Biographien und Ego-Dokumente in der Geschichte der Medizin

Biographien und Ego-Dokumente in der Geschichte der Medizin

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.05.2007 - 11.05.2007
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Von
Tilmann Walter, Institut für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg

Das 26. Stuttgarter Fortbildungsseminar am Institut für Geschichte der Medizin, das wie gewohnt in der ansprechenden Umgebung des Geländes der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart stattfand, beschäftigte sich vom 9. bis 11. Mai 2007 mit dem Thema „Biographien und Ego-Dokumente in der Geschichte der Medizin“. Alle 15 Vortragenden, die auf dem Symposion über ihre laufenden Forschungsvorhaben berichteten, lobten im Anschluss die vorbildliche Vorbereitung und Organisation der Veranstaltung durch die OrganisatorInnen sowie MitarbeiterInnen des Stuttgarter Instituts, welche eine dichte, konzentrierte Diskussionsatmosphäre begünstigten.
Ein Ausgangspunkt des Zusammentreffens ist der Umstand, dass sich die Medizingeschichtsschreibung immer deutlicher von der hagiographischen Darstellung „großer Ärzte“, wie sie das Fach bis Mitte der 1970er Jahre prägte, abwendet. In dem Maße, in dem nicht mehr Heilpersonen sondern vielmehr Patienten in den Blick rücken, finden unter MedizinhistorikerInnen Dokumente wie Supplikationen, Krankenakten, Selbstzeugnisse von Kranken und Anstaltsinsassen, begleitende juristische Dokumente u.s.w. immer stärkere Aufmerksamkeit. Sie lassen den Gesamtbereich der sozialen Umstände und des individuellen Erlebens von Krankheit, Gesundheit, Heilkunst und Krankenpflege in vielfältigem Licht erscheinen, bringen aber auch je eigene methodische Probleme mit sich. Wie die Zusammensetzung des Symposions zeigt, beschäftigt das Thema längst auch WissenschaftlerInnen aus den Fachgebieten Geschichte, Kunstgeschichte, Literatur- und Theaterwissenschaft, Medizingeschichte und Romanistik. Neben der Vorstellung von laufenden Forschungen sowie der Charakterisierung der herangezogenen Quellen standen diese methodische Herausforderungen über die drei Tage im Fokus der Diskussionen.

In der ersten, von Philipp Osten (Stuttgart) geleiteten Sektion „Konstruktionen von Krankheit und Selbst“ stellte Beate Schappach (Bern) Erzählparadigmen in AIDS-Autobiografien vor. Besonders zu Anfang der 1990er erschienen zahlreiche erzählende Texte, in denen mit dem AIDS-Virus infizierte Personen ihre Erfahrungen mit dieser Krankheit vor dem Hintergrund einer weitreichenden gesellschaftlichen Ablehnung darstellten. Manche AutorInnen suchten angesichts dessen Sympathien zu wecken, indem sie die eigene (sexuelle) Normalität und die Erfüllung bürgerlicher Rollenmuster (als Mutter) sowie die Sinnhaftigkeit ihres Sterbens betonten (Christina Vogel: Die geschenkte Zeit, 1991). Andere entzogen sich dieser Tendenz zur Normalisierung und kehrten die subkulturellen Züge ihres Schicksals hervor (Napoleon Seyfarth: Schweine müssen nackt sein, 1991). Wieder andere (Hervé Guibert: Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat, 1991) verweigerten sich selbst und den LeserInnen jegliches Sich-Abfinden mit ihrer veränderten Lebenssituation. Neben den individuellen Momenten und künstlerischen Intentionen stellte Schappach die systemischen Aspekte dieser Art von literarischer Krankheitsbewältigung vor: In die Konstruktion und Destruktion der schreibenden Subjekte flossen institutionalisierte Redeweisen, gesellschaftliche Werte sowie Wissensbestände des gesellschaftlichen Teilsystems Medizin ein, die teils unbewusst übernommen, teils bewusst transformiert wurden.

