Rausch und Diktatur

Organisatoren
Árpád von Klimo, Malte Rolf Humboldt-Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.12.2002 - 07.12.2002
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Von
Malte Rolf, Árpád von Klimó, Berlin

I. Thema und Ziel der Tagung

Ist der Begriff „Rausch“ geeignet, bisher noch wenig untersuchte, aber entscheidende Aspekte der Geschichte moderner Diktaturen zu erklären? „Rausch“ beschreibt Vergemeinschaftung durch kollektiv erlebte, außeralltägliche Grenzerfahrungen und individuelle und kollektive Erregungszustände in der kurzen Dauer des „ozeanischen Gefühls“, das nach Nietzsche einem „hohen Machtgefühl“ gleichkommt.1 Unter „Rausch“ soll im Folgenden das zeitlich begrenzte und stark empfundene Erleben individueller emotionaler Entgrenzung innerhalb einer größeren Gruppe von Menschen verstanden werden.2 Seit dem Aufkommen totalitärer Bewegungen und Regime im 20. Jahrhundert wird darüber nachgedacht, wie es diesen gelang, massenhafte Begeisterung zu erzeugen und für die eigenen Ziele einzusetzen. Die Diktaturforschung konzentrierte sich aber vor allem auf Institutionen, soziale Strukturen, politische Mechanismen oder die Propagandaarbeit. Erste Versuche, die Massenbegeisterung zu erklären, wie das Konzept der „Politischen Religion“ nehmen die Selbstbeschreibung der (nationalsozialistischen) Diktatur zu ernst und vernachlässigen aufgrund ihres umfassenden Erklärungsanspruchs innere Widersprüche und Ambivalenzen der diktatorischen Systeme.3 Der Blick auf Rauschphänomene in Diktaturen erfaßt die widersprüchlichen Seiten der Regime besser und zielt nicht auf eine umfassende Erklärung ihres Charakters. Die Tagung an der Humboldt-Universität stellte einen ersten Versuch dar, den Begriff „Rausch“ für eine Beschreibung und Analyse moderner Diktaturen nutzbar zu machen.

II. Die Defizite der Erforschung totalitärer Diktaturen und die Erforschung von Rauschphänomenen
Diktaturen der Moderne werden in Anlehnung an die Totalitarismustheorie als partei-staatliche Projekte der totalen Unterwerfung der Gesellschaft verstanden. Sie zielen demnach auf vollständige politische, aber auch soziale und kulturelle Kontrollnahme und damit auf Disziplinierung der Individuen und der Gesellschaft. Auch neuere kulturwissenschaftlich beeinflußte Deutungen, die stärker die integrierende Kraft von Diktaturen betonen, gehen mit der Annahme der disziplinierenden Macht der Diktatur letztendlich konform. Dabei wird in allen Ansätzen das Augenmerk auf das rationale Handeln der Individuen gelenkt, so sehr die Maßstäbe der systeminternen rationalen Logik auch pervertiert sein mögen. Das Moment des Irrationalen, der Grenzerfahrung und -überschreitung wird dabei nicht völlig ausgeklammert, aber doch vernachlässigt. Zwar verweisen ältere Ansätze auf den bis zur Hysterie gesteigerten Führerkult sowie den „fanatischen“ kollektiven Enthusiasmus als Kennzeichen von Diktaturen.4 Auch die Deutungen, die totalitäre Diktaturen als „Politische Religionen“ verstehen, berücksichtigen eine spirituelle Verzückung.5 Jüngere kulturgeschichtliche Forschungen betonen die einheitsstiftende Dimension von massenhaften Ritualen, Aufmärschen und kollektiven Emotionen.6 Umso verwunderlicher erscheint es jedoch, daß sich eine solche Sichtweise bisher nur auf Einzelerscheinungen und ihre Beschreibung bzw. Deutung beschränkt hat – es fehlt weiterhin eine konzeptionelle Zusammenschau dieser Phänomene in Diktaturen der Moderne. Dafür erscheint der Begriff „Rausch“ gerade aufgrund seiner Bedeutungsvielfalt auf der einen und seiner mittleren theoretischen Reichweite auf der anderen Seite besonders brauchbar. Neben den neurologischen Aspekten der Steigerung von Emotionalität, einhergehend mit beschränktem Kontrollverlust des Individuums, stehen Rauschzustände ebenso bei massenpsychologischen Theorien und Utopien - von denen auch die faschistischen und stalinistischen Vordenker und Propagandisten beeinflußt waren - im Mittelpunkt.7 Als Merkmal der Moderne wurden von Durckheim, Weber, Simmel bis zu Foucault die Rationalisierung der Lebensführung, die Disziplinierung von Geist und Körper und die Marginalisierung des dionysischen Prinzips herausgestellt.8 Äußerten sich Überreste des Dionysischen dann möglicherweise in einer immer wieder aufkommenden „Barbarisierung“ der Politik und in kollektiven Rauschzuständen?9 Waren solche Eruptionen kollektiven Rausches dabei ein Signum der ansonsten hochdisziplinierten Diktaturen und damit möglicherweise ein Ventil für die Überregulierung und Kontrolle aller Lebensbereiche? Unter „Rausch“ lassen sich Massenmorde (nicht jedoch die Rationalität der Konzentrationslager) ebenso fassen wie Massenfeiern, beides spezifische Merkmale der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Die Anwendung des Rauschbegriffs öffnet somit den Blick für die der totalitären Diktatur innewohnenden Spannung zwischen Organisation, Disziplin, Inszenierung, Kontrolle auf der einen und Dynamik, Spontaneität, Emotion, „Gefahr“ auf der anderen Seite. Aber eine „Geschichte des Rausches“ bleibt im Unterschied zum Konzept der „Politischen Religion“ ein Deutungsansatz ohne den Anspruch auf umfassende Erklärung der Regime. Sie dient vielmehr der ergänzenden, das Blickfeld erweiternden Betrachtung, aber nicht einer totalen Erfassung der Diktaturen und sie zielt nicht darauf ab, bisherige Theorieansätze zu verdrängen. Die Gefahr, seine Erklärungskraft zu überschätzen, seine theoretische Reichweite zu überdehnen, ist bei der Konzeption „Rausch“ verhältnismäßig gering. Bei der Tagung stand der Zusammenhang von Rausch und Diktatur im Mittelpunkt. Es sollte einerseits darum gehen, die Spezifik von Rauschzuständen in totalitären Bewegungen und Diktaturen zu diskutieren, andererseits den Stellenwert des Rauschhaften im diktatorischen System zu verorten. Die Teilnehmer der Tagung näherten sich diesem Wechselverhältnis auf mehreren Ebenen, bei denen das Rauschhafte verschiedener Dimensionen moderner Diktaturen ausgelotet wurde. Nach einem ersten Panel zur Semantik des Begriffes „Rausch“ und zu seinen Konzeptualisierungen im 19. Jahrhundert (III), ging es um „Rausch“ als Selbsterfahrung von Funktionären der Regime (IV). Daran schloß sich ein Panel zum Zusammenhang von Gewalt und Rausch (V) an, gefolgt von der Diskussion zum Stellenwert von durch Feste und Feiern evozierten Rauschzuständen (VI). Abschließend befaßte sich die Tagung mit dem Zusammenhang von Musik und Rausch in den Diktaturen (VII), um sich in einer Schlußdiskussion der Frage nach der empirischen Tragfähigkeit des Begriffes und seines Beschreibungs- und Erklärungsgehaltes in der Diktaturforschung zu stellen (VIII).

