überhaupt eine Befreiung erlebt hätten. Damit thematisierte sie die Periodisierung der nationalen Geschichtsschreibung, welche 1944 als Wendepunkt betrachtet.

Anhand der Geschichte des Frauenstimmrechts in Frankreich zeigte sie auf, dass mit der Öffnung des Stimm- und Wahlrechtes für Frauen 1944 keine Gleichberechtigung der Französinnen mit den männlichen Stimmbürgern einherging. Der Generalverdacht gegen jede Frau, „collaboratrice horizontale“, Geliebte deutscher Soldaten gewesen zu sein, und deren (willkürliche) Bestrafung nach der Befreiung sowie die pronatalistische Politik der Vierten Republik bescherten den Frauen mehr Kontinuitäten in ihrer rechtlichen Situation mit der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, als dass ein Bruch oder gar eine emanzipatorische Entwicklung für sie auszumachen wäre. Das Jahr 1944 wurde vielmehr nachträglich, mit dem Beginn der neuen Republik 1946 als Bruch festgeschrieben.

Gleichzeitig wurde 1944 mit der Einführung der pronatalistischen Politik und durch die Wahrnehmung von Frauen als Mütter für die Nation die Erinnerung an die Kämpfe der Suffragetten in den 1920er Jahren verdrängt. In diesem Sinne stellt die Zeit von 1944 bis 1946 für Thébaud durchaus einen Bruch dar, jedoch nicht in Bezug auf die politische Stellung der Französinnen, sondern in Bezug auf die Erinnerung an die feministischen Kämpfe um das Frauenstimmrecht vor dem Krieg.

Thébaud zeigte auf, dass ein Ereignis immer nur in der Wahrnehmung Dritter zu einem solchen wird und dass Brüche als Marksteine der Geschichte und Referenzpunkte für deren Periodisierung immer in ihrer zeitlichen Entstehung gelesen werden müssen. Stellt 1944 eine solche Zäsur in der offiziellen französischen Geschichtsschreibung dar, liegt ihre Bedeutung nicht (nur) in ihrer historischen Faktizität, sondern auch in ihrer Funktion für die nachfolgende Zeit der IV. Republik, die sich durch den Bruch abgrenzte und als neu verstand. Dabei ist es Aufgabe der Geschichtswissenschaft, Periodisierungen immer wieder und aus unterschiedlichen Perspektiven zu überprüfen und den Prozess des Erinnerns als historischen Prozess mit zu reflektieren.

Um Periodisierungen und die Bedeutung der retrospektiven Wahrnehmung eines Ereignisses ging es auch im Panel „Die 68er Bewegung: Ein ‚langes Jahrzehnt’ in der Schweiz?“ unter der Leitung von Erika Hebeisen von der Universität Basel. Sowohl Thomas Etzemüller von der Universität Oldenburg, als auch Monica Kalt von der Universität Basel betonten in ihren Beiträgen, dass „1968“ ein historisches Ereignis innerhalb eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandels seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und damit Teil einer langfristigen Transformation darstelle. Etzemüller verwies auf die Herausbildung einer spezifischen Jugendkultur nach 1945, welche bereits in den 1950er Jahren als Projektionsfläche für Ängste diente, denen sich die westlichen Gesellschaft in ihrer Veränderung hin zur Konsumgesellschaft ausgesetzt sahen. Kalt wies für die Schweiz auf die theoretischen Kontinuitäten zwischen den Nonkonformisten und den Akteuren und Akteurinnen von 1968 hin. Diese übten ab Mitte der 1950er Jahre Kritik am politischen System der Schweiz und an den Medien und zielten auf eine demokratische Umwandlung der als verkrustet und autoritär wahrgenommenen Nachkriegsgesellschaft.

Die Opposition gegen die herrschenden Verhältnisse bedeutete für die Protestbewegungen um 1968 vor allem einen Bruch mit der herrschenden Sprache: Begriffe wurden (neu) besetzt, gewisse Arten des Redens nach 1968 verunmöglicht, wie dies Kalt am Entwicklungsdiskurs in den 1960er Jahren zeigte. Mit den Protestereignissen und der sozialen Bewegung habe sich eine spezifische politische Semantik herausgebildet, eine eigentliche „Diskursguerilla“, wie sie es nannte.

Auch Nicole Peter, Lizentiatin der Universität Zürich, strich die Bedeutung der alternativen und subversiven Verwendung von Zeichen und Begriffen in der Protestbewegung in Zürich hervor. Gerade in der Formierung der Solidaritätsbewegungen mit Nordvietnam zeigte sie am Beispiel eines Transparentes zur 1. Mai-Demonstration 1970 in Zürich, wie Nordvietnam für die Anti-Vietnamkriegs-Bewegung als „heterotopischer Ort“ funktionierte. Sie folgte hier einem Konzept von Michel Foucault, wonach dieser Ort zwar lokalisierbar sei, jedoch vorwiegend die Vorstellung einer Gegenwelt, eines ideellen Vorstellungsraumes auf sich vereine und in erster Linie der Integration der Aktivistinnen und Aktivisten in eine spezifische Weltsicht diene.

Janick Marina Schaufelbuehl von der Universität Lausanne stellte die Neue Linke vor, die sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in Abgrenzung zu den traditionellen Arbeiterparteien zu bilden begann. Ihre Periodisierung des Phänomens „1968“ bezog sich auf die Hypothese eines langen „kritischen Momentes“, welcher von 1968 bis 1975 dauerte. Die Krisenerscheinungen der Bewegung 1975 sei durch das Aufkommen der Umwelt- und der Frauenbewegung verzögert worden, so dass es in der Schweiz erst 1978 zu einem Ende von „1968“ kam.