Alexandra-Kathrin Stanislaw-Kemenah (Dresden) analysierte Supplikationen zur Aufnahme in Dresdner Fürsorgeeinrichtungen des 16. bis 18. Jahrhunderts mit textlinguistischen Methoden. Ziel des Supplizierens, einer seit dem Mittelalter feststehenden textlichen Praktik, war die Gewährung eines Anliegens, welche das Leben der Bittenden entscheidend verändern konnte. Seit der frühen Neuzeit ist zu beobachten, dass mit Hilfe professioneller Schreiber dabei auch der „untere“, nicht alphabetisierte Teil der Bevölkerung schriftliche Spuren hinterlassen hat. Entscheidend bei der Bewilligung wirkten nicht medizinische Aspekte, sondern die Majestät und Gnade des Herrschers. Insofern war für den Erfolg der Supplikationen nicht die Schwere des individuellen Schicksals, die zwar stets betont wurde, wesentlich, sondern die Erfüllung sozialer und rhetorischer Konventionen bei Intitulatio, Narratio, Petitio und Conclusio. Anhand einiger ausgewählter Bittgesuchbeispiele wurde deutlich, dass vor dem Hintergrund des Zwecks – der Aufnahme in ein Spital – und dem Bewusstsein der Insassen, im Spital Disziplinarmechanismen ausgesetzt zu sein, jedoch auch Autonomiebestrebungen aufscheinen, die ein Spannungsfeld zwischen persönlicher Freiheit und gesatzter Ordnung enthüllen.

Angela Schattner (Saarbrücken) kontrastierte in ihrem Vortrag zwei Quellen zur Fallsucht (Epilepsie) aus dem 18. Jahrhundert. Epileptiker wurden seinerzeit medizinisch in heilbare und unheilbare unterteilt. Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert galt die Epilepsie dabei als grundsätzlich heilbare Krankheit. Allerdings glaubte man, dass die Heilungschancen mit zunehmendem Alter des Patienten und Länge der Krankheit immer weiter abnehmen. Während Suppliken von Fallsüchtigen zur Aufnahme in die Hohen Hospitäler Haina und Merxhausen in Hessen-Kassel die Schwere und Unheilbarkeit der Erkrankung betonten, erzählt die Autobiographie eines geheilten Epileptikers (Diaetophilus, Physische und Psychologische Geschichte seiner siebenjährigen Epilepsie, 1798) von einer durch Zähigkeit und Disziplin (sowie unter Zuhilfenahme von 335 unterschiedlichen Arzneimitteln) wider ärztliches Dafürhalten erreichten Heilung. Der pseudonyme Verfasser, ein juristischer Staatsbediensteter in hohen Amtswürden, profitierte dabei von seinen privilegierten Lebensumständen, die ihm monetäre Versorgung auch bei abnehmender Arbeitskraft sicherten. Demgegenüber betonten die Angehörigen von Supplikanten, die solche Privilegien nicht genossen, die durch das Anfallsleiden entstehende Selbst- und Fremdgefährdung.

Die zweite Sektion mit dem Titel „Text und Bild als Zugang zu PsychiatriepatientInnen“ wurde von Karen Nolte (Würzburg) moderiert. Wie Salina Braun (Göttingen) ausführte, spielte die „Anerkennung“ der Biographien durch die behandelnden Ärzte in der deutschen Anstaltspsychiatrie um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Rolle. Die Anstaltsmediziner glaubten, in der Anamnese Einblicke in die Ursachen der Störungen und Ansatzpunkte für eine adäquate Therapie finden zu können. Die Fähigkeit eines Patienten, „verständliche“ und „korrekte“ Angaben zur Lebensgeschichte zu machen, wurde als Beweis für seine Genesung gesehen. Anders als Michel Foucaults Medikalisierungskonzept dies für Frankreich nahe legt, spielten in der Siegburger Heilanstalt (1825-1878) die Gutachten der Anstaltsgeistlichen eine nicht zu unterschätzende Rolle – was auch den Unmut einiger Anstaltsärzte hervorrief, die den Einfluss des Klerus in der Irrenbehandlung auf ein Minimum reduziert sehen wollten. Tatsächlich verfügten die Geistlichen in der Regel aber über besseren Kontakt zu den Kranken als die jüngeren Ärzte und durch Selbststudium sogar über ein überlegenes Fachwissen. Der Blick auf die erhaltenen Texte der Anstaltspersonen zeigt die Beziehungsstrukturen zwischen den verschiedenen Akteuren und lässt auch Rückschlüsse auf die durch die Preisgabe der Lebensgeschichte möglichen Artikulations- und Handlungsspielräume der PatientInnen zu.

