Interesse und Konflikt. Zur politischen Ökonomie der deutsch-polnischen Beziehungen, 1900-2006

Interesse und Konflikt. Zur politischen Ökonomie der deutsch-polnischen Beziehungen, 1900-2006

Organisatoren
Deutsches Polen-Instituts, University of Warwick
Ort
Darmstadt
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.03.2007 - 11.03.2007
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Von
Peter Oliver Loew, Deutsches Polen-Institut Darmstadt

Die deutsch-polnische Nachbarschaft im langen 20. Jahrhundert wurde entscheidend von der ökonomischen Dimension der Beziehungsgeschichte geprägt. Doch obwohl zahlreiche Debatten zwischen beiden Ländern um ökonomische Themen wie Arbeitsmärkte oder Standortverlagerungen kreisen, bleiben diese Debatten doch meist streng akademisch getrennt.

Die Darmstädter Tagung, ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Polen-Instituts (Dieter Bingen, Peter Oliver Loew) und der University of Warwick (Nikolaus Wolf), nahm die politische Ökonomie der deutsch-polnischen Beziehungen seit 1900 in den Blick, um Brücken zwischen den Disziplinen zu schlagen. Zu den Teilnehmern zählten Historiker, vor allem Wirtschaftshistoriker, Wirtschaftswissenschaftler und Politologen. Nikolaus Wolf (Warwick) stellte in seinem einleitenden Referat über die ökonomischen Zugänge zur neueren Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen folgende Leitfragen: Besteht ein Zusammenhang zwischen dem gegenseitigen wirtschaftlichen Interesse einerseits und dem politischen Konflikt andererseits? Kann der Blick auf die wirtschaftlichen Beziehungen einen neuen Blick auf die politischen Beziehungen eröffnen? Dabei lenkte er die Aufmerksamkeit auf die seit der Teilungszeit in Polen vorhandene starke wirtschaftliche Abhängigkeit von den Nachbarn und wies darauf hin, dass die zunehmende wirtschaftliche Integration solche Abhängigkeiten vertieft und daher auch nicht zwangsläufig mit einer Verbesserung der politischen Beziehungen einhergehen muss. Die Integration in das auf Gegenseitigkeit beruhende System der Europäischen Union lässt hoffen, diese Tradition der Dependenz zu durchbrechen.

In einem ersten, vom Nestor der polnischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Jerzy Tomaszewski (Warschau), geleiteten Panel ging es um Querschnitte durch einzelne ökonomische Aspekte der Beziehungsgeschichte in der „longue durée“. Stefan Kowal (Posen) bot einen über die Brüche des Jahrhunderts hinwegreichenden Überblick über die Entwicklung des deutsch-polnischen Handels zwischen 1900 und 2004 und stellte politisches Klima, Warenstruktur, Einstellungen zum Warenverkehr und dessen Wert dar. Schon in diesem Referat wurde deutlich, dass sich wirtschaftliche Beziehungen nur zum Teil von Änderungen der politischen „Großwetterlage“ beeinflussen lassen. Dies machte auch Christopher Kopper (Bielefeld) mit seiner Darstellung der deutsch-polnischen Verkehrsbeziehungen im 20. Jahrhundert deutlich. So habe beispielsweise die Abtrennung Ostpreußens vom Reich keineswegs die Verkehrsverhältnisse in den deutschen Ostprovinzen erheblich beeinträchtigt.

Uwe Müller (Frankfurt/Oder) widmete sich der Frage, inwiefern die wirtschaftliche und soziale Situation in den Gebieten an der deutsch-polnischen Grenze für eine politische Ökonomie der deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert von Bedeutung ist. Dabei stellte sich heraus, dass die Förderung der östlichen Grenzgebiete der deutschen Staaten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg von einem als Bedrohung empfundenen Migrationsdruck aus Polen geprägt war, der die gegenseitige Wahrnehmung bis heute entscheidend beeinflusst. Hans Christian Heinemeyer (Berlin) präsentierte Ergebnisse seiner ökonometrischen Studie zu den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die wirtschaftliche Integration deutscher und polnischer Regionen und in der europäischen Arbeitsteilung. Er konnte zeigen, dass die neu gezogenen Grenzen einen erstaunlich geringen Effekt auf die deutsch-polnischen Handelsbeziehungen hatten, da sie zum Teil durch Desintegration vor 1914 vorweg genommen waren.

