Nomadische Existenzen. Vagabondage und Boheme in Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts

Nomadische Existenzen. Vagabondage und Boheme in Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Fritz-Hüser-Institut für deutsche und ausländische Arbeiterliteratur, Dortmund, in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftlichen Beirat des Fritz-Hüser-Instituts
Ort
Dortmund
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.05.2007 - 12.05.2007
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Von
Rüdiger Haude, RWTH Aachen

Wir leben in einer Epoche der – meist erzwungenen, zuweilen virtuos gehandhabten – Mobilität. Die von den Aposteln der neoliberalen Zurichtung der Welt den Menschen abgeforderte „Flexibilisierung“ hat vor allem eine topologische Dimension: Wir sollen nicht mehr ortsfest sein. Das Thema der „nomadischen“ Existenzform hat aber bereits in der Moderne eine bedeutende kulturprägende Kraft entfaltet. Mit einem Fokus auf die deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts widmete sich das zu besprechende Symposion dieser Vorgeschichte gegenwärtiger „Entwurzelung“. Anlass für die Tagung war die Erschließung des Nachlasses von Artur Streiter (1905-1946), der von dessen Tochter dem Fritz-Hüser-Institut überlassen worden war.

Der Schriftsteller und Künstler Streiter stellt, wie Walter Fähnders (Osnabrück) deutlich machte, ein gutes Beispiel für die „Wahlverwandtschaft“ zwischen nomadischen Existenzen und libertärem Denken dar. An den Existenzformen der Bohème einerseits und der Vagabondage andererseits faszinierte Streiter vor allem das antiherrschaftliche Moment, das ihn selbst in den 1920er-Jahren unter anderem zur Teilnahme an dem anarchosyndikalistischen Siedlungsprojekt „Rotes Luch“ und zu reger publizistischer Tätigkeit in der Zeitschrift „Syndikalist“ motivierte.

Die Verbindung von Herrschaftsablehnung und (selbstgewählter oder affirmativ gewendeter) Nicht-Sesshaftigkeit wurde in den Beiträgen des Symposions in unterschiedliche Richtungen entfaltet. Der Eröffnungsvortrag (Gerhard Bauer, Berlin) lieferte einen Streifzug durch die Literaturgeschichte im Hinblick auf die Thematik des Wanderns und der „Unbehaustheit“, die den wichtigen kulturgeschichtlichen Stellenwert des Themas plastisch machte. Man hätte sich hier eine etwas deutlichere typologische Unterscheidung verschiedener Formen der Mobilität gewünscht: Flucht und Zwangsexilierung, Eroberungszüge, auch Tourismus, haben jeweils eine eigene Bezugnahme auf einen konkreten Orientierungspunkt „Heimat“, der auch jeweils andere Positionierungen zum Herrschaftsthema nahelegt. Lediglich ein strenger gefasstes „Nomadentum“: als absichtliche bzw. selbstverständliche Existenzweise, negiert den Gedanken topologisch festgelegter „Heimat“ gänzlich und besitzt deswegen eine eigene Trumpfkarte gegenüber Herrschaftszumutungen: die fortwährende „Exit-option“. Deswegen sind auch die von Ethnologen beschriebenen nomadischen Gesellschaften (eine Anknüpfungsmöglichkeit, die von der Tagung nicht realisiert wurde), fast durchwegs „Regulierte Anarchien“ (Sigrist).

In der Weimarer Republik organisierten sich die „Landstreicher“ zu einer deutlich anarchistisch inspirierten Bewegung. Nicht nur Artur Streiter war hier aktiv, sondern vor allem auch der Anarchist Gregor Gog, Leiter der „Bruderschaft der Vagabunden“. Sein 1930 uraufgeführter Stummfilm „Vagabund“ wurde während der Mittagspause der Tagung gezeigt: ein etwas rührseliges Agitationsstück, das aber schön die Ambivalenz zwischen Repression und Entbehrung einerseits, (romantisierter) Selbstorganisation andererseits einfängt. Dem Symposion tat es gut, dass durch den Film der „multimediale“ Zugang zur Thematik gestärkt wurde. Er hatte sich bereits durch die Integration einer kleinen Ausstellung mit Exponaten aus dem Nachlass Artur Streiters wohltuend bemerkbar gemacht. Diese Ausstellung ist noch bis zum 15. Juni im Studio B der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, dem Tagungsort, zu besichtigen.