III. Begriffe, Theorien, Konzepte
Gábor T. Rittersporn (Centre Marc Bloch, Berlin) sprach zu Beginn der Tagung über die Probleme der Übersetzbarkeit des deutschen Wortes „Rausch“, wobei er auch die Chancen der Übersetzungsversuche unterstrich. Im Englischen existieren für „Rausch“ zahlreiche, je unterschiedliche Sachverhalte beschreibende Wörter, die jedoch die akustische Dimension (rauschen) ausblenden (drunkenness, intoxication, ecstasy, euphoria). Das griechische extasis (Aus-sich-heraus-kommen) bezeichnet wie auch das lateinische trans-ire (über-gehen) oder exaltare (heraus-springen) intensive Erlebnisse, die dem Sterben ähnlich sind. Wie auch beim japanischen muamutschu (Selbstvergessenheit) oder sanskrit anatman (Abwesenheit der Persönlichkeit) kommt gemeinsam ein Gefühl des Identitätsverlustes zum Ausdruck. Es geht um eine Entgrenzung, die auch Psychologen als Merkmale von Rauschzuständen konstatieren. Es komme aber, so Gábor T. Rittersporn, auf den jeweiligen sozialen Kontext und die spezifische Normsetzung an: Was am Beginn des 20. Jahrhunderts noch als „Kaufrausch“ pathologisiert wurde, ist hundert Jahre später bereits zum „existentiellen Hintergrundrauschen“ des alltäglichen Konsums geworden. Nach Günter Schödl (Humboldt Universität, Berlin), dem zweiten Redner, wurde aus einer weltabgewandten, modernitätsverweigernden Idee in einer Entwicklung, die von der Romantik über die Dékadence zum völkischen Denken reicht, eine Metapher, welche die als unerträglich empfundene Kontingenz der Moderne zu überwinden verspricht (Friedrich Nietzsche). Dabei gibt Günter Schödl allerdings zu, daß dieser Trend, der von engen Intellektuellenzirkeln auf immer größere politische Bewegungen (Alldeutsche, Völkische) übergreifende (damit auch seine Bedeutung verändernde) zwar mit „Rausch“ zu tun hat, aber auch mit anderen Beschreibungen „irdischer Paradiese“. Benno Gammerl und Sven Rücker (Freie Universität, Berlin) beschrieben in ihrem Vortrag phantastische Vorstellungen von totalitären Diktaturen in Texten von Jörg Lanz von Liebenfels und Alfred Kubin kurz vor dem Ersten Weltkrieg.10 Deren Texte beschreiben Herrschaftsmodelle, in denen Rauschphänomene in Form von Deformierung von Bevölkerungsmassen, Totalisierung des Medialen und Aufhebung von Herrscher- und Kollektividentität zur Grundlage einer modernen und zugleich der Moderne enthobenen Diktatur vorgestellt wurden. Ähnlich wie bei Schödl steht „Rausch“ hier für die Ent-Individualisierung der Subjekte im Zuge der Beschleunigung der sozialen und politischen Verhältnisse, eine Grunderfahrung der Moderne, die Hannah Arendt als eine der Voraussetzungen für die Errichtung totalitärer Herrschaft erkannte.11 Der Herrscher selbst wird zum Übermenschen, zum Medium des Herrschaftswillens über die Massen. In der Diskussion dieser Beiträge wurde angemerkt, daß es für das Thema „Diktatur und Rausch“ notwendig sei, stärker die intellektuellen Vermittler zu betrachten, die Konzepte und Habitus von sich antibürgerlich gebenden Künstlern und Intellektuellen der Dékadence und Postdékadence (Friedrich Nietzsche) für die Bedürfnisse politischer und sozialer Massenbewegungen aufbereiteten: Gustave Le Bon und andere Theoretiker der modernen „Masse“ waren es, welche Rauschphantasien in politisch breitenwirksame Begriffe verwandelten. Hierbei muß allerdings die enorme Veränderung dieser Begriffe und Vorstellungen mit berücksichtigt werden.

IV. Rauschafter Enthusiasmus
Übersteigerte Emotionalität und rauschhafte Gefühle waren fester Bestandteil der Sprache der Diktatur. Das betraf sowohl offizielle wie auch halb- private Texte. Zumeist waren es die Begegnungen mit den Führern, die solche Gefühlsstürme hervorriefen, zu deren Wiedergabe die Rauschterminologie adäquat erschien.12 Gesteigerte Emotionalität in kollektiver Form war dabei kein Selbstzweck, sondern sollte sich in gesteigerte Leistungs- und Märtyrerbereitschaft verwandeln. Schier ungebremste Tatkraft, Ausdauer und Überwindung aller Hindernisse wurden als Folge eines rauschhaften Enthusiasmus an den Fronten der Produktionspläne, später auch der Kriege dargestellt. Rauschhafte Verzückung und seine Kanalisierung in einen rauschhaften Enthusiasmus waren somit Teil des offiziellen Narrativs.13 Inwieweit nahmen Menschen die begrifflichen Vorgaben auf, die ihnen zur Wiedergabe eigener Emotionalität zur Verfügung gestellt wurden? Tagebucheinträge der Zeit deuten darauf hin, daß zum Teil eine Sprache, die Rauschzustände ausdrückte, auch bei der Selbstbeschreibung zur Anwendung kam.14 Es bleibt zu diskutieren, wo und in welcher Form sich auf ähnliche Weise eine offiziell geförderte Rauschhaftigkeit in individuellen Kommunikationssituationen festsetzte und welche Implikationen für Handlungen diese hatte. Sandra Dahlke (Universität der Bundeswehr, Hamburg) beschrieb in ihrem Beitrag am Beispiel der Tagebucheintragungen des Altbolschewiken Emil’jan Jaroslavskij während der Stalinzeit, wie dem Funktionär des Regimes seine eigenen Erfahrungen als „rauschhaft“ erschienen. Die Auftritte auf Veranstaltungen, der zunehmende Realitätsverlust des Parteiintellektuellen, seine manische Schreibwut (bis zu 70 Seiten lange Redemanuskripte), seine paranoide Stimmungslage verweisen auf eine Diktatur, die ganz bestimmte Rauschmetaphern – wie etwa bei der Beschreibung des stachanowistischen Heldentums - produzierte. Emil’jan Jaroslavskij, der durch seine Mitarbeit am „Kurzen Lehrgang“ der Geschichte der KPdSU– an der schriftlichen Kanonisierung des Stalinismus teilhatte, scheint diese Metaphern auch in sein Tagebuch übernommen zu haben. Es wurde jedoch in der Diskussion kritisch angemerkt, daß der auch zeitgenössisch benutzte Begriff „Enthusiasmus“ die Stimmungslage Emil’jan Jaroslavskijs, wie auch die Propagandametapher besser beschreiben könnte als eine Übersetzung in eine Terminologie des „Rausches“.