Der Vortrag von Naamah Akavia (Los Angeles / Berlin) beschäftigte sich mit einer einzelnen klinischen Fallerzählung, dem „Fall Ellen West“ (1944/5), des Schweizer Psychiaters Ludwig Binswanger (1881-1966), der darin sein an die Existenzphilosophie angelehntes Konzept der Daseinsanalyse zu demonstrieren suchte. Binswangers Hauptargument in dem Fall war, dass die Patientin, die sich nach wenigen Monaten in seiner Obhut im Kreuzlinger Sanatorium Bellevue selbst getötet hatte, eine „authentische“ Entscheidung getroffen habe, da ihr das „Dasein“ keine weiteren Möglichkeiten gebot. Wie neue Dokumente, die 2001 durch eine Stiftung in den Besitz des Universitätsarchivs Tübingen gelangten, zeigen, legitimierte Binswanger durch diese Diagnose ex post sein Versagen als Psychotherapeut – er veröffentlichte den Fall erst nach über 20 Jahren und war in Wests Todesjahr (1921) noch von anderen medizinischen Überlegungen ausgegangen. Wie das jetzt vorliegende neue Quellenmaterial deutlich macht, blendete Binswanger in seiner Fallerzählung Elemente der Lebensgeschichte Wests (die meisten Dokumente waren durch den Ehemann der Patientin kompiliert worden) aus und betonte andere, um seine Behandlung in möglichst kohärenter Gestalt nachzuerzählen.

Wie Monika Ankele (Wien) anhand von Selbstzeugnissen des 19. und 20. Jahrhunderts aus der Heidelberger Prinzhorn-Sammlung vorführte, gehört die Materialität als Deutungselement zum Text, bzw. kann ein bestimmter Text in Einzelfällen sogar weniger aussagekräftig sein als sein materielles Substrat. Ein Jäckchen der Näherin Agnes Richter, die um 1895 als Patientin in die Heil- und Pflegeanstalt Hubertusburg gelangte, wurde von der Patientin aus Anstaltsleinen genäht und mit biographischen Informationen bestickt. Bisher konnten nur einzelne Textfragmente des Jäckchens entziffert werden, was eine Annäherung über den Text unmöglich macht. Zum Verständnis trägt bei, dass die Näherin sich einer für Frauen im 19. Jahrhundert zentralen kulturellen Praktik bediente, nämlich dem Sticken, um ihren Gedanken und Empfindungen in der Anstalt Ausdruck zu verleihen. Bei der Deutung müssen die Kontexte und sozialen Räume berücksichtigt werden, die den Rahmen solcher Praktiken bildeten und ihre Bedeutung mitkonstituieren: Die mutwillige „Zerstörung“ der einheitlichen Anstaltsuniform hätte von der Anstaltsleitung wohl unterbunden werden müssen, was augenscheinlich nicht geschah. Andererseits wurden „ruhige“ handarbeitliche Beschäftigungen der Patientinnen unter therapeutischen Gesichtspunkten befürwortet. Begleitende Krankenakten, die die Einschätzung des Pflegepersonals zu diesem Dokument zeigen, sind aber nicht bekannt.

Maike Rotzoll (Heidelberg) zeigte anhand von Egodokumenten von Künstlern - „klassische“ Selbstzeugnisse wie Autobiographien, Erinnerungen, Tagebücher und Briefe ebenso wie Bildwerke, insbesondere Selbstbildnisse - wie die um 1900 topische Verbindung von Wahnsinn und Genie von Künstlern „autopathographisch“ zur Aufwertung ihres Künstlertums herangezogen wurde. Sich an der Kontaktfläche von medizinisch-psychiatrischer und gesellschaftlich-kultureller Sphäre bewegend, spalteten Künstler in Ego-Dokumenten eigene Stimmen als Kommentatoren, Kritiker oder auch medizinische Experten ihrer selbst ab. So stilisierte sich der Schriftsteller Fernando Pessoa (1888-1935) als „multiple“ Persönlichkeit, und Maler wie Nolde, Weidner oder Kirchner lehnten sich in ihren Selbstbildnissen an Vincent van Gogh als den „wahnsinnigen Künstler“ par excellence an. Ob eine Psychose im klinischen Sinne vorlag oder der „Wahnsinn“ als Selbstinszenierung frei gewählt und gestaltet wurde, kann retrospektiv nicht entschieden werden und ist für Rotzoll auch nicht entscheidend, es geht ihr um den Gebrauch des Themas in der Selbstdarstellung. Besonders im Expressionismus stand Wahnsinn für ein „vertieftes, schwereres“ Leben (Emil Nolde), wie es Künstler zu führen meinten.

In der von Susanne Hoffmann (Stuttgart) moderierten Sektion „Nationalsozialismus“ berichtete Stefanie Westermann (Aachen) über die Bemühungen, den Opfern der nationalsozialistischen Zwangssterilisationen bzw. den Angehörigen von Opfern der „Euthanasie“ eine Stimme zu verleihen und ihre Wahrnehmung der Verbrechen sichtbar zu machen. Quellengrundlage waren Aktenbestände aus Wiederaufnahmeverfahren in „Erbgesundheitsprozessen“, wie sie bis zum Ende der 1980er Jahre an Amtsgerichten der ehemaligen britischen Besatzungszone geführt wurden sowie Briefe der Betroffenen an die Mitte der 1980er Jahre gegründete Selbsthilfeorganisation, den „Bund der ‚Euthanasie‘-Geschädigten und Zwangssterilisierten“ (BEZ). Die Opfer blieben auch nach 1945 als „erbkrank“ oder „lebensunwert“der politisch-gesellschaftlichen Stigmatisierung ausgesetzt. In den Wiederaufnahmeverfahren wurde das verbrecherische Vorgehen des Regimes nachträglich überwiegend gerechtfertigt. Aber auch die an die BEZ gesandten Briefe oder Zeitzeugeninterviews führen vor Augen, dass die „Erbgesundheitslogik“ das Leben und die Selbstwahrnehmung der Betroffenen zeitlebens überschattet hat.

Ein weitgehend neues Gebiet hat Peter Steinkamp (Freiburg) mit der Auswertung von Sektionsberichten über Soldaten der deutschen Wehrmacht als biographische Quellen betreten. Ihr besonderer Wert liegt in den regelmäßig in den Berichten enthaltenen, oft recht ausführlichen Angaben zur Vorgeschichte des Todes. Darin fassten die Obduzenten die Aussagen von Kameraden und Vorgesetzten sowie von behandelnden Truppenärzten zusammen. Gelegentlich finden sich auch Ego-Dokumente wie Abschiedsbriefe oder Mitschriften ärztlicher Interviews. Wegen der militärischen Provenienz können ergänzend Akten der jeweiligen Einheit des Verstorbenen, wie z.B. Kriegstagebücher oder Tätigkeitsberichte auf das Geschehen der letzten Lebensspanne hin überprüft werden. Damit ermöglicht der Quellenbestand nicht nur eine statistische, sondern auch qualitative Auswertung und die Beschreibung einzelner Biographien hinsichtlich von militärischen Lebens-, Leidens- und Todeserfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Bei einzelnen Fällen von Suizid, plötzlichem Tod in Trunkenheit und vorgeblichem Herztod gerät die Spurensuche des Historikers in die Nähe von Detektivarbeit.

Thorsten Noack (Düsseldorf) führte die unterschiedliche medizingeschichtliche Annäherung an den Anatomen Hermann Stieve (1886-1952) vor. Der vormalige Direktor des anatomischen Instituts der Berliner Charité benutzte – wie andere Anatomen auch – im Dritten Reich für Lehre und Forschung die Leichen Hingerichteter. Mehrere Faktoren machten Stieve zu einem bemerkenswerten Fall: u.a. seine Reputation als Forscher, die hohe Zahl und die Prominenz der Opfer und die zentrale Bedeutung der medizinischen Einrichtung, an der er tätig war. Drei unterschiedliche Interpretationen zu Stieves Verhalten lassen sich unterscheiden: die bis in die 1980er Jahre in beiden Teilen Deutschlands anhaltende Heroisierung als „Beinahe-Widerstandskämpfer“, der z.B. die Sektion der Toten des 20. Juli abgelehnt haben soll, eine im Zuge der Aufarbeitung der NS-Medizin in den 1980er Jahren vertretene dämonisierende Interpretation (Stieve habe u.a. den Todeszeitpunkt der Opfer bestimmt) sowie in den letzten Jahren eine Sicht, die sein Verhalten eher verharmlost (Stieve habe in einer jahrhundertealten Tradition innerhalb der Anatomie gestanden). An den drei Darstellungsarten lässt sich der Eindruck gewinnen, dass die historische und in diesem Kontext immer auch moralische Bewertung der Person Stieves häufig erst zur Produktion, Ausblendung und - aus der Sicht des Vortragenden - eher fragwürdigen Bewertung historischer Fakten führte, die das vorgefasste Urteil bestätigten. Angesichts der emotional hoch aufgeladenen Thematik kann man sich dieser wenig wissenschaftlichen Vorgehensweise anscheinend kaum entziehen.

