Vom Einblatt zum Programmheft - Theaterzettel

Vom Einblatt zum Programmheft - Theaterzettel

Organisatoren
Prof. Dr. Gertrude Cepl-Kaufmann, Germanistisches Seminar II, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Ort
Düsseldorf
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.04.2007 - 27.04.2007
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Von
Gertrude Cepl-Kaufmann, Germanistisches Seminar II, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Das Kolloqium stand im Kontext des DFG-Projektes „Theaterzettel als Textsorte, Indikatoren kultureller Selbstpositionierung und Parameter kulturwissenschaftlicher Forschung“. Es sollte den Diskurs über die bisher kaum ausreichende Erforschung einer seit Jahrhunderten bekannten, kontinuierlich als Medium genutzten und in einer Fülle von Archiven in teils umfangreichen Sammlungen vorhandenen Archivalie intensivieren. Thematisiert wurden kulturhistorische und -theoretische Aspekte, die Archivsituation, Fragen der Erschließung und der wissenschaftlichen Nutzung. Die Referenten kamen aus theater- und kulturwissenschaftlichen Instituten und aus einschlägigen Bibliotheken und Sammlungen.

Mit den Theaterzetteln eröffnet sich ein breites Spektrum für die zukünftige Forschung, an dem Kulturwissenschaftler nicht nur der klassischen Disziplin Theaterwissenschaften Anteil haben werden. Theaterzettel wurden bisher traditionell im wesentlichen lediglich als theaterhistorische Quelle genutzt. So basieren Theatergeschichten vor allem für die frühe Theatergeschichte auf Theaterzetteln, aus denen sich die Wanderbewegungen der Theatertruppen rekonstruieren lassen. Schon aus dieser Quellenspezifik ergeben sich heute Aspekte der Forschung zur Wissenschaftsgeschichte. Theaterzettel trugen und tragen immer wieder zur rezeptionsästhetischen Fundierung bei; Programmhefte berufen sich bis heute auf vorgängige Inszenierungen und konstruieren eine theaterhistorische Tradition, entsprechend wesentlich können Theaterzettel für die Forschungen zur Intertextualität sein. In mehrfacher Hinsicht befriedigen sie darüber hinaus, so konnte das Kolloqium zeigen, kultursoziologische Fragen und bereichern die Grundlagenforschung in allen kulturhistorischen Disziplinen, die sich dieser Textsorte zuwenden.

Theaterzettel sind, so Helmut Schanze in seinem einführenden Vortrag, Basis eines spezifischen Kommunikationssystems. Ein lebhafter „Zettelverkehr“ via Brief, nicht selten mit beigelegten Couplets der Oper, schuf vor allem im 18. Jahrhundert einen besonderen kulturellen Austausch quer durch Deutschland und forcierte so einen originellen und ritualisierten Kulturtransfer, der in vielfacher Hinsicht für die weitere Forschung genutzt werden kann. Fragen der Einflussforschung, mit denen die Wechsel kultureller Moden und die literarischen Herrschaftsdiskurse erschlossen werden können, finden hier eine reiche Quellenbasis, ebenso wie die Theaterzettel, die vielfach Thema kulturhistorisch manifester Austauschprozesse wurden, im Kontext der Intertextualitätsforschung aussagekräftige Belege werden können.

Theaterzettel waren mehr als ereigniszentrierte intentionale Informationsträger. Sie sind, auf einer Zeitschiene angelegt, zugleich interessante Informanten für ein vorhandenes kulturelles System, bleiben aber nach ihrer primären Funktionserfüllung als Träger kultureller Identität virulent. Sie sind Elemente eines gestischen Systems, spiegeln etwas vom Wesen der Theatralität selbst. Am Beispiel von Goethes Mutter, die in einem regen Austausch mit der Weimarer Szene stand, zeigte Schanze die Besonderheiten, die einer biographischen Forschung dienlich sein können. Als Teil eines unmittelbaren, privat vermittelten Memorialsystems hatten sie im Fall der „Frau Aja“ nicht nur eine sinnstiftende Funktion für die Schreiberin selbst, sondern erlauben heute eine differenzierte Einschätzung der Persönlichkeit, die keine andere Quelle so differenziert, ja kongenial abzubilden vermag. Das Ende des 18. Jahrhunderts erhält so einen kommunikationswissenschaftlichen Originalitätsaspekt, legitimierte sich doch die kulturaktive Elite durch den Nachweis aktiver Theaterinteressen, die durch nichts besser bezeugt, inhaltlich dokumentiert und per brieflichem Gedankenaustausch in ein lebhaftes Wechselgespräch überführt werden konnte.

In die Frühzeit der Theaterzettel führte Bärbel Rudin. Frühe Formen der Öffentlichkeitsarbeit lassen sich im Blick auf den Zettelträger, später die Souffleure, die für die Verbreitung der Theaterzettel sorgten, verfolgen. Überhaupt eröffnen sie ein ergiebiges Feld, das die enge Zusammenarbeit von Theatertruppe und städtischer Kultur rekonstruierbar macht. In deren Umfeld hatten sich wandernde Truppen, so beweisen es die „Ratskomödien“ und „Ratsprogramme“, zielorientiert anpassen müssen, um erfolgreich zu sein.

Ein reiches Überlieferungsgeschehen lässt sich mit Recherchen in einschlägigen Archiven nachweisen, vor allem die Paradigmenwechsel, die die kaum deutsch geprägte Theaterlandschaft mit der Ablösung z.B. des englischen Pickelhering durch den italienischen Arlecino der Commedia del Arte um 1707 erfuhr. Sie lassen, so Rudin, von einem „Internationaltheater“ sprechen, dessen Dimensionen in der Fülle der bisher wenig genutzten Theaterzettelbestände in den damaligen Theaterhochburgen, etwa Nürnberg oder Wien, erkennbar werden. Bei einem Theater, das kaum von deutschen Autoren geprägt war, sind Theaterzettel als kulturelle Transferindikatoren, z.B. für wandernde Komödien und ihr Repertoire, damit für Fragen der Repertoirebildung von Interesse. Sie beantworten Fragen nach der Definitionsmacht, d.h., sie provozieren die Frage, welche Bühne den Ton angab.

Die Geschichte der Theaterzettel bezieht angrenzende Formen ein. Handzettel gab es seit 1770. Sie gingen aus den Anschlagzetteln hervor, bereicherten ihr Repertoire aber kontinuierlich mit Text- und Bildelementen, die über primäre Informationsbedürfnisse hinausgingen. Nicht zuletzt stehen sie, ob plakatiert, in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt, als Zettel verteilt oder im Kontext von Besucherorganisationen verschickt, für eine institutionsspezifische Werbestrategie, die für nichtsubventionierte Bühnen zur lebenserhaltenden Praxis zählten. Die Neuberin etwa, so zeigte Bärbel Rudin, war mehr als eine Theaterreformerin, entwickelte und beherrschte sie doch die Werbestrategie in einer bis dahin nicht gekannten Weise, um sich im Kontext von Pietismus und kleinstaatlichem Denken mit einem europäisch inspirierten Theater zu positionieren. Nicht zuletzt sind über die Analyse der Theaterzettel als Transfer und Transformationsmedium Epochenübergänge, vor allem vom Barock zur Aufklärung markierbar. Theaterzettel sagen nicht zuletzt viel aus über den Schauspielerstand und dessen Anteil an der kulturellen Identität.

Einen Schritt zurück in der Geschichte des Theaterzettels ging Frank Pohle, der die Öffentlichkeitspraxis der Schul- und Jesuitentheater als „organisierte Amateure“ im damals noch nicht etablierten Theater prüfte. Vor der Existenz der Wanderbühnen bedienten sie sich der „Periochen“ als Ankündigungstext und zeigten damit die Geschmacksformen der damaligen Bildungseliten. Beispiele der kulturellen Aktivitäten fand Pohle in der zu jener Zeit sehr aktiven Bildungslandschaft Rheinland. Die Funktion des Theaters als christlich-normsetzende Institution erschließt sich, so konnte Pohle an ausgewählten Beispielen zeigen, über die durchweg zweisprachig, in Latein und Deutsch angelegten Texte.

Die Erforschung von Theaterzetteln lenkt den Blick auf fundamentale Fragen kulturwissenschaftlicher Theoriebildung. Friedemann Kreuder setzte in seiner ebenso wissenschaftskritisch innovativen wie kulturhistorisch grundlegenden Überlegung bei der selbstreferentiellen Qualität des Spiels an, die sich in der Beschäftigung mit Theaterzetteln als breites Feld schon und vor allem für die frühe Neuzeit eröffnet. Die Unbeständigkeit, die damalige Identität als ein „prädramatisches Theater“ zeigt, dass wir es insgesamt nicht mit einer eindimensionalen Genese des Theaters, sondern mit einer „Polysemie“ des historischen Materials zu tun haben, die für die frühe Theaterzeit ebenso gilt wie sie Kennzeichen für die Postmoderne ist. Auch hieraus ergeben sich aufschlussreiche Diskurse, z.B. auf die „Stilarten“, die über große Zeiträume hinweg das Theater weitaus intensiver geprägt haben als ein am literarischen und aufklärerischen Muster manifestiertes Handlungsszenarium, das unserem eigenen Verständnis von Theater eingeprägt ist. Das auch über Theaterzettel vermittelbare Generalthema muss die Frage nach Theater als historischem Konstrukt sein: Inwieweit gab und gibt die Geschichte des Theaters die Methode ihrer Untersuchung vor?

Kreuder verwies auf die historischen Fakten, die sich, im Rekurs auf Rudolf Münz und dessen Abkehr von einer Theatergeschichte als positivistischer Leistungsgeschichte, im Blick auf die Theaterzettel ergeben. Konkret nachweisbar wurde dies im bemerkenswerten Rollenspiel eines genialen Akteurs wie Joseph Felix von Kurz-Bernadon und dessen „Bernadoniade“, erkennbar auf einem ent-‚sprechenden’ Theaterzettel, zeigte er doch die Bedeutung der Figurengestaltung und der Maske als metazeitlichem, theatereigenem Konstrukt. In ihm dominiert die Frage nach der Körperlichkeit der Figur, die jenseits der Mimesis und jenseits des Beharrens auf einem Ich dem später einsetzenden und die Definitionsmacht erobernden, handlungsorientierten Spannungsgefüges eines ‚klassischen’ Theaters voranging. Bernadon orientierte sich wie seine Zeit am „Dividium“ anstelle des Individuums. Der von Kreuder entwickelte anthropologische Ansatz folgt Plessners grundlegenden Forschungen, die hier über die Erkenntniskraft der Theaterzettel für die Analyse des Theaters, aber auch eine Kultur des Gestischen außerhalb des engen Bühnenraums fruchtbar gemacht wurden. Theaterzettel leisten eine Memorialfunktion für lange überschriebene anthropologische Konstanten, die es wieder freizulegen gilt.

Theaterzettel kamen nicht nur in den klassischen Stadttheatern zum Einsatz, sondern fungierten weit darüber hinaus als Vermittler. Zwei Vorträge widmeten sich exemplarisch den Analogien, die sich in Theatralisierungsformen der Gesellschaft erkennen lassen.

Nikolaus Gatter zeigte an einem kunstvoll gestalteten Theaterzettel