Als geistige Brücke zwischen den zwei ersten Panels und den bisher genannten Beiträgen ist Friedrich Nietzsche zu nennen, allerdings in einer verkürzten, auf politische Notwendigkeiten anwendbar gemachten Form: als eine wichtige, vor allem von Maxim Gorki abgeschöpfte Quelle stalinistischen Übermenschentums und als unfreiwilliger Stichwortgeber für radikale völkische Denker.15 Seine Kritik einer im Niedergang begriffenen Kultur, einer modernen Entfremdung von der Natur verband er mit der Forderung nach einer vitalistischen, dionysischen, übermenschlichen Bewältigung der Moderne. Aus dieser Haltung heraus scheint das Rauschhafte zum Merkmal für Lebensnähe, Echtheit und wahre Menschlichkeit zu werden, als Möglichkeit der notwendigen Rebellion, der Überwindung unerträglicher Zustände. Die Vordenker totalitärer Systeme konnten nur unter Ausschaltung des rebellischen Moments Nietzscheanische Gedanken für ihre diktatorischen Vorstellungen mißbrauchen. „Rausch“ verlor daher bei ihnen seinen dionysischen Charakter. Es wäre in diesem Zusammenhang interessant danach zu fragen, inwiefern „Rausch“ auch als therapeutischer Ausweg aus dem neurasthenischen Leiden, von dem besonders männliche Eliten im Europa vor dem Ersten Weltkrieg befallen waren, betrachtet werden kann.16 Darauf weist auch die Konjunktur von „Rausch“ in den Buchtiteln ganz bestimmter Genres hin. Besonders im Zusammenhang mit der Jugendbewegung, mit neoromantischen Schriften, dann aber auch als Umschreibung von Erotik und von extremer Gewalterfahrung trifft man zwischen etwa 1900 und 1950 auf die Titulatur „Rausch“.17

V. Gewalt und Rausch
Sowohl in der faschistischen Bewegung Italiens als auch bei den Nationalsozialisten dienten kollektiv verübte Gewalttaten dem propagandistischen Appell nach außen und der Gruppenbindung nach innen.18 Militarisierte Männlichkeitsvorstellungen, Vergemeinschaftungsrituale, ein charismatischer Führerkult und eine gewaltverherrlichende Propaganda wirkten dabei zusammen und ließen Gewalt und Krieg als „Großen Rausch“ erscheinen.19 Um den Zusammenhang von Gewalt und Rausch allgemeiner zu erfassen, konzentrierte sich die Tagung zunächst auf den „Blutrausch“ in einem anderen Kontext als den der modernen Diktatur. Bei den grausamen Massakern, die sich 1994 in Rwanda ereigneten, initiierte eine bestimmte Form der Propaganda vor dem Hintergrund spezifischer kultureller und sozialer Bedingungen einen beispiellosen Blutrausch, einen „Bewußtseinszustand, der mit der exzeßhaften Ausübung von Gewalt einhergeht“, wie Karen Krüger (Universität Bielefeld) in ihrem Konferenzbeitrag zu Rwanda schrieb. Gewalt wird zum Sinn der Handlung selbst, zum Selbstzweck. Zur Wirkung kommt der Blutrausch, wenn ein inszeniertes oder tatsächliches Bedrohungsszenario (man denke an die Bartholomäusnacht!), in dessen Mittelpunkt ein scheinbar furchtbarer „Feind“ steht, massenhaft geglaubt wird und die Bluttat als letzte Aussicht vor dem drohenden Untergang erscheint. Während des Massenmords wird die kollektive, in einer Gewalteskalation gipfelnde Tat einerseits als Rausch, als Enthemmung und totales Machtgefühl im Angesicht der Hilflosigkeit der Opfer erlebt, andererseits als Situation einer Enthebung aus dem Alltag erfahren, in der sich Schuldgefühle nicht einstellen wollen. Hierzu trägt eine besondere Körpererfahrung, eine Steigerung von Körperlichkeit bei. Rwanda war keine moderne und schon gar keine totalitäre Diktatur. Das Fallbeispiel diente der Tagung eher als Korrektiv, um nicht vorschnell einen kausalen Nexus zwischen Gewalt und Rausch in modernen diktatorischen Regimen herzustellen. Über Gewaltexzesse in einem solchen Regime berichtete der Medizinhistoriker Peter Steinkamp (Universität Freiburg/ Universität Heidelberg) in seinem Beitrag zum Alkoholmißbrauch in der Wehrmacht während des Krieges in Rußland 1941. Die rassistische Diktatur, die Alkohol zur Belohnung für bestimmte soldatische Leistungen ausgab, ihre Truppen mit Rauschzuständen zufriedenzustellen versuchte, kriminalisierte dagegen einzelne Fälle von Alkoholismus als „Degeneration“, was bis zur Sterilisation und Vernichtung der Betroffenen führen konnte. Der totalitäre Staat zog eine schmale Linie zwischen gefördertem, erlaubtem und mit dem Tode bestraftem Rausch. Wie Todd Weir (Columbia University, New York) in seinem Referat zur Inszenierung des Klassenkampfes in der frühen DDR betonte, scheint bei den Deutschen nach 1945 der Bedarf an politisch motivierten Bluträuschen zunächst gedeckt gewesen zu sein. Zumal es sich um einen völlig künstlichen, aufgrund willkürlicher Festsetzungen („Kulaken“ als Bauern mit über 20 ha Besitz) ausgerufenen „Klassenkampf“ handelte. Nach Todd Weir scheint aber das kommunikative „Rauschen“ ein Merkmal des Stalinismus gewesen zu sein. Wie in der Sowjetunion führte die vom Staat angeordnete revolutionäre Beschleunigung der sozialen und ökonomischen Strukturen zu einer „Selbstberauschung“ des Staates und seiner Funktionäre (wie schon bei Emil’jan Jaroslawskij), in der die leitenden Stellen die Chaotisierung der Situation als echten revolutionären „Rausch“ mißverstanden, bevor sie am 17. Juni 1953 von den „Werktätigen“ auf dieses Mißverständnis hingewiesen wurden. Doch das System konnte auch diese Kommunikationsstörung als „konterrevolutionäre“, und damit: außengesteuerte Handlung (miß)deuten und nach einer kurzen Irritation zu seiner, wenn auch leicht modifizierten Selbstinszenierung zurückkehren. Selbst im Fall der