Während die anderen Referate sich insbesondere mit der Entwicklung und Formierung von „1968“ beschäftigt hatten, kam beim Referat von Schaufelbuehl die Frage nach dem Ende von „1968“ auf. Die Frage blieb letztlich unbeantwortet: Gerade die Neue Frauenbewegung entzieht sich offenbar einer engen Periodisierung, da sie beispielsweise in Bern 1975 einen ersten Höhepunkt erlebte und sicher bis 1983 aktiv war, wenngleich sich die nationale Frauenbefreiungsbewegung 1980 auflöste. Während in Bezug auf die Formierung dessen, was unter dem Label „1968“ bekannt geworden war, ein interessantes Spektrum an Ansätzen präsentiert wurde, stellt die Datierung des Endes von „1968“ offenbar eine noch ungelöste Herausforderung dar.

Das Ende der Revolution als Bruch?
„Ending the Revolution“ – mit diesem Problem setzte sich Sheila Fitzpatrick, Professorin für Moderne Russische Geschichte an der Universität Chicago, in ihrem Festvortrag am Beispiel der Russischen Revolution auseinander: Hatte die Russische Revolution Ende Oktober oder November 1917 aufgehört, nachdem die Bolschewisten die Macht in den größeren Städten übernommen hatten? Oder 1921 mit ihrem Sieg im Bürgerkrieg? War das Ende Anfang der 1930er Jahre mit der wirtschaftlichen Revolution und der Industrialisierung gekommen? Oder war der Zustand der Revolution gewissermaßen eingefroren worden, bis die UdSSR sich 1991 aufgelöst hatte?

Im Unterschied etwa zur Französischen Revolution wurde die wissenschaftliche Auseinandersetzung vor allem außerhalb der UdSSR, in Europa und Nordamerika geführt und stand gänzlich im Banne des Kalten Krieges. Wann und warum die Revolution genau geendet hatte, geriet in jedem Fall zu einer pro- oder anti-sowjetischen Aussage. Mit dem Ende der Sowjetunion veränderte sich diese Einschätzung, insbesondere in den USA. Russische Geschichte war für die amerikanische Politik nicht mehr zentral und machte aus der „Russian history corner a happier place“, wie Fitzpatrick mit einem Augenzwinkern feststellte. Die Frage nach der Periodisierung der Russischen Revolution schien sich in Europa und den USA erledigt zu haben. In Russland selbst kam es seit 1991 und unter der Regierung Vladimir Putins zu einer Neubewertung der Russischen Revolution und der Rolle Stalins. Nach Fitzpatrick könnte gerade diese Auseinandersetzung zu einem Prüfstein in der aktuellen Debatte um die nationale Identität in Russland werden.

Fitzpatrick stellte das Problem der Periodisierung eines Bruches an ihrer eigenen Forschung dar. Mit der ersten Ausgabe ihres Buches „The Russian Revolution” 1984 hatte diese Diskussion im Kalten Krieg begonnen, wobei Fitzpatrick die großen Säuberungen 1935 bis 1938 als einen notwendigen Teil der Revolution verstanden hatte, und endete in der zweiten Auflage 1994 und 2001 in einer postsowjetischen Weltordnung mit einem neuen Vorwort. Darin reflektierte sie die gesamte UdSSR-Zeit, da die Revolution immer wieder eine Wiederbelebung erfahren hatte. Fitzpatrick stellte sich mit ihrer Untersuchung der Frage nach dem „wie” der Geschichtsschreibung. Sie zeigte die Probleme der historischen Interpretation der Russischen Revolution in Zeiten des Kalten Krieges außerhalb und in Zeiten der nationalen Identifizierung innerhalb Russlands beziehungsweise der UdSSR auf. Sie thematisierte somit den Umbruch in der historischen Zeit immer mit Blick auf dessen Bedeutung für die Gegenwart. Dabei ließ sie sich selbst als Historikerin nicht außen vor, sondern bezog ihren Weg der Erforschung der russischen Revolution, ihre Interpretation, die Widerstände, die daraus erwuchsen, und ihre Neubeurteilung der eigenen Periodisierung mit ein.

Die ersten Schweizerischen Geschichtstage beeindruckten in ihrer Themenvielfalt und in ihrer Organisation und boten durchaus, was sich das Organisationskomitee vorgenommen hatte: eine Plattform des Austauschs aktueller Forschungen innerhalb und außerhalb der schweizerischen Geschichtsschreibung. Dabei wurde dem Tagungsthema „Zeiten des Umbruchs“ auf unterschiedlichen Ebenen Rechnung getragen: als Ereignis in der Vergangenheit oder als Veränderung in der Gegenwart. Es wurde deutlich, wie sehr die Frage nach bruchhaften Ereignissen in der Geschichte immer mit der Bedeutung verbunden ist, die ihnen im Nachhinein zugeschrieben wird. Die zentrale Rolle der Geschichtswissenschaft für die Interpretation sowohl der Vergangenheit, als auch der Gegenwart wurde an der Tagung in den unterschiedlichen Vorträgen und Panels immer wieder veranschaulicht. Die Fortsetzung der Diskussion folgt voraussichtlich 2010 an der Universität Basel.


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