Ein weiteres wichtiges Kapitel der ökonomischen Beziehungsgeschichte sind die Kapitalbeziehungen, insbesondere die Rolle des deutschen Kapitals in Polen. Wojciech Morawski (Warschau) stellte die Situation in der Zwischenkriegszeit dar, als deutsche Investoren in Polen große administrative Hindernisse zu überwinden hatten, trotzdem aber sowohl über inländisches Kapital (zum Beispiel in Lodz oder in Oberschlesien) oder verdeckt über Auslandskapital zugegen waren. Lukasz Dwilewicz (Warschau) schließlich erörterte die Entwicklung der deutschen Direktinvestionen in Polen nach 1990, die nach einem ersten großen Anstieg in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre erst seit 2003/04 wieder deutlich wachsen, und zwar insbesondere im Zuge der Produktionsverlagerung aus Deutschland.

Das zweite Panel konzentrierte sich auf Fragen von Arbeitsmigration und Zwangsarbeit. Mark Spoerer (Stuttgart-Hohenheim) wagte ebenfalls einen langen Blick, indem er Arbeitsmigration und Zwangsarbeit im deutsch-polnischen Konnex zwischen 1871 und 1945 darstellte. Deutlich wurde hier die Ambivalenz der Arbeitspolitik. Während es unter Bismarck Massenausweisungen polnischer Land- und Industriearbeiter aus dem Deutschen Reich gab, wurde ihnen während des Ersten Weltkriegs sogar die Rückkehr nach Polen verwehrt. Nach einem Rückgang der Migrationsströme in der Zwischenkriegszeit war der Zweite Weltkrieg geprägt von gewaltigen, mehr oder weniger erzwungenen Wanderungsbewegungen. Rolf Wörsdörfer (Darmstadt) konnte am Beispiel der polnisch- und slowenischsprachigen Wanderarbeiter zwischen 1880 und den ausgehenden 1960er-Jahren die mit der Arbeitsmigration verbundenen Probleme an zwei nationalen Beispielen aufzeigen. Er ging insbesondere der Instrumentalisierung der beiden Bevölkerungsgruppen im Ruhrgebiet nach, wo die Slowenen als „arbeitsam“ und „unpolitisch“ galten, während die Polen oft als Nationalisten, Katholiken oder Staatsfeinde stigmatisiert wurden.

Ebenfalls ins Detail ging Christian Westerhoff (Erfurt) mit seiner Schilderung der Rekrutierung von Arbeitskräften aus Polen und dem Baltikum für die deutsche Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg. Erhellend war seine Darstellung der zwischen Freiwilligkeit und Zwang changierenden Anwerbepolitik, die sowohl Arbeitskräfte für das Reichsgebiet wie auch für die besetzten Regionen gewinnen sollte. Insbesondere in „Ober-Ost“ kam es hier zu teils brutalen Rekrutierungen. Einen spannenden Einblick in die Nachwirkungen der Zwangsarbeit lieferte Jedrzej Chuminski (Breslau). Gestützt auf eine detaillierte statistische Analyse untersuchte er die Rolle ehemaliger Zwangsarbeiter im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben der polnischen Westgebiete im ersten Jahrzehnt nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Dabei zeigte sich, dass sich ehemalige Zwangsarbeiter überdurchschnittlich häufig in den neuen Westgebieten niederließen und häufig angepasstere Einstellungen an den Tag legten als ihre nicht zur Fremdarbeit gezwungenen Landsleute.

Um die Wirtschaft im besetzten Polen ging es in Panel III. Ingo Loose (Berlin) stellte seine Thesen zur „nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik in Polen als Gegenstand der Forschung und der Instrumentalisierung im politischen Raum“ dar. Dabei fragte er zum Beispiel nach der langfristigen Bedeutung der nationalsozialistischen Investitionen im besetzten Polen (etwa durch die Flurbereinigung), nach dem Zusammenhang von polnisch-jüdischer Opferkonkurrenz und wirtschaftlichen Interessen oder auch nach der „Normalität“ polnischer wirtschaftlicher Betätigung unter der NS-Besatzung. Die durch Faktoren wie diese verstärkte Ökonomisierung der politischen Debatten bis in die Gegenwart sah Loose als potentielle Gefahr für den beziehungsgeschichtlichen Diskurs. Stanislaw Meducki (Kielce) präsentierte seinerseits einen Überblick über die wirtschaftlichen Aspekte der deutschen Besatzung in Polen, das quasi als Versuchsgebiet für die Politik in anderen besetzten Ländern gedient habe.