frühen DDR, in der es anders als in Rwanda oder im Vernichtungskrieg nicht zu tatsächlichen Gewalträuschen kam, scheint „Rausch“ zumindest als Metapher brauchbar zu sein, mit der sich Systemstörungen und ihre Mechanismen beschreiben lassen. In seinem Kommentar zeigte sich Jörg Baberowski (Humboldt-Universität, Berlin) sehr skeptisch, was die Anwendung des Begriffes Rausch auf den inszenierten Klassenkampf in der DDR bzw. die Trunksucht in der Wehrmacht betrifft. Er betonte, daß Rauschzustände sich ausschließlich auf Menschen, auf Personen, nicht auf Institutionen beziehen. In Karen Krügers Beitrag über den Blutrausch in Rwanda hingegen erkannte Jörg Baberowski ein signifikantes Beispiel für eine von der Geschichtswissenschaft bisher weitgehend vernachlässigte Gewalt-, Körper- und Bewußtseinsgeschichte. Gewalt wird beim Blutrausch „zu einer Struktur, über deren Wirkung die soziale Verankerung und kulturelle Verwurzelung des Lebens nichts aussagt“, sie verändert das Bewußtsein und der Täter fühlt sich den Zwängen der Kultur enthoben. Moderne Diktaturen können aus dieser Perspektive als „Regime der Ermöglichung“ aufgefaßt werden, welche die gesellschaftlichen Bindungen und damit die zivilisatorischen Schranken der Gewalt zerstören.

VI. Fest, Masse, Alkohol und Rausch
Offizielle Massenfeste waren in Diktaturen eine Zurschaustellung kollektiver rauschhafter Verzückung.20 Die dem Führer entgegenstreckten Hände der fanatischen Zuhörer und Zuhörerinnen und die verklärten Blicke der Komsomolzen angesichts des Parteisekretärs21 sind Repräsentationen einer ekstatischen Emotionalität bei der festlichen Begegnung von Volk und Führer. Angesichts des Mangels an anderen Legitimationsquellen war die Demonstration einer begeisterten, kollektiv-rauschhaften „Volksgemeinschaft“ ein besonders wichtiges Medium der Darstellung legitimer Herrschaft.22 Zugleich war eine kollektive, im Fest evozierte gesteigerte Emotionalität auf Gruppengefühl hin angelegt. Neuere historisch-psychologische Forschungen legen nahe, daß gerade der Gleichschritt der Parade ein starkes Gefühl der Verbundenheit des Individuums mit dem Kollektiv zu erzeugen vermag.23 Christoph Kühberger (Universität Salzburg) deutete die Feste der Nationalsozialisten in diesem Sinne als sexualisierten Rausch. Sie waren die Veranstaltungen, auf denen öffentlich die „sexualisierte Masse“ in ihrer Bindung an den Führer auftrat, sei es in Form der entzückten Frauen oder der männlichen Schwärmerei für das heldenhafte Vorbild, zum Teil auch für dessen Körper. Andererseits stellten die Feste aber auch den Zeit-Raum für die Inszenierung der Männlichkeit mit dem „erotischem Beigeschmack“ der halbnackten marschierenden Körper. Im Fest ereignete sich eine kollektive Emotionalisierung und Affektaufruhr, die sich für politische Zwecke instrumentalisieren ließ. In der Außeralltäglichkeit der Festveranstaltung entlud sich rauschhaft eine zum Teil der Festchoreographie eingeschriebene (wie zum Beispiel durch langes Warten verursachte) emotionale Aufstauung und begründete die Anziehungskraft der als neu empfundenen und miterlebten Politik der totalitären Diktaturen. In eine ähnliche Richtung wirkten gleichfalls die kollektiven Trinkgelage, die stärker im Nationalsozialismus als in der Sowjetunion von den offiziellen Festplanern in das Festgeschehen integriert wurden.24 Alkoholkonsum zum Festanlaß konnte sich aber auch als Form einer rauschhaften Gegenkultur manifestieren. Matthias Braun (Universität Leipzig) machte dies am Beispiele der verschiedenen konkurrierenden Festkulturen in der Sowjetunion der zwanziger und dreißiger Jahre deutlich. Gemeinschaftliche Besäufnisse waren ein integraler Bestandteil bäuerlicher und kirchlicher Feste auch schon vor der Revolution gewesen. In der Sowjetunion wandelten sich diese Praktiken in der kulturrevolutionären Optik des Regimes in einen Ausdruck bäuerlichen Widerstandes. Das sowjetische Regime strebte – durchaus parallel zum Nationalsozialismus und zum italienischen Faschismus - an, alle konkurrierenden Feierlichkeiten religiöser oder traditioneller Provenienz zu behindern bzw. zu verbieten oder zu usurpieren. In ihrem totalitären Anspruch versuchten die Diktaturen, das Recht auf Alkohol- und Festrausch zu monopolisieren.25 In der Sowjetunion wurde damit aus dem traditionellen Festrausch in der partei-staatlichen Fremdzuschreibung eine Art Gegenrausch, den das Regime einzuschränken versuchte. Matthias Braun stellte in seinem Beitrag allerdings dar, daß eine Einschränkung hier nur sehr bedingt gelang, da letztendlich die traditionelle Festpraxis des kollektiven Alkoholrausches in den neuen sowjetischen Festen fortbestand und damit auch im sowjetischen Festkalender der dreißiger Jahre eine vorrevolutionäre Rauschdimension fortgeschrieben wurde. In den späten siebziger und achtziger Jahren der Sowjetunion wurde massenhafter Alkoholrausch dann zur allgegenwärtigen Begleiterscheinung von Festen, auch hier als Praxis „von unten“, die durch die staatliche Planung nicht autorisiert war (wenngleich selbst höchste Stellen eine solche Festkultur pflegten). Dabei zeigen sich die problematischen Implikationen, die ein im Fest evozierter Massen- und Alkoholrausch für die diktatorischen Regime mit sich brachte. Aus offiziellen Festen konnten potentiell „gefährliche Feste“ werden, da sich hier eine kritische Masse versammelte, die einen Festrausch in nicht mehr steuerbarer Weise ausleben konnte. Die Weltfestspiele der