Im weiteren Vortragsprogramm spürte Tobias Lachmann (Dortmund) den nomadischen Figuren der Bohème und der Vagabondage in der Exilliteratur zur Zeit des Nationalsozialismus nach, am Beispiel von Klaus Manns Roman „Der Vulkan“. Walter Delabar (Berlin) zog Parallelen zum gegenwärtigen Trend zur „Prekarisierung“ und warnte vor einer Tendenz zur „Sozialromantik“ bei der Analyse von Phänomenen der Obdachlosigkeit. Gertrude Cepl-Kaufmann (Düsseldorf) entwarf, was man eine dialektische „topologische Typologie“ der Bohème nennen könnte: Als Orte der Selbststilisierung unterschied sie 1. die (genossenschaftliche) Siedlung, 2. das Café-Haus (mit den Varianten des „Clubs“ und des „Cabarets“), und 3. das Gefängnis (bzw. die Irrenanstalt). Dem stellte sie eine Typologie der „Entortung“ gegenüber, die aus den Topoi 1. der Landstraße, 2. der „europäisch-abendländischen Transferstrecke“ (ein „Netzwerk“-Gedanke), sowie 3. des Berges besteht. Für den letztgenannten Topos steht paradigmatisch der „Monte verità“ im Tessin. Anhand der Scharen von Prominenten, die an diesem Projekt im Laufe der Jahrzehnte partizipierten, konnte Cepl-Kaufmann auch die verschiedenen Spielarten des libertären Habitus von einem Eskapismus der Jahrhundertwende über den „existenziellen Anarchismus“ Hermann Hesses bis zu dem auf umfassende politische Umwälzung zielenden Ansatz Erich Mühsams demonstrieren.

Sehr anregend war schließlich auch der letzte Vortrag, in dem Ute Gerhard (Dortmund) das Ruhrgebiet als „nomadischen Ort“ betrachtete. Damit meinte sie nicht so sehr die Häufung „fanatischer Wanderlust“ in dieser Region, die Beobachtern im 20. Jahrhundert auffiel, sondern die Nicht-Eingrenzbarkeit der Region selbst. Weder lässt sich eindeutig definieren, wo die Grenzen des Ruhrgebiets eigentlich liegen, noch merkt man beim Reisen, wo eine Stadt aufhört und die nächste anfängt. Es gibt kein eindeutiges Zentrum dieser Agglomeration, und schließlich kann man tatsächlich von einer regelrechten „Wanderung“ der Ruhrgebietsstädte sprechen, die sich stets in jene Richtung fortentwickelten, in welche der Kohlenbergbau zog. Das explosionsartige Wachstum der Bevölkerung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sorgte dafür, dass alle staatlichen Regulierungsversuche unvollständig bleiben mussten; und Gerhard war in der abschließenden Diskussion der Meinung, dass daraus resultierende Traditionen der Selbstorganisation in den Nischen dieser Wucherung durchaus lohnten, auf konkret-utopische Anknüpfungsfähigkeit untersucht zu werden.

Denn eine Frage stellte sich am Ende dieser Veranstaltung ja: Wenn es eine Wahlverwandtschaft zwischen „nomadischen Existenzen“ und libertärer Politik gibt; und wenn heute Menschen massenhaft vom globalisierten Kapitalismus zum Nomadisieren gezwungen werden; steckt dann darin vielleicht auch eine wissenssoziologisch zu fassende Chance zur Plausibilisierung emanzipatorischer Politik? Ute Gerhard wies richtig darauf hin, dies hänge davon ab, ob es gelinge, andere, angemessene Vergesellschaftungsformen zu finden. Die Tagung hinterließ den Eindruck, dass es lohnte, hierbei früheren Generationen von Bohèmiens und Vagabunden über die Schulter zu schauen. Die Erfahrung der Entgrenzung, des Verlusts von Selbstverständlichkeiten, der Begegnung mit dem Anderen – Bedingungen der Möglichkeit utopischen Denkens – liegt hier bereits vielfältig verarbeitet vor. Die Aufgabe, diesen Fundus zu erschließen, ist mit dem Symposion noch nicht abgeschlossen; diejenige, diese Tradition fortzuschreiben, ist unabschließbar.


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