„Katholisches Milieu“ im Rheinland zwischen Kaiserreich und Zweitem Weltkrieg. Kultur – Gesellschaft - Politik

„Katholisches Milieu“ im Rheinland zwischen Kaiserreich und Zweitem Weltkrieg. Kultur – Gesellschaft - Politik

Organisatoren
Fachstelle für Regional- und Heimatgeschichte des Landschaftsverbandes Rheinland in Verbindung mit der Thomas-Morus-Akademie Bensberg
Ort
Köln
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.04.2007 - 20.04.2007
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Von
Kerstin Theis, Landschaftsverband Rheinland

„’Katholisches Milieu’ im Rheinland zwischen Kaiserreich und Zweitem Weltkrieg. Kultur – Gesellschaft – Politik“ lautete das Thema einer Tagung am 20. April 2007, die die Fachstelle für Regional- und Heimatgeschichte des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) gemeinsam mit der Thomas-Morus-Akademie Bensberg veranstaltete.

In Fortsetzung zu einer Tagung im November 2006 1, die sich mit dem „katholischen Milieu“ im Rheinland im 19. Jahrhundert beschäftigte, erweiterte sich die Perspektive nun auf den Zeitraum zwischen 1871 und Zweitem Weltkrieg. Fragen nach der Gestalt, Realität und Bedeutung des „katholischen Milieus“ auf der regionalen Ebene am Beispiel des Rheinlands im frühen 20. Jahrhundert standen dabei im Zentrum der Betrachtung. Gerade das nördliche Rheinland mit seinen vielfältigen Strömungen, Strukturen und Netzwerken gilt als eine Hauptregion des „katholischen Milieus“, ist zugleich aber vielfach mit Stereotypen, die sich in Begriffen wie „rheinisch-katholisch“ widerspiegeln, behaftet. Den in der Forschung viel diskutierten und uneinheitlichen Milieu-Begriff definierte die Tagung bewusst offen als Forschungsbegriff und stärker in Richtung einer konfessionell geprägten Mentalität.

In seiner knappen Einführung verwies Georg Mölich (Köln) auf die „weißen Flecken“ des Tagungsprogramms. So fehlte zum Beispiel ein Vortrag zur Frage nach Konrad Adenauers Prägung durch das „katholische Milieu“ im Rheinland, die aufgrund massiver Quellenprobleme inhaltlich noch nicht aufgearbeitet ist. Ebenso wenig war die Frage des Verhältnisses von Juden und „katholischem Milieu“ im Rheinland in der Weimarer Republik vertreten. Mölich nannte hier die 2005 erschienene Dissertation von Nicola Wenige.2

Michael Klöcker (Köln) widmete sich den rheinischen Einzel-Katholikentagen 1919/20 und ihrer Signalwirkung für den Katholizismus in der Moderne. Er sprach hierbei von einer „Janusköpfigkeit“ der Kirche zwischen Defensive und Akzeptanz: Einerseits bekämpfte die katholische Kirche die Moderne, andererseits zeugen gerade die Katholikentage von einer Modernisierung der religiösen Vereins- und Festkultur und einer erweiterten Partizipation der Laien. Nach der „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkriegs kamen die Katholikentage dem Bedürfnis nach Orientierungshilfen, Ermunterung und Stellungnahme nach. Gerade im Rheinland als einer Hauptregion des „katholischen Milieus“ und sozialer wie politischer Formierung waren die Katholikentage in der Lage, die Massen zu mobilisieren und zugleich den Führungsanspruch der katholischen Kirche öffentlichkeitswirksam zu propagieren und zu inszenieren. Als „Manifestation der patriotischen Milieuführung“ im Rheinland besaßen sie eine hohe Prägekraft für das Kirchenvolk und gingen einher mit einer örtlichen Erweiterung der Veranstaltungsorte und einer graduell erweiterten und schichtenübergreifenden Mitwirkung, insbesondere von Frauen und Arbeitern, die sich rege in den Organisationskomitees und Versammlungen engagierten. Einerseits beharrten die Kirchenspitzen auf ihren Monopolen und ihre hierarchischen Strukturen, andererseits betonten sie in ihren Reden, wie etwa Erzbischof Karl Joseph Schulte auf dem Katholikentag in Mönchengladbach 1920, die Geschlossenheit des „katholischen Milieus“. Klöcker plädierte dafür, das „katholische Milieu“ von seinem Glauben und seiner Einheit her zu sehen, zugleich aber den Blick auf die Spaltungen im Inneren zu lenken. Regionale Vergleichsstudien aus anderen Räumen zu Klöckers eigener systematischen Untersuchung der Katholikentage am Beispiel der Erzdiözese Köln seien dringend erforderlich.

