Der Umgang mit den Folgen von NS-Zeit und Krieg in Niedersachsen nach 1945

Der Umgang mit den Folgen von NS-Zeit und Krieg in Niedersachsen nach 1945

Organisatoren
Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.02.2007 - 17.02.2007
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Von
Wolfgang Brandes, Stadtarchiv Bad Fallingbostel

Gut 50 Teilnehmer konnten am 17. Februar bei der 17. Tagung des Arbeitskreises für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen im Hauptstaatsarchiv Hannover begrüßt werden. Das Arbeitstreffen war dem Thema „Der Umgang mit den Folgen von NS-Zeit und Krieg in Niedersachsen nach 1945“ gewidmet. 1

Detlef Schmiechen-Ackermann (Hannover/Lüneburg) eröffnete die Tagung mit einer „Einführung in das Thema“. Nach einer Beschäftigung mit Zäsuren und Periodisierungen der Zeitgeschichte, einem Blick auf die niedersächsische Forschungslandschaft und der Frage, ob Zeitgeschichte als Streitgeschichte aufzufassen sei, wurden die konkurrierenden Perspektiven auf die Geschichte der Bundesrepublik aufgezeigt. Durch den Rekurs auf Edgar Wolfrums 2006 unter dem Titel „Die geglückte Demokratie“ erschienene Geschichte der Bundesrepublik sollten systematische Einordnungsmöglichkeiten für die Vorträge eröffnet werden. Wolfrum benennt in der Einleitung seines Buches zehn verschiedene systematische Zugriffe:
- Nationalgeschichte
- Geschichte der internationalen Verflechtung
- Erfolgsgeschichte der Modernisierung und Demokratisierung
- Liberalisierungs- und Zivilisierungsgeschichte
- Belastungsgeschichte – „Restauration“ und Nachgeschichte des Dritten Reiches
- Ankunftsgeschichte
- Hegemoniegeschichte
- Niedergangsgeschichte
- Geschichte der Genese heutiger Probleme
- Normalisierungsgeschichte
Dieses vielfältige Angebotsspektrum möglicher Interpretationen der bundesdeutschen Geschichte regte dazu an, die folgenden empirischen Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und zu diskutieren.

Julie Boekhoff (Braunschweig/Jena) berichtete über die „Entnazifizierung in Niedersachsen“. Die britische Besatzungspolitik stand vor dem Dilemma, durch eine gründliche Säuberung einen Zusammenbruch von Wirtschaft und Verwaltung zu riskieren. Sie entschied sich deshalb für eine pragmatische Lösung. Nur Personen in verantwortlichen Positionen in Verwaltung, Wirtschaft und freien Berufen oder Bewerber auf solche Stellen mussten einen Fragebogen ausfüllen und konnten aufgrund dessen Auswertung entlassen bzw. nicht eingestellt werden. Im Jahr 1946 erschien im Januar eine alliierte Rechtsgrundlage für Entlassungen und im Oktober wurde das amerikanische Kategoriensystem eingeführt, mit dem die Betroffenen in fünf Kategorien mit abgestuften Sanktionen von Gefängnis über Entlassungen und Beschäftigungsbeschränkungen bis hin zu Geldstrafen belegt werden konnten. Zur Umsetzung der alliierten Vorgaben führten die Briten zudem ab März 1946 ein kompliziertes mehrstufiges System deutscher Ausschüsse ein.
Mit der Einführung der Kategorisierung begannen die Briten in Niedersachsen erst im Juni 1947. Die Kategorisierung war ein vom Entnazifizierungsverfahren getrennter Vorgang. Während die deutschen Ausschüsse bei der Entnazifizierung nur eine Empfehlung an die britischen Stellen geben durften, durften sie Einstufungen in die unteren Kategorien III bis V eigenverantwortlich vornehmen. Die beiden obersten Kategorien blieben den Briten vorbehalten. Personen, die in diese beiden Kategorien fielen, waren meist schon 1945 aufgrund von Listen verhaftet und in Internierungslager gebracht worden. Ende 1946 schufen die Briten für deren Aburteilung mit den Spruchgerichten eine besondere deutsche Gerichtsbarkeit, um die strafrechtliche Verfolgung von der politischen Säuberung zu trennen.
Im April 1947 beschlossen die Alliierten die Übergabe der Entnazifizierung an die Deutschen. Vorab forderten die Briten, dass eine gewählte Regierung gebildet und ihre Entnazifizierungspolitik durch ein Rahmengesetz in der Gesetzgebung der Länder verankert wurde. Doch von deutscher Seite wurden andere Anforderungen an eine gerechte Lösung gestellt. Nachdem die Debatte über Ziele und Wege der Entnazifizierung zu einem innerdeutschen Politikum geworden war, fand nur das Schleswig-Holsteiner Gesetz die britische Zustimmung, in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen musste die Entnazifizierung auf dem ministeriellen Verordnungsweg zu Ende geführt werden.