Jugend und Studenten in der DDR 1973 sind ein Beispiel für eine jede Regimeintention überschreitende rauschhafte Festgemeinschaft und für Erfahrungen neuer Freiheiten. Massenhysterien konnten, wie an Stalins Todestag, zu ernster Bedrohung der öffentlichen Ordnung führen. Diktaturen versuchten dementsprechend, Festräusche zu kontrollieren und zu disziplinieren. Im Franco-Spanien unterlagen so selbst die kirchlichen Osterprozessionen streng geordneten Regeln und dort, wo traditionelle Feste rauschhafte Züge trugen, wurden sie verboten. Carlos Martinez (Humboldt Universität, Berlin) schilderte Francos Regime als eine weitgehend rauschfeindliche und –freie katholische Tugenddiktatur, die alle Ekstase aus dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen suchte und „Ruhe“ als höchsten Wert stilisierte. In einer Welt zwischen Kreuz und Kaserne blieb kein Platz für rauschende Feste und andere Formen der Entgrenzung. Als ein Refugium für massenhafte Begeisterung deutete sich hier der Bereich des Sportes mit seinen Stierkampfarenen und Fußballstadien an. Der Sport konnte eine so zentrale Rolle bei der Emotionalisierung der Massen einnehmen, da er die Erlebnisdimension des Außeralltäglichen in einer ansonsten rauschlosen Gegenwart monopolisierte. Bei der Organisation von Massenfesten zeigt sich damit die Ambivalenz, die kollektive Rauschzustände für die diktatorischen Regime hatten. Zum einen waren die Herrschenden ständig bemüht, die dysfunktionalen und systemtranszendierenden oder gar -destabilisierenden Dimensionen, die solche Fest- und Massenräusche potentiell beinhalteten, einzugrenzen. Zum anderen versuchten sie, Rauschzustände im Fest zu evozieren, zu steuern und zur Stabilisierung des Machtgefüges zu kolonisieren. Das Medium Massenfest ermöglichte dabei eine Rauschinduzierung in besonderem Maße, da es der Erschaffung des Außeralltäglichen, dem „Moratorium des Alltags“26 diente. Rauschhaftes Fest und festlicher Rausch wirkten sich gegenseitig verstärkend und bedeuteten gleichermaßen ein „Heraus-Treten“ aus dem Alltag und damit eine Form der Entgrenzung. Dennoch blieb dies eine begrenzte Entgrenzung, die sich auf den Festtag und mit Nachwirkungen auf den Kater post festum erstreckte. Das Fest bot sich – Christoph Kühberger deutete das in seinem Beitrag an - als Zeitraum einer Entgrenzung für die Diktaturen gerade auch deshalb an, da sich hier die althergebrachte kulturelle Praxis eines zeitlich befristeten Heraustretens aus der Gegenwart und seinen Zwängen usurpieren ließ. Auch wenn die Feste der Diktaturen in ihrer Organisiertheit und Intoleranz gegenüber allen Verletzungen ihrer eigenen Kernsymbolik nichts mit dem Bachtinschen Karneval und seiner befristeten Umkehrung der Welt zu tun hatten, sie reproduzierten doch das traditionelle Muster der Transzendierung von Alltag im kurzen Augenblick des Festrausches. Gerade das Wissen um die Begrenztheit eines solchen Zustandes der Alltagsvergessenheit, mag die Bereitschaft, sich berauschen zu lassen, mitgeprägt haben. Rausch und Fest werden somit als aufeinander bezogene, limitierte Ausnahmezustände in Diktaturen sichtbar.

VII. Rausch und Musik
Die musikalische Feiergestaltung beim Festritual zielte, wie die Musikwissenschaftlerin Mirjam Gericke (Freie Universität Berlin) es in ihrem Beitrag formulierte, auf die „Transzendenz im tönenden Gleichschritt“, auf ein Aus-Sich-Heraustreten im Kollektiv.27 Vor allem Marschmusik wirkte unmittelbar körperlich auf die Festteilnehmer und war insofern ein herausragendes Instrument der emotionalen Manipulation. Schon Deutungsansätze, die die modernen Diktaturen des 20. Jahrhunderts als „politische Religionen“ verstehen, haben auf die liturgische Funktion von Fest und Festmusik verwiesen.28 Festmusik war auf kollektive übersteigerte Emotionalität angelegt und sollte insofern ein gemeinsames rauschhaftes Erlebnis evozieren.29 Sie synchronisierte vor allem den gemeinsamen Fokus der Feiergemeinde und erschuf somit einen geteilten Klangraum, dem sich zu entziehen schwierig blieb, da sich „die Ohren nicht verschließen lassen.“ Mirjam Gericke sprach weiterhin die Nachhaltigkeit eines solchen durch Musik mitinduzierten Rausches in der Gemeinschaft an. Mit dem späteren Hören der gleichen Musik sei eine gewisse Abrufbarkeit des Rauschzustandes auch ex post möglich. Dennoch sind, so Mirjam Gericke, die „Schwachstellen“ der Gemeinschaft im „tönenden Gleichschritt“ im Blick zu behalten: Der Mangel an Entspannung, an Ruhe und Trost und das Ausbleiben jeglicher Konfliktlösung bewirkten letztendlich ein Scheitern der nationalsozialistischen Konzeption von Feiern und Musik im Dienste der Propaganda. Aber auch außerhalb des Festraumes war die Musik in allen Diktaturen ein äußerst präsentes Medium. Vor allem in der Jugendbewegung war öffentliches gemeinsames Singen ein zentrales Mittel der Gemeinschaftsbildung. Das auf Euphorie und Emotionen hin angelegte Liedgut der Faschisten, Komsomolzen und Hitlerjungen sollte den Gruppenzusammenhang festigen und zu ungebremsten Tatendrang und rauschhaften Enthusiasmus und später auch zum Märtyrertum animieren.30 Die Diktaturen versuchten hier konsequent, neues Liedgut zu schaffen oder altes nutzbar zu machen. Neue Klangformen wie die sowjetischen Liedsymphonien inkorporierten in sich einen musikalisch emphatischen Ansatz, in dem sie Trauermarsch und Jubelfinale zur Katalyse kollektiver Rauschzustände einsetzten.31 Michael John (Ruhr-Universität, Bochum) bezeichnete