„Katholisches Milieu“ im Rheinland im 19. Jahrhundert. Kultur – Gesellschaft – Politik

„Katholisches Milieu“ im Rheinland im 19. Jahrhundert. Kultur – Gesellschaft – Politik

Organisatoren
Landschaftsverband Rheinland in Verbindung mit der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen und der Thomas-Morus-Akademie Bensberg
Ort
Aachen
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.11.2006 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Kerstin Theis, Landschaftsverband Rheinland

Die Frage nach der Realität und Rolle des so genannten "katholischen Milieus" im Rheinland, insbesondere seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, beschäftigte eine Fachtagung des Landschaftsverbandes Rheinland am 24. November 2006, die in Verbindung mit der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen und der Thomas-Morus-Akademie Bensberg in Aachen ausgerichtet wurde.

In seinem Einführungsvortrag widmete sich Michael Klöcker (Universität Köln) den theoretischen, methodischen und inhaltlichen Zugängen zum Themenfeld „katholisches Milieu“. Seit Mitte der 1980er-Jahre haben Milieustudien eine anhaltende Konjunktur und erleben eine breite Diskussion in der Forschung. Herausgearbeitet wurde dabei insbesondere die Verflechtung zwischen Katholizismus und Moderne und die gleichzeitige Abwehr der katholischen Kirche gegen moderne Strömungen. Die neuere historische Forschung zum „katholischen Milieu“ hat neben Fragen nach Erziehung und Bildung besonders die Milieu-Eliten, Pfarreien, die Partizipation der Laien sowie die Frage nach der Feminisierung der Religiosität und den Interaktionen zwischen verschiedenen Milieus im Fokus. Bei der Tagung wurde der Begriff des „katholischen Milieus“ entsprechend als Forschungsbegriff genutzt und als Sinnbild für Denk- und Verhaltensmuster verstanden, die für eine bestimmte Gruppe in einer bestimmten Zeit prägend waren und unter dem Stichwort „Mentalität“ zusammengefasst werden können. Das Rheinland gilt hierbei als ein Gebiet, in dem die Entwicklung des „katholischen Milieus“ besonders erfolgreich war, und als Nährboden für die erweiterte Beteiligung der Laien in politischen und sozialen Organisationen im 19. Jahrhundert. Gerade der Niederrhein wies eine relativ hohe Milieudichte auf. Forschungslücken sah Klöcker bei Fragen zu internationalen Beziehungen des „katholischen Milieus“ und vergleichenden Milieu-Studien in internationaler Perspektive.

Die katholischen Eliten im Aachener Bürgertum standen im Vordergrund des Vortrags von Wolfgang Cortjaens (Herzogenrath), der die Organisationsformen und Akteure vom ersten Bistum Aachen (1801-1821) bis zum Ende der Kulturkampfzeit genauer in den Blick nahm. Die religiösen Denkmäler sind hier sinnfälliger Ausdruck des „katholischen Milieus“ im Rheinland in der Zeit des Kulturkampfs. So forcierten die Aachener katholischen bürgerlichen Eliten gemeinsam mit der Stadtverwaltung und dem Aachener Klerus erfolgreich die Errichtung der „Mariensäule“ (1882-1887) auf dem Aachener Rehmplatz. Als erstes religiöses Denkmal der Stadt war es bewusst gegen Preußen in eine betont bürgerliche und repräsentative Sphäre platziert, um so christlich-katholische Leitbilder und christliches Sendungsbewusstsein zu vermitteln.

Auch im Bereich der Architektur hinterließ das „katholische Milieu“ seine Spuren, wie der Vortrag von Sybille Fraquelli (Köln) verdeutlichte. Ausgehend von ihrer noch unveröffentlichten Dissertation beschäftigte sie sich mit der Durchsetzung der Neugotik im katholischen Sakralbau des Rheinlands. In Köln waren die Anhänger der Neugotik als Baustil für neue Gebäude im 19. Jahrhundert heftiger Kritik ausgesetzt. Nicht die Bauten selbst, die vielfach als „pseudogotisch“ verschmäht wurden, sondern eine umfassende und gezielte Agitation seitens der katholischen Fachpresse, insbesondere das von Friedrich Baudri herausgegebene „Organ für christliche Kunst“, verhalfen diesem Baustil zur Durchsetzung als sakraler Baustil. Fraquelli sprach von einem regelrechten „neugotischen Klüngel“ seitens Bauherren, Architekten, Presse und Befürwortern im Rheinland, der die Kunstrichtung im Erzbistum Köln bis in die 1880er-Jahre hinein prägte. Bevölkerungswachstum und die zunehmende Enge in den Pfarrkirchen ließen Neubauten immer dringender erscheinen. In Köln wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Kirchen- und Profanbauten fast ein Monopol der neugotischen Stilarchitektur erreicht – mit Rückgriffen auf mittelalterliche, vorreformatorische Glaubensdarstellungen als Protest gegen das protestantische Preußen und Ausdruck katholischen Selbstbewusstseins. Dabei kann die Neugotik keineswegs als ein rein katholischer Baustil bezeichnet werden, findet sie sich doch beispielsweise auch in den Bauten anderer Konfessionen und Religionsgemeinschaften, wie etwa der Synagoge in der Köln Roonstraße, wieder.