Die Tagung schlug dann den Bogen zu aktuellen Problemen der wirtschaftlichen Beziehungen unter dem Zeichen von „Interesse und Konflikt“. Ronald Bachmann (Wuppertal) und Sebastian Plóciennik (Breslau) behandelten gemeinsam die Konsequenzen der Transformationsprozesse für den polnischen und (vor allem ost-) deutschen Arbeitsmarkt. Nach einem in beiden Ländern ähnlich zu verzeichnenden rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit kam es insofern zu Unterschieden, als in Polen der Agrarsektor und die großzügig vergebenen Invalidenrenten zur Abfederung der Arbeitslosigkeit dienten, in Ostdeutschland hingegen die industrielle Basis weitgehend wegbrach und es zu einer verstärkten Wanderung nach Westdeutschland kam. Mit der Abwanderung von meist gut qualifiziertem Nachwuchs hat allerdings auch Polen zu kämpfen, weshalb die beiden Referenten es als Hauptaufgabe künftiger Wirtschaftspolitik bezeichneten, den Teufelskreis von Abwanderung und fehlenden Arbeitsplätzen zu durchbrechen.

Maria Piotrowska (Breslau) ging in ihrem Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf die Vorbildfunktion der deutschen Bundesbank für Polen ein. Sie erläuterte, dass die mit gewissen Hoffnungen verbundene Geldpolitik der Bundesbank kaum Auswirkungen auf die Arbeitsmarktsituation gehabt habe und warnte davor, dieses Instrument in Polen überzubewerten. Und Martin Petrick (Halle) ergänzte diese Ausführungen in seinem Referat „Abwanderung und Widerspruch“ zu der Bedeutung des wirtschaftlichen Anpassungsdrucks in den Agrarsektoren Deutschlands und Polens, wobei er insbesondere auf die agrarischen Wanderungsbewegungen zwischen den beiden Ländern hinwies, wo es auf deutscher Seite zu steigender Unternehmermobilität und auf polnischer Seite zu steigender saisonaler Arbeitsmigration kommt.

In einem letzten Panel ging es um den Zusammenhang von „Kultur, Moral und Ökonomie“. Silke Röttger (Leipzig) arbeitete die unterschiedliche Argumentationsweise Polens und der DDR vor dem Hintergrund faktischer Integration in den westlichen Wirtschaftsraum heraus und stellte die These auf, dass die beiden Regierungen dabei am erfolgreichsten ideologisch argumentierten. Krzysztof Ruchniewicz (Breslau) schilderte die Geschichte der polnischen Entschädigungsforderungen an Deutschland nach 1945. Nachdem die Bundesrepublik zunächst keine Wiedergutmachung an polnische Opfer leistete, änderte sich die Lage mit Willy Brandts Ostpolitik, als mehrere entsprechende Verträge für einzelne Opfergruppen geschlossen wurden. Eine Generalbereinigung des Problems gab es nicht, dafür aber gewährte die Bundesrepublik Polen hohe Kredite. Dieter Bingen (Darmstadt) griff dieses Motiv auf und legte dar, wie zwischen den 1950er- und den 1970er-Jahren die „Ökonomie der Werte“ die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen geprägt habe. Während Bonn in Polen humanitäre Interessen durchsetzen wollte, war Warschau an materiellen Zugeständnissen interessiert.

Was im Laufe der Tagung klar wurde – wirtschaftliches Interesse überwog in der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte häufig den politischen Konflikt. Auch wenn in der politischen und publizistischen Rhetorik oft die Antagonismen hervorgehoben wurden, suchten sich, auf längere Sicht betrachtet, Handels-, Kapital- und Migrationsströme unabhängig davon ihre Wege über die Grenze(n). In der Abschlussdiskussion der dichten und aufgrund ihrer Multidisziplinarität besonders anregenden Tagung wies Nikolaus Wolf auf zentrale Desiderate der wirtschaftlichen Beziehungsforschung hin, durch deren künftige Bearbeitung eben jenes Zusammenspiel von „Interesse und Konflikt“ noch genauer beleuchtet werden könnte. Neben einer eingehenderen Untersuchung des Dreiecksverhältnisses Bundesrepublik-DDR-Polen nannte er detailliertere Arbeiten zur Banken- und Unternehmensgeschichte, die globale Aussagen über das An- und Abschwellen von Handelsströmen und Wirtschaftsbeziehungen relativieren könnten. Peter Oliver Loew (Darmstadt) wies auf die Möglichkeiten hin, die eine Einbeziehung kulturwissenschaftlicher Fragestellungen bietet, beispielsweise bei einer Untersuchung der wirtschaftlichen Einflussfaktoren auf die gegenseitige Rezeption von Hochkultur.

Die Tagung wurde von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung und dem Fonds Erinnerung und Zukunft der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft großzügig gefördert. Ein Tagungsband soll demnächst erscheinen.

Kontakt

Dr. Peter Oliver Loew
Deutsches Polen-Institut
Mathildenhoehweg 2
D-64287 Darmstadt
Tel: +49/6151/420217
Fax: +49/6151/420210
loew@dpi-da.de

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