in seinem Beitrag die Liedsymphonie als Klangekstase, die aber letztendlich ihre propagandistische Wirkung verfehlte, da den Rezipienten höchstens das pure Genießen des reinen Klanges, nicht die logische musikalische Grundstruktur der Symphonie zu vermitteln war. Dabei war ein „Sich-Berauschen“ am Klangerlebnis durchaus möglich, wenngleich dies nicht der Intention der Komponisten und Propagandisten entsprach. In beiden Beiträgen wurde deutlich, daß selbst ein so unmittelbares Medium der Gefühlserregung wie die Musik kein zuverlässiges, leicht zu kontrollierendes Instrument der Propaganda ist. Auch in Diktaturen schuf Musik Freiräume für Rauschzustände, die schwer zu reglementieren waren. Dies gilt schon für das „Zeitalter der Tyranneien“32, die Periode der totalitären Diktaturen. Später, in der sowjetischen Nachkriegsgeschichte, schufen sich dann vor allem Jugendliche mit dem Import von „Beatmusik“ Rückzugsgebiete, in denen sie einen eskapistischen Musikrausch ausleben konnten. Dementsprechend waren solche staatsfernen Rauschreservoirs von Seiten des Regimes behindert und verfolgt. Musik- und damit einhergehend Alkoholrausch wurden in der Spätphase der sowjetischen Systeme dennoch zu gesellschaftlichen Praktiken, die sich einer staatlich geplanten „Transzendenz im tönenden Gleichschritt“ entzogen. Auch dies deutet in die Richtung der von Alexa Geisthövel (Universität Bielefeld) in ihrem Kommentar betonten relativen Autonomie der Musikrezipienten. Von einer eindeutigen steuerbaren Wirkung der Musik auf die Zuhörer geht die heutige Forschung nicht mehr aus. Dennoch ist der Stellenwert von Musik in modernen Diktaturen nicht zu unterschätzen, da sich beim kollektiven Musikerlebnis eines der wenigen Momente der „Ko-Präsenz“ einstellt, in dem eine Gemeinschaft vereint in Zeit und Raum zusammenkommt. Solche punktuell geschehenden Gemeinschaftserlebnisse stabilisieren einen gemeinsamen Kommunikationsrahmen. In dieser Perspektive ist es auch weniger wichtig, welche Musikinhalte bei den Zuhörern ein rauschhaftes Klangerlebnis auslösen, als daß dieses Ereignis gemeinsam erfahren wird.

VIII. Abschlußdiskussion
Jochen Hellbeck (Universität Gießen) hinterfragte in seinem Abschlußkommentar die Erklärungskraft des Begriffes „Rausch“ vor allem mit Blick auf die stalinistische Diktatur und blieb diesbezüglich in seinem Gesamturteil kritisch. Nicht zufällig fehle in der zeitgenössischen russischen Terminologie der „Rausch“ als positiv konnotierte individuelle oder kollektive Erfahrung. Der Begriff jener Zeit war hier viel eher der des „Enthusiasmus“, der stärker als „Rausch“ eine Zielgerichtetheit transportiert. Grenzüberschreitungen verschiedenster Art waren im Fall des offiziellen Diskurses in der Sowjetunion durch den Antrieb des Arbeitens an der größeren Sache motiviert, sei es in Form der „Arbeit am Selbst“ eines stalinistischen Subjekts oder der im stachanowistischen Enthusiasmus erbrachten Produktionsrekorde. In der abschließenden Diskussion kristallisierte sich als ein möglicher gemeinsamer Nenner der nationalsozialistischen und stalinistischen Diktatur der Versuch heraus, zielgerichtete gesteigerte Emotionalität zu evozieren. Hier offenbarte sich eine Spezifik von Rauschzuständen in modernen Diktaturen: Ob in Form des „Rausches“ oder des „Enthusiasmus“, individuelle und kollektive emotionale Hochgefühle und ekstatische Affekte sollten sich nach der Maßgabe der Regime mit dem politischen System, seinen Zielen und Führern verknüpfen. Die Diktaturen zielten auf die affektgeladene Bindung der Individuen an das jeweilige Regime, sie strebten eine Emotionalisierung von Politik und Herrschaft an, die selbst wiederum zielgerichtet war: Ekstase, Enthusiasmus, Heldentum, Todesmut und andere Zustände rauschhafter Verzückung markieren ein Spektrum an Emotionalität, das sich an den Zielsetzungen des politischen Systems orientieren sollte. Die Großen Ziele: die Großbaustellen oder der Große Krieg wurden in einer Sprache der ge- und übersteigerten Emotionalität vermittelt. Mehr noch: Diese Ziele forderten die Zustände der rauschhaften Verzückung geradezu ein, um der einzigartigen, außergeschichtlichen Größe der Aufbau- und/oder Destruktionsprojekte gerecht zu werden. ‚Himmelstürmende’ Projekte bedurften der rauschhaften Begeisterung, um sie überhaupt stürmisch erscheinen zu lassen. Es bestand ein Zwang zur „Inszenierung des Rausches“ - eine Formulierung von Todd Weir -, um die einzigartige Dynamik der jeweiligen Regime manifest zu machen. Denn in der Selbstdarstellung der Diktaturen machte die emotionalisierte Masse gerade das eigentliche Wesen ihrer Herrschaft aus. Hier läßt sich die Relevanz des Rausches für Diktaturen, unabhängig von der in der Diskussion angesprochenen, schwierigen Frage der Rezeption, also der tatsächlich erreichten Berauschung der Massen, festmachen. In ihrer öffentlichen Rede und Ikonographie generierten die totalitären Diktaturen das Selbstbild des permanenten, rauschhaften Ansturmes. Sie schufen damit einen kommunikativen Referenzrahmen, in den sich die Subjekte einschreiben mußten, wollten sie am gesellschaftlichen Leben in irgendeiner Weise teilhaben. Das „Aus-Sich-Heraustreten“ war der adäquate Kommunikationsmodus, das exaltierte Berauschtsein die wesentliche Ausdrucksform, in der man sich öffentlich artikulieren konnte und mußte. In einer solchen Perspektive stellt „Rausch“ eine kommunikative Figur von zentraler Bedeutung für die totalitären Regime.