Die abschließende Sektion war mit „Biographische Netzwerke und Verflechtungen“ überschrieben und wurde von Nadine Metzger (Newcastle) geleitet. Anna Echterhölter (Berlin) wies auf die Funktionen der Pathographie in Nachrufen auf Naturwissenschaftler aus den Jahren 1760-1785 hin. Lobreden auf verstorbene Akademiker entstanden auch im deutschsprachigen Raum an Universitäten oder wissenschaftlichen Sozietäten, als biographische Gebrauchstexte folgten sie überwiegend gängigen rhetorischen Traditionen. Wie am Beispiel der Nachrufe auf Albrecht von Haller (1708-1777) gezeigt wurde, sollte der rationalistische wissenschaftliche Habitus der Forschenden noch im Tode bestätigt werden, worum sich Wissenschaftler auch aktiv bemühten, indem sie den Nachruf oder vorgebliche „letzte Worte“ noch zu Lebzeiten selbst festhielten. Die in Hallers Fall posthum betonte wissenschaftliche Kaltblütigkeit, vernunftgeleitete Selbstobjektivierung und Affektbeherrschung, mit der er sein (mutmaßlich durch Gicht verursachtes) Sterben angesichts des nahenden Todes durch die Beobachtung des Pulses selbst untersucht haben soll, steht in deutlichem Kontrast zum Charakterzug der ausgeprägten Scherzempfindlichkeit und Wehleidigkeit, die Nahestehenden zu Lebzeiten an dem berühmten Arzt auffiel.

Tilmann Walter (Würzburg) stellte Ergebnisse seines laufenden Forschungsvorhabens zu Ärztebriefen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts vor. Diese Dokumente der frühneuzeitlichen „Gelehrtenrepublik“ werden von ihm daraufhin untersucht, wie „Autorität“ unter Ärzten hergestellt oder bestätigt wurde und welche sozialen Faktoren es waren, die eine erfolgreiche Karriere begünstigten oder behinderten. Angesichts der biographisch relevanten Abschnitte der Briefe, die etwa von wirtschaftlicher Not am Beginn der Karriere, Belastungen durch den Hofdienst, Überarbeitung, Trauer, Melancholie oder Todessehnsucht berichten, ließ sich auch zeigen, dass die in der Briefforschung topisch gewordene Einschätzung, beim frühneuzeitlichen Briefverkehr handele es sich um keine „intime“, sondern vor allem konventionelle Kommunikationsform, nicht voll zutrifft: Ärzte als potenzielle Leser der Briefe und gedruckten Briefsammlungen maßen den persönlichen Umständen offenbar große Bedeutung bei, und stabile gefühlsmäßige Beziehungen besaßen im Sinne der Vertrauensbildung, professionellen Kooperation und des Standesschutzes wichtige Funktionen in der Ärzteschaft.

Ausgehend vom frühneuzeitlichen Verflechtungskonzept Wolfgang Reinhards untersuchte Nils Kessel (Freiburg) am Beispiel des bedeutenden Pharmakologen Wolfgang Heubner (1877-1957) und seiner Schüler Formen sozialer Verflechtung in der Wissenschaft.
Quellengrundlage seines Projektes bilden die umfangreichen Tagebücher Heubners, der über all seine gesellschaftlichen Kontakte minutiös Buch führte, ergänzt durch Archivalien (Personalakten, Tagungsprotokolle) aus vier Jahrzehnten. Kessel ging der Frage nach, welchen Einfluss die traditionell begründeten Abhängigkeiten wie Lehrer-Schüler-Verhältnisse und Zitationskartelle für die einzelnen Karrieren haben, gelangten doch Heubners engere Schüler in dem noch jungen Fach fast ausnahmslos auf Lehrstühle.

Als „zweifache Chance“ konnte Benjamin Marcus (Berlin) sein Projekt einer Doppelbiographie der Berliner Orthopäden Heimann Wolff Berend (1809-1873) und Moritz Michael Eulenburg (1811-1887) verständlich machen. Für beide Mediziner stellte um die Mitte des 19. Jahrhunderts ihre jüdische Herkunft ein wesentliches Hindernis für eine akademische Laufbahn dar, denn als Juden waren sie vom Habilitationsrecht ausgeschlossen. Der doppelbiografische Ansatz war durch die anfänglich intensive persönliche Interaktion der beiden Protagonisten und ihre sehr ähnliche berufliche Entwicklung bis hin zur Wahl des Fachgebiets und der Gründung zweier gymnastisch-orthopädischer Privatinstitute naheliegend. Offenbar erfuhr diese parallele Entwicklung einen Bruch, als Eulenburg zum Protestantismus konvertierte, während Berend sich als zeitweiliger Leiter der Chirurgie des Jüdischen Krankenhauses für eine stärkere religiöse Prägung dieser Einrichtung engagierte. Während schon die Vielzahl der medizinischen Veröffentlichungen Berends und Eulenburgs als ein Indiz für die fehlenden Aufstiegsmöglichkeiten an der Universität gelesen werden kann, bringt der Versuch, an ihnen exemplarisch Karriereverläufe jüdischer Ärzte in dieser Zeit zu rekonstruieren, aber auch verschiedene methodische und praktische Probleme mit sich, die vor allem durch das weitgehende Fehlen persönlicher Aufzeichnungen und autobiografischer Äußerungen bedingt sind. So sind gerade die ungedruckten Quellen sehr unterschiedlich auf die beiden Akteure verteilt.

Von einem ungewöhnlichen Dokument, dem Tagebuch eines in Deutschland studierenden jungen Mediziners aus Japan berichtete in ihrem Vortrag Hsiu-Jane Chen (Berlin). Mit Anbruch der Meiji-Restauration im Jahr 1868 wurde die westliche Universitätsmedizin in Japan als vorbildlich verstanden und besonders begabte Studenten der Universität Tokyo wurden zum Studium ins Ausland geschickt. In seinem Tagebuch beschrieb der zwischen Januar und April 1883 in Straßburg studierende Koganei Versuche der Selbsttherapie seines schmerzhaften Nierenleidens, das ihm in dieser Zeit vom Besuch des akademischen Unterrichts abhielt. Ärztliche Behandlungshinweise führten zu keinem Heilungserfolg, so dass Koganei damit begann, mit den frisch erlernten labormedizinischen Methoden wie der Mikroskopie selbst nach Hinweisen für die Erklärung und Therapie seiner Krankheit zu suchen und mit Heilmitteln wie einer Gummilösung zu experimentieren. Sein Tagebuch, in Japan ursprünglich ein Mittel der Selbstdisziplinierung, wurde so unwillkürlich zum Krankenjournal und zum Zeitdokument für den medizinischen Wissenstransfer von Deutschland nach Japan. Im neuen kulturellen Umfeld, der akademischen Lebenswelt in einem fremden Land, traten die methodischen Regeln der Wissenschaft neben die disziplinierende Wirkung der in Japan erlernten Selbst-Techniken.

Die Abschlussdiskussion führte angesichts der vielen unterschiedlichen gelagerten historischen Beispiele zu keinem „abschließenden“ Ergebnis – außer vielleicht der Einschätzung, dass die Re-Konstruktion der Erfahrungswelt historischer Subjekte über eine versuchsweise Annäherung niemals hinausreichen wird. Die Verschiedenheit der als Quellen herangezogenen Dokumente aus erster (Tagebücher, Briefe, Kunstwerke, Interviews) und zweiter Hand (Krankenjournale, von anderen niedergeschriebene Briefe oder Lebensberichte, Nachrufe, „offizielle“ und inoffizielle Biographien) bringt je eigene Deutungsprobleme mit sich. In der Re-Konstruktion wird die Subjektivität des / der Forschenden unhintergehbar und daher auch zu berücksichtigen sein. So stehen bei der Nacherzählung stets die gefühlsmäßigen Alternativen Identifikation und Abgrenzung zur Verfügung. Heroisierung, Skandalisierung oder Normalisierung / Bagatellisierung sind dementsprechend nicht bloß in der Medizingeschichtsschreibung früherer Zeiten die gängigen rhetorischen Muster wissenschaftlicher Biographien. Darüber hinaus wird aber noch mit vielen weiteren deutungsrelevanten Einflüssen zu rechnen sein, die, wie anhand einzelner Beispiele demonstriert wurde, von der Materialität der überlieferten Dokumente bis hin zu unbewussten emotionalen Reaktionen des forschenden Subjekts reichen.

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