Barbara Stambolis (Paderborn) interessierten die Wertorientierungen im rheinischen Katholizismus zwischen 1918 und 1945 am Beispiel der Begriffe „deutsch“, „reichisch“ und „abendländisch“, die die Wandlungen und Beharrungen des Katholizismus beschreiben. Klischees des katholischen Rheinlands, wie etwa seine Klöster- und Kirchenlandschaft, seine zahlreichen kirchlichen Feste und Wallfahrten, aber auch Konrad Adenauer als vermeintlich „rheinisch-katholisch“ geprägter Politiker und seine nach 1945 durchaus auf ein „rheinisches Erbe“ gestützte Politik, verdecken die Tatsache, dass es in der Zwischenkriegszeit auch stark nationale Töne im Rheinland Bestand gegeben hat, die in Bekenntnisse zu einer wehrhaften „katholischen Volksgemeinschaft“ mündeten. Karl den Großen etwa sahen die Rheinländer nach 1918 als nationalen und christlichen Symbolträger an, der religiöse Bedürfnisse mit regionalpolitischen und der verbreiteten Sehnsucht nach einem starken „neuen Reich“ verbunden habe. Die Benediktinerabtei Maria Laach gab wichtige Impulse für eine „geistige Wehrhaftigkeit“, die gerade im Verbandskatholizismus ein breites Echo fand. Nationale und religiöse Orientierung bildeten im Rheinland weder vor noch nach 1933 einen unüberbrückbaren Gegensatz. „Wehrhaftigkeit“ war nach 1945 zwar noch geläufig, die Leitvokabel „christliches Abendland“, oft auf den Kölner Dom bezogen, dominierte aber und erweiterte sich schließlich zu einer europäischen Orientierung. Zentraler Referenzbegriff war das „christliche Mittelalter“ im Rheinland nach 1918, 1933 und 1945 – ein schillerndes Vergangenheitskonstrukt, das unterschiedlich deutbar als „deutsch“ und „reichisch“ war und zudem eine facettenreiche Selbstverortung der Katholiken in einem komplizierten Milieu erlaubte.

Judith Kurth (Bonn) referierte zum Thema ihrer noch nicht publizierten Studie über die Familiennetzwerke und Handlungsspielräume Kölner Katholikinnen am Beispiel der Hauptprotagonistinnen des 1903 in Köln gegründeten Katholischen Frauenbunds, der den Beginn der katholischen Frauenbewegung im Rheinland markierte. Der Verein versuchte über die rein karitativen Aufgaben hinauszugehen, sich für Frauenbildung und die Verbreitung katholischen Gedankenguts einzusetzen. Dank ihrer guten Familienbeziehungen und einflussreichen Ehemänner in Köln gelang es Frauen wie Minna Bachem-Sieger, verheiratet mit dem Kölner Verleger Robert Bachem, Emilie Hogmann und Jeanne Trimborn, erfolgreich ein Netzwerk aufzubauen und sich nicht nur karitativ, sondern auch politisch zu engagieren. Dies geschah oft entgegen der ursprünglichen Ziele ihrer Ehemänner, die, wie der Zentrums-Politiker Karl Trimborn, die Gründung des Frauenbunds sehr wohlwollend initiiert und begleitet hatten. Kurth relativierte damit den Gründungsmythos des Katholischen Frauenbunds, demzufolge die Gründung des Frauenbunds allein auf die Initiative der Frauen erfolgt sei. Auch wenn der Frauenbund die bürgerliche städtische Elite repräsentierte, zeigt er doch, dass die Frauen keinesfalls als Marionetten ihrer Ehemänner agierten, sondern aktiv ihre konservativ-katholischen Wertvorstellungen in die Öffentlichkeit zu transportieren versuchten, wobei sie hier fest in ihren zumeist zentrumsnahen Kölner Familien und Traditionen verankert waren.

Mit den Bischöfen der Kölner Kirchenprovinz während des Ersten Weltkriegs als „Träger“ und „Organisatoren“ des „katholischen Milieus“ beschäftigte sich Hermann-Josef Scheidgen (Bonn) unter anderem am Beispiel des Paderborner Bischof Karl Joseph Schulte und dem Kölner Erzbischof Felix Kardinal von Hartmann. Im Spannungsfeld von Ultramontanismus und Patriotismus übernahmen die Bischöfe nicht nur karitative Aufgaben und die religiöse Betreuung der einberufenen Soldaten, sondern äußerten sich in ihren Predigten auch politisch und betrachteten es als ihre patriotische Pflicht, sich an der „finanziellen Kriegsführung“ zu beteiligen und forderten ihre Diözesen zu Geldabgaben auf. Intern stellten sich die Bischöfe hinter den Friedensappell Papst Benedikts XV., öffentlich traten sie dafür indes nicht ein. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung, so Scheidgen, segneten die Bischöfe zudem nie Waffen.

Die soziale Organisierung im „katholischen Milieu“ am Beispiel der Kölner Pfarrei St. Agnes war Thema eines Vortags von Christoph Schank (Bergisch Gladbach). Der gewaltige Bevölkerungsanstieg um die Jahrhundertwende stieß auf kirchlicher Seite eine Vielzahl an Pfarrneugründungen an und begünstigte die Entstehung neuer Vereine in Köln. In der Pfarrei St. Agnes lebten 1933 über 20.000 Katholikinnen und Katholiken. Der „Blick von unten“ zeigt aber, dass nur erstaunlich wenige von ihnen in Vereinen, die nach außen karitative und nach innen stabilisierende Aufgaben für das „katholische Milieu“ übernahmen, organisiert waren. Es existierte zwar ein flächendeckendes katholisches Vereinsnetz in Köln, in den einzelnen Pfarreien vor Ort bestanden aber frappierende Diskrepanzen bezüglich Engagement und Gestalt des „katholischen Milieus“.

Weit verbreitete katholische Zeitschriften aus dem Rheinland wie „Die christliche Familie“ (1887-1939) trugen, so Dieter Breuer (Aachen), maßgeblich zur Entstehung und Festigung des „katholischen Milieus“ bei. Die Lektüre „schöner Literatur“, wie etwa erbaulicher Gedichte und Problemgeschichten mit Bezug zur Gegenwart, sollte den Lesern Trost und Hoffnung geben. Die als Leitartikel formulierten Beiträge der Rubrik „Nur ein Viertelstündchen“ des Jahrgangs 18 (1933) von Augustin Wibbelt wendeten sich gegen die Gefahren der Moderne und leisteten zudem Orientierungshilfe, indem sie die Wahrheit der Lehre der Kirche abzubilden versuchten. „Die christliche Familie“ erreichte eine Auflage von über 100.000 Exemplaren. Umso mehr erstaunt ihre massive Überlieferungsproblematik mit nur wenigen überlieferten und zugänglichen Ausgaben.

Pater Marcel Albert (Abtei Gerleve) vermittelte einen Einblick in die Vereinsgeschichte des 1913 in Köln gegründeten „Katholischen Akademikerverbands“ (KAV), der nach dem Ersten Weltkrieg einen rasanten Aufschwung nahm und 1925 auf 180 Ortsgruppen und 16.000 Mitglieder blicken konnte. In enger Zusammenarbeit mit der Abtei Maria Laach und anderen Benediktinerklöstern setzte sich der Verband sehr für die Liturgische Bewegung zur Stärkung eines Gemeinschaftsgefühls des „katholischen Milieus“ ein. Mittels zahlreicher Vorträge, Tagungen und Publikationen warb er um einen Fokus auf die eigentlichen Anliegen der Kirche, die hauptsächlich religiöser Natur seien und in eine besondere „katholische Weltanschauung“ mündeten. 1933 erregte Generalsekretär Franz Xaver Landmesser Aufsehen mit einer „Soziologischen Tagung“ in Maria Laach, die den Brückenschlag zwischen katholischer Kirche und Nationalsozialismus versuchen wollte. Der Verband löste sich vom traditionellen „katholischen Milieu“ und wandte sich dem Nationalsozialismus zu. Infolge des Reichskonkordats 1933 beschränkte er sich auf rein religiöse Anliegen, wurde 1939 aber dennoch von den Nationalsozialisten aufgelöst.

Die sieben Fachvorträge zeigten, dass das Rheinland nicht grundlos als eine Hauptregion gilt, in denen sich ein „katholisches Milieu“ formierte und engagierte. Der Milieu-Begriff fungiert dabei allerdings lediglich als eine Klammer für ganz unterschiedliche Phänomene, die in der Zwischenkriegszeit im Rheinland überdies keinesfalls eine geschlossene Einheit bildeten. Katholische Netzwerke und Vereinsleben funktionierten, solange sie von den städtischen Eliten aufrecht gehalten wurden. Die Frage, inwiefern diese städtischen Eliten, sei es im Katholischen Frauenbund oder im Katholischen Akademikerverband, allerdings repräsentativ für das „katholische Milieu“ im Rheinland seien, wurde mehrfach während der Tagung diskutiert. Weiterführende regionale Mikrostudien zur Frage nach der sozialen Struktur und dem Engagement des „katholischen Milieus“ sowie Studien zur Entwicklung des „Reich“-Begriffs wurden als Desiderate in der Forschung genannt.

Eine Publikation mit den Beiträgen der beiden LVR-Tagungen zum „katholischen Milieu“ im Rheinland im 19. und 20. Jahrhundert ist geplant.

Anmerkungen:
1 Programm unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=6351> und Tagungsbericht unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1580>.
2 Nicola Wenge, Integration und Ausgrenzung in der städtischen Gesellschaft. Eine jüdisch-nichtjüdische Beziehungsgeschichte Kölns 1918-1933, Mainz 2005. Rezension: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-2-057> .

Kontakt

Kerstin Theis

Landschaftsverband Rheinland
Kulturamt / Fachstelle für Regional- und Heimatgeschichte
50663 Köln

Tel.: 0221 / 809-3505
Mail: kerstin.theis@lvr.de

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