Rausch erweist sich als ebenso fester Bestandteil moderner Diktaturen wie als ambivalentes Phänomen. Die diktatorischen Regime versuchten aktiv, rauschhafte Zustände der Transzendenz und einer verstärkten Emotionalität zu erzeugen. Sie waren dabei jedoch immer bemüht, diese Formen gesteigerten Affekts zu kanalisieren und in nutzbare Bahnen zu lenken. Rausch als „staatliche Veranstaltung“ war insofern ein geplantes Unternehmen mit strikten Grenzziehungen und festgelegten Zielen. Kollektive Rauschzustände erwiesen sich allerdings als problematisches Instrumentarium der offiziellen Propagandisten. Rauschhafte Emotionalität widerspricht in ihrem irrationalen Grundcharakter einer planvollen Umsetzung und kontrollierten Nutzbarmachung; Rauschzustände neigen dazu, fest eingegrenzte Räume zu überschreiten und unintendierte Folgewirkungen zu haben. Vor allem die Beendigung einer Rauschphase bedeutete dabei eine prekäre Grenzziehung diktatorischer Regime. Nichtautorisierte Fest-, Alkohol- und Musikräusche können darüber hinaus Fluchtpunkte von Eskapismus und kollektivem Entzug - aus dem „tönenden Gleichschritt“ - bilden. Rauschzustände blieben, aller Versuche der Regime zum Trotz, diese zu usurpieren und zu kolonisieren, ein ambivalentes Phänomen in Diktaturen. Die Konferenz hat interdisziplinär das partei-staatliche Projekt einer kontrollierten Rauschevokation, seine systembedingte Spezifik und seine ambivalenten Implikationen, aber auch eine durchaus eigenwillige gesellschaftliche Rauschpraxis in Diktaturen diskutiert. Die Seite der gesteigerten Emotionalität und rauschhaften Irrationalität von Diktaturen stand dabei im Mittelpunkt des Interesses. Es scheint im Rückblick auf die Tagung, daß mit dem Begriff „Rausch“ emotionale und psychologische Voraussetzungen moderner Diktaturen schärfer in den Blick genommen werden konnten. Die Tagung markierte aber erst einen Anfang in der Debatte um den Zusammenhang von Rausch und Diktatur. Wichtige Dimensionen dieses Wechselverhältnis – wie der naturwissenschaftliche und psychologische Blick auf den Rausch, die Dimensionen des Alkoholkonsums, des Sports, der Jugendkultur und die Befragung der späteren Phase der „kommoden Diktaturen“ der siebziger und achtziger Jahre - sind bei der kurzen, zweitägigen Veranstaltung ausgeklammert geblieben oder zu kurz gekommen. Die Konferenzteilnehmer haben sich daher auf eine Fortsetzung des Projektes im Wintersemester 2003 verständigt.

1 „Der Lustzustand, den man Rausch nennt, ist exakt ein hohes Machtgefühl.“ Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. Bd. III. Hg. v. Schlechta, München 1955, S. 755. Damit beschreibt „Rausch“ einen extremen Zustand im Spektrum der Emotionen. Siehe dazu auch Lütke, Alf: Emotionen und Politik – zur Politik der Emotionen, in: SOWI, 3 (2001), S. 4-14.
2 Zu anderen Definitionsversuchen vgl. Holst, Gerhard: Der Weinstock und die Tränen des Mohns. Von der nüchternen Trunkenheit in den Rausch der Moderne, Würzburg 1999, S. 193-95; Legnaro, Aldo: Ansätze zu einer Soziologie des Rausches – zur Sozialgeschichte von Rausch und Ekstase in Europa, in: Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich. Hg. v. Gisela Völger, Ausstellungskatalog, Köln 1981, S. 52-63; Kiesel, Helmuth; Kluwe, Sandra: Jenseits von Eden. Eine Einführung in die Ideen- und Kulturgeschichte des Rauschs, in: Heidelberger Jahrbücher, 43 (1999), S. 1-25.
3 Vgl. etwa die Schrift eines der vehementesten Vertreter, des Direktors eines Instituts für Religionspolitologie: Bärsch, Claus-Ekkehard: Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 1998. Vgl. auch Ley, Michael und Schoeps, Julius (Hg.): Der Nationalsozialismus als politische Religion, Bodenheim 1997; Maier, Hans: Poltische Religionen: Die totalitären Regime und das Christentum, Freiburg 1995; Maier, Hans (Hg.): Totalitarismus und Politische Religionen: Konzepte des Diktaturvergleichs, 2 Bd., Paderborn 1996/7.
4 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 82001, S. 754 und Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig 192001.
5 Gentile, Emilio: Die Sakralisierung der Politik, in: Maier, Hans (Hg.): Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen, Frankfurt/Main 2000, S. 166-182; Gentile, Emilio: The Sacralization of Politics in Fascist Italy, Cambridge/Mass. 1996; vgl. auch Valli, Roberta Suzzi: Jugendfeiern im faschistischen Italien. Die Leva Fascista, in: Behrenbeck, Sabine; Nützenadel, Alexander (Hg.): Inszenierungen des Nationalstaats. Politische Feiern in Italien und Deutschland, Köln 2000, S. 113-126.
6 Behrenbeck, Sabine: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Vierow bei Greifswald 1996; Berezin, Mabel: Making the Fascist Self. The Political Culture of Interwar Italy, Ithaca 1997; Petrone, Karen: “Life has become more joyous, comrades“: Celebrations in the Time of Stalin, Bloomington 2000.
7 Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen, Stuttgart 191982; Lanz-Liebenfels, Jörg: Theozoologie oder Die Kunde von den Sodoms-Äfflingen und dem Götter-Elektron, Wien 1905.
8 Auf Körpergeschichte hin weitergeführt: Tanner, Jakob: Wie machen Menschen Erfahrungen? Zur Historizität und Semiotik des Körpers, in: Körper Macht Geschichte – Geschichte Macht Körper. Körpergeschichte als Sozialgeschichte. Hg. v. Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte, Gütersloh 1999, S. 16-34.
9 Baudelaire, Urheber des Wortes modernité, hat betont, daß der Mensch „ein Wilder bleibt“. Er verordnete dem modernen Künstler den Rausch. Zit. n. Miller, Max; Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnosen am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 21996, S. 13. Zur Spezifik des „Rauschs der Moderne“: Holst: Weinstock.
10 Lanz-Liebenfels: Theozoologie; Kubin, Alfred, Die andere Seite. Leipzig 1981. [erstm. 1909].
11 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.
12 Solche Expression emotionaler Verzückung und einem Rausch der Gefühle angesichts des Führers finden sich beispielsweise in Kornej Èukovskijs Tagebuch (Zitiert bei Irina Paperno: Beitrag zur Konferenz „Personenkulte im Stalinismus“, Gießen 23.-26.7.2002) oder manifestieren sich in den „stürmischen Ovationen“ der Parteiversammlungen.
13 Vgl. programmatische Texte wie Kataev, Valentin: Vremja vpered!, Moskau 1932 (Im Sturmschritt vorwärts, Berlin 1947); Ostrovskij, Nikolaj A.: Kak zakaljalas' stal', Moskau 1966 (Wie der Stahl gehärtet wurde, Leipzig 1981).
14 Vgl. das Tagebuch von Leonid Potemkin, in: Intimacy and Terror. Soviet Diaries of the 1930s. Hg. v. Garros, Véronique; Korenevskaya, Natalia; Lahusen, Thomas, New York 1995, S. 259-266; vgl. auch Schattenberg, Susanne: Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren, München 2002; S. 209-252.
15 Günter, Hans: Der Helden- und Feindmythos in der totalitären Kultur, Tübingen 1994.
16 Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität, München 2000.
17 Zwei Beispiele für viele: Erstens der in der Berliner Staatsbibliothek beschlagnahmten Band „Rausch und Tanz um Venus“ von Fritz Gitta ( Berlin 1930) (Romantrilogie „Paradies und Hölle“) und den Weltkriegsroman „Der große Rausch“ von Erich Knud Kern (Göttingen 1962), der den Untertitel trug: „Rußlandfeldzug 1941-45“.
18 Reichardt, Sven: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002.
19 Kern: Der Große Rausch.
20 Siehe Behrenbeck: Kult; Berezin: Fascist Self; Chatterjee, Choi: Celebrating Women: Gender, Festival Culture, and Bolshevik Ideology, 1910-1939, Pittsburgh, Pa. 2002; Falasca-Zamponi, Simonetta: Fascist Spectacle. The Aesthetics of Power in Mussolini’s Italy, Berkeley 1997; Geldern, James von: Bolshevik Festivals, 1917-1920, Berkeley 1993; Gibas, Monica; Gries, Rainer u.a. (Hg.): Wiedergeburten. Zur Geschichte der runden Jahrestage in der DDR, Leipzig 1999; Petrone, Karen: “Life has become more joyous, comrades“: Celebrations in the Time of Stalin, Bloomington 2000; Plaggenborg, Stefan: Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrußland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln 1996; Rolf, Malte: Sovetskij massovyj prazdnik v Voroneže i Central’no- Èernozemnoj oblasti Rossii, 1927-1932, Voronež 2000.
21 Vgl. das Gemälde „S. M. Kirov nimmt die Sportparade ab“ von A. N. Samochvalov aus dem Jahre 1935.
22 Münkler, Herfried: Das kollektive Gedächtnis der DDR, in: Vorsteher, Dieter (Hg.): Parteiauftrag: Ein neues Deutschland. Bilder, Rituale und Symbole der frühen DDR, München 1997, S. 458-468.
23 McNeill, W. H.: Keeping Together in Time. Dance and Drill in Human History, Cambridge, Mass. 1995.
24 Vgl. auch Reichardt: Faschistische Kampfbünde.
25 Zu den antichristlichen Festentwürfen im faschistischen Italien und nationalsozialistischen Deutschland vgl. Nützenadel, Alexander: Staats- und Parteifeiern im faschistischen Italien, in: Behrenbeck, Sabine und Nützenadel, Alexander (Hg.): Inszenierungen des Nationalstaats. Politische Feiern in Italien und Deutschland, Köln 2000, S. 127-148; Ross, Corey: Celebrating Christmas in the Third Reich and GDR: Political Instrumentalization and Cultural Continuity under the German Dictatorships, in: Friedrich, Karin (Hg.): Festive Culture in Germany and Europe from the Sixteenth to the Twentieth Century, Lewiston 2000, S. 323-342.
26 Marquard, Odo: Moratorium des Alltags – Eine kleine Philosophie des Festes, in: Haug, Walter und Warning, Walter (Hg): Das Fest, München 1989, S. 684-691.
27 Bubmann, Peter: Von Mystik bis Ekstase - religiöse Dimensionen der Musik, in: Musik und Kirche, 66 (1996), S. 130-138; Bubmann, Peter: Menschenfreundliche Musik. Politische, therapeutische und religiöse Aspekte des Musikerlebens, Gütersloh 1993.
28 Gentile: Sakralisierung; Maier, Hans: „Politische Religionen“. Möglichkeiten und Grenzen eines Begriffs, in: Maier, Hans und Schäfer, Michael (Hg.): Totalitarismus und Poltische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Bd. 2, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1997, S. 299-310; ebenso Maier, Hans: „Politische Religionen“. Ein Konzept des Diktaturvergleichs, in: Lübbe, Hermann (Hg.): Heilerwartung und Terror. Politische Religionen des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf: Patmos Verlag, 1995, S. 94-112; Vondung, Klaus: „Gläubigkeit“ im Nationalsozialismus, in: Maier, Hans und Schäfer, Michael (Hg.): Totalitarismus und Poltische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Bd. 2, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1997, S. 15-28.
29 Zur ekstatischen Dimension von Musik vgl. Kaden, Christian: Außer-Sich-Sein, Bei-Sich-Sein. Ekstase und Rationalität in der Geschichte der Musik, in: Neue Zeitschrift für Musik, 6 (1995), S. 4-12; Kolleritsch, Otto; Böhme, Gernot (Hg.): „Lass singen, Gesell, laß rauschen...“: zur Ästhetik und Anästhetik in der Musik, Wien 1997. Vgl. auch die Beiträge zu „Emotionen und Musik“ auf der Konferenz „Musik als Mittel politischer Identitätsstiftung im 20. Jahrhundert“, Schwerte, 11.-13.10.2002.
30 Valli: Jugendfeiern; Brüggemann, Karsten: Von Krieg zu Krieg, von Sieg zu Sieg. Motive des sowjetischen Mythos im Massenlied der 1930er Jahre. Einführung, Texte, Übersetzungen, Hamburg 2002; Èerednièenko, T.: Tipologija sovetskoj massovoj kul’tury, Moskau 1994 (Typologie der sowjetischen Massenkultur); Sponheuer, Bernd: Musik, Faschismus, Ideologie. Heuristische Überlegungen, in: Musikforschung, 46:3 (1993), S. 241-253.
31 Im Nationalsozialismus wurden die Wagner-Opern zu gleichen Zielen instrumentalisiert.
32 Aron, Raymond: Das Zeitalter der Tyranneien (Mai 1939), in: Stark, Joachim (Hg.): Raymond Aron: Über Deutschland und den Nationalsozialismus. Frühe politische Schriften 1930-1939, Opladen 1993, S. 186-208.


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