Klaus Schultze (Münster) sprach über „Nationalsozialismus und Erinnerungskultur in Wildeshausen (Oldenburg). Eine Fallstudie zur Karriere des Bürgermeisters Petermann (1897-1977)." Der Vortrag verfolgte die Nachkriegskarriere des nationalsozialistischen Bürgermeisters von Wildeshausen Hermann Petermann. Die Sanktionen der Nachkriegszeit – Internierung, Spruchgerichtsverurteilung und Entnazifizierung – führten auch in diesem Fallbeispiel dazu, dass sich NS-Täter, in ihrer Selbstwahrnehmung wie auch in den Augen Dritter, in Opfer verwandelten. Schon bald nach seiner Freilassung aus dem britischen Internierungslager nahm Petermann wieder führende Positionen in dem konservativen Milieu Wildeshausens ein, in dem er ungebrochen fest verwurzelt war. Die Verweigerung eines selbstkritischen Umgangs mit der eigenen Vergangenheit war in der Bevölkerung weit verbreitet und führte vielfach erneut zu Härten für überlebende Opfer des NS-Regimes. Sie war der Hintergrund dafür, dass Petermann Mitte der sechziger Jahre mit großer Zustimmung durch die Wähler seine kommunalpolitische Karriere fortsetzen konnte. Für die FDP wurde er Landrat und erneut Bürgermeister von Wildeshausen. Zeichen von Reue oder Einsichtigkeit blieb er schuldig, auf Kritik reagierte er beleidigt. Bis heute haben alteingesessene Bürger der Stadt ein überwiegend positives Bild von ihm, was eng mit einer apologetischen Selbstentlastung verbunden ist: „Petermann war in Ordnung – bei uns war alles nicht so schlimm." Hierin liegt auch die Erklärung für einen erstaunlichen Umstand: bald nach dem Tode Petermanns 1977 setzte ihm der Rat der Stadt ein Denkmal, indem er ihm eine Straße widmete, die bis heute seinen Namen trägt.

Michael Hirschfeld (Vechta) widmete sich „Katholischen Vertriebenen in Niedersachsen 1945-1965“. Die katholischen Vertriebenen in Niedersachsen gerieten 1954 durch einen „Spiegel"-Artikel in das Rampenlicht einer breiten Öffentlichkeit. Das kirchenkritische Hamburger Magazin warf darin der zur Vertriebenenbetreuung gegründeten „Ostpriesterhilfe" vor, die mehrheitlich protestantische Bevölkerung an der innerdeutschen Grenze durch Errichtung von „Glaubensburgen" missionieren zu wollen. In Wirklichkeit wollte die von dem niederländischen Pater Werenfried van Straaten geführte Organisation den zerstreut lebenden vertriebenen Katholiken mit der Kirche eine neue Heimat und einen Identifikationsraum geben. Dabei zeigte sich die „Ostpriesterhilfe" sehr einfallsreich, indem sie beispielsweise umgebaute Sattelschlepper als sog. Kapellenwagen einsetzte. Die Phantasie der Bischöfe von Hildesheim und Osnabrück sowie des Bischöflichen Offizials in Vechta reichte hingegen nicht so weit, sondern bezog sich im Wesentlichen auf eine Professionalisierung der karitativen Hilfe und der pastoralen Infrastruktur. Allerdings hatte die kirchliche Hierarchie auch damit zu tun, die Mentalitätsunterschiede zwischen den Einheimischen und den zumeist aus Schlesien stammenden vertriebenen Katholiken auszugleichen. Ziel der Bischöfe war es, angesichts der Diasporasituation, in der sich die Katholiken in Niedersachsen mit Ausnahme des Emslandes, Eichsfeldes und Südoldenburgs befanden, ein einheitliches katholisches Milieu zu schaffen. Daher standen die Zeichen stark auf Integration, ohne dass eine hinreichende Sensibilität für die pastoralen Anliegen der Vertriebenen entwickelt worden wäre.

Nadine Freund (Kassel) untersuchte das Verhältnis von „Weiblichkeit und Westintegration. Theanolte Bähnisch, die ‚Stimme der Frau’ und der Wiederaufbau Deutschlands im Kontext des Kalten Krieges“. Die studierte Juristin Theanolte Bähnisch (1899 als Dorothea Nolte in Oberschlesien geboren) war als Regierungspräsidentin Hannovers 1946-1959, als Herausgeberin der Zeitschrift „Stimme der Frau“ ab 1948 und in ihrer Funktion als Initiatorin des Deutschen Frauenringes (als Dachverband 1949 gegründet) nicht nur eine der zentralen Protagonistinnen im Wiederaufbau der bürgerlichen Frauenbewegung nach 1945, sondern auch eine bedeutende Figur in der Entwicklung der deutschen Nachkriegsgesellschaft insgesamt. Sie trug – unter Rückgriff auf Traditionen aus dem kulturprotestantischen Milieu des Kaiserreichs und der Frauen- und Erwachsenenbildungsbewegung der Weimarer Republik – ideell wie institutionell entscheidend dazu bei, den Weiblichkeitsbegriff in Westdeutschland als gesellschaftliche Kategorie mikro- wie makrosoziologisch in einer Art und Weise zu prägen, die mit der kommunistischen Idee und der Politik in der Sowjetunion und der DDR unvereinbar scheinen musste. Durch eine auf Integration zielende, auf humanistische Ideale rekurrierende Politik hatte Bähnisch als Ideengeberin, Multiplikatorin und Vermittlerin zwischen verschiedenen Interessengruppen maßgeblichen Anteil an der Implementierung eines Weiblichkeitsmodells westlicher Prägung – gesehen als Konterpart zur „Entseelung, Vermassung und Technisierung“ – in den antikommunistischen Grundkonsens der jungen Republik. Dies beschleunigte die kulturelle Anlehnung Westdeutschlands an die übrigen westeuropäischen Staaten und festigte seine politische wie militärische Einbindung in europäische und transatlantische Bündnisse. Die partei- und konfessionsübergreifende, jedoch ein klares Feindbild zeichnende Frauenbildungsarbeit Bähnischs in der Presse, in Vortragsreihen und Erwachsenenbildungs-Kursen fand organisatorische, finanzielle und ideelle Unterstützung nicht nur durch westdeutsche Politik- und Wirtschaftseliten, sondern vor allem auch durch die Britische Militärregierung. Bähnischs beruflicher Werdegang in der Verwaltung des sozialdemokratischen Preußen, ihre Vergangenheit als Widerstandsaktivistin im Nationalsozialismus sowie ihr Verhandlungsgeschick machten sie zu einer idealen Vermittlerin zwischen den Interessen der Westalliierten und denen der deutschen Bevölkerung.

Janina Fuge und Christoph Hilgert (Hamburg) berichteten abschließend über „Rundfunk und Region – Diskussion um die Gestaltung des Rundfunks in Nordwestdeutschland 1945-1955“. Sie lenkten den Blick auf die medien¬politischen Herausforderungen des ersten Jahrzehnts nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende des NS-Regimes. Die beiden Referenten betrachteten am Beispiel des Nordwest¬deutschen Rundfunks (NWDR) die Etablierung der Nachkriegsrund¬funk¬ordnung zwischen den Vorgaben der britischen Besatzungsmacht und deutschen Traditionen. Im Mittelpunkt des Vortrags stand die Bedeutung regionaler Interessen und regional verortbarer politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ansprüche für die weitere Ausgestaltung der Rundfunklandschaft in Norddeutschland nach 1945. So sah sich der NWDR – nicht nur im Falle des hier näher betrachteten Funkhauses Hannover und des Studios Oldenburgs – mit Forderungen nach angemessener Berücksichtigung von Regionen in den Aufsichtsgremien, beim Bau von Funkhäusern oder innerhalb des Programms konfrontiert. Diesen wurde aus Bestandsschutzerwägungen der Mehrländeranstalt NWDR zum Teil nachgegeben. Dabei entstand, so Fuge und Hilgert, ein Amalgam aus eher zentralistischen Strukturen nach dem Vorbild der British Broadcasting Corporation (BBC) und regionalen Bedürfnissen.

Die Vorträge und die Diskussion wiesen auf das in der frühen Bundesrepublik herrschende Spannungsverhältnis zwischen einer politisch einigermaßen gefestigten Demokratie und einer kulturell noch nicht liberal strukturierten Gesellschaft hin. Insofern stellt sich bezüglich der Perspektive der „geglückten Demokratie“ die Frage, wie dieser Prozess trotz der hochproblematischen 1950er-Jahre funktionieren konnte. Die Produktivität des Nachdenkens über dieses Spannungsverhältnis belegte die lebhafte wissenschaftliche Aussprache bei dieser Zusammenkunft.

Anmerkungen:
1 Die Dokumentation der Tagung erfolgt anhand der von den Referenten dankenswerterweise zur Verfügung gestellten Abstracts.


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