Ernst Heinen (Köln) definierte Köln in der Zeit zwischen Restauration und Kulturkampf als eine Bastion des bürgerlichen Ultramontanismus, der im Laufe des 19. Jahrhunderts erfolgreich ein weit reichendes Netzwerk entwickelte. Bemerkenswerterweise hat die rheinische Landesgeschichte das Thema Kulturkampf bislang kaum behandelt. Aus dem Kulturkampf, in dem die Ultramontanen wieder eine lokale politische Front gebildet hatten, gingen sie gestärkt heraus. Trotz vergleichsweise geringer Mitgliederzahlen, Wahlniederlagen und staatlich-restriktiver Maßnahmen in den 1850er-Jahren zerbrach der Kölner Ultramontanismus keineswegs. In den ultramontanen Vereinen waren besonders das Bildungsbürgertum und alteingesessene Familien mit reichstädtischer Tradition vertreten, die gleichzeitig mehreren Vereinen vorstanden und sich politisch stark engagierten und untereinander vernetzten.

Joachim Oepen (Historisches Archiv des Erzbistums Köln) erläuterte die Binnenorganisation der katholischen Kirche am Beispiel der Kölner Neustadt. Binnen kürzester Zeit verdoppelte sich durch Stadterweiterung und Eingemeindungen die Stadtfläche und machte eine Reaktion der katholischen Kirche und die Schaffung einer neuen kirchlichen Binnenorganisation zwischen 1880 und 1920 notwendig. Die Kirchenbauten als Produkte des „katholischen Milieus“ sind Belege für das Engagement und die Vernetzungsfähigkeit der katholischen Milieu-Eliten und Laien im Rheinland. Neben dem Erwerb von geeigneten und günstigen Kirchenplätzen sowie der Gründung von neuen Pfarreien bereitete insbesondere die Finanzierung massive Probleme. Sofern nicht Mäzene und Förderer, wie etwa bei St. Paul der Kölner Schokoladenfabrikant Ludwig Stollwerck, aushalfen und einvernehmliche Lösungen mit den städtischen Behörden gefunden werden konnten, gelangten die Pfarreien schnell an ihre Kapazitätsgrenzen. Insgesamt vollzog sich die Neustadtgründung sehr erfolgreich. Es sollte allerdings gut 35 Jahre dauern, bis auch das Kirchenpfarrsystem hier vollständig etabliert war.

Der südrheinische Klerus zwischen der 1848er-Revolution und der Beendigung des Kulturkampfs stand im Zentrum des Vortrags von Helmut Rönz (Bonn). Eine entscheidende Bedeutung für das „katholische Milieu“ kommt den Klerikern als Seelsorger, Verwalter der Sakramente und Mittler der Lehre bzw. Priestern als Träger und Vermittler katholischen Selbstverständnisses zu. Ein wichtiger, bisher vernachlässigter Aspekt der Milieuforschung ist somit auch die Erforschung des Priestertums. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts veränderte sich die soziale Zusammensetzung des Klerus in erheblichem Umfang, wobei die Bischöfe entscheidende Impulse für diese Entwicklung gaben. Ausgehend von seiner kürzlich erschienenen Dissertation zum Trierer Diözesanklerus und anhand der Analyse biographischer Daten von etwa 5.000 Priestern wies Rönz die Dynamik der Kleriker nach, die erfolgreich Netzwerke auf den höheren Ebenen etablierten, welche sogar über die Lebenszeit der jeweiligen Bischöfe hinaus Bestand hatten.

Abschließend behandelte Peter Dohms (Meerbusch) das rheinische Wallfahrtswesen im 19. Jahrhundert und beleuchtete das Spannungsfeld zwischen Kirche und preußischem Staat. Trotz zahlreicher Versuche seitens des Staats die Wallfahrten im Rheinland zu reglementieren und zu unterbinden, bewiesen die Wallfahrer ein hohes Maß an Beharrungskraft. Das „katholische Milieu“ musste hier Verbote und Eingriffe seitens des Staats und der kirchlichen Obrigkeit erfahren. Paradoxerweise versuchte der Staat Missstände zu bekämpfen, die seine Maßnahmen überhaupt erst hervorgerufen hatten. Allen Vorwürfen zum Trotz, die Pilger würden dem Staat aufgrund von Verdienstausfällen wirtschaftlichen Schaden zufügen, nahmen jedes Jahr Hunderttausende an Wallfahrten teil. Bei der Heilig-Rock-Wallfahrt 1844 pilgerte sogar über eine halbe Million Menschen nach Trier, 1894 waren es über eine Million. Auf dem Höhepunkt der Konflikte zwischen Wallfahrern und dem preußischen Staat kam das Wallfahrtswesen 1876 zwar beispielsweise in Kevelaer fast zum Erliegen, trug jedoch keinen großen Schaden davon und erfuhr nach Ende des Kulturkampfs erneut einen enormen Aufschwung.

Die sieben Vorträge der Fachtagung vermittelten einen Einblick in die Vielschichtigkeit des „katholischen Milieus“ im Rheinland während des 19. Jahrhunderts, das keinesfalls eine homogene oder geschlossene, antipreußisch ausgerichtete Gruppierung gewesen ist, sondern aus sehr vielfältigen Strömungen, Trägern, Netzwerken und Strukturen bestand, die sich im Kontext der rheinischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts erfolgreich als vor allem von bürgerlichen Eliten geprägte „Subgesellschaft“ etablieren konnte.

Eine Fortsetzung fand die Tagung, mit Erweiterung der Perspektive auf das 20. Jahrhundert, in einer Veranstaltung am 20.04.2007. 1

Anmerkungen:
1 Der Tagungsbericht ist bei H-Soz-u-Kult unter folgendem Link einsehbar: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1571

Kontakt

Landschaftsverband Rheinland
Fachstelle für Regional- & Heimatgeschichte
Ottoplatz 2
50679 Köln

Tel. 0221 / 809-35 05
Fax 0221 / 809-33 73
E-Mail kerstin.theis@lvr.de

www.regionalgeschichte.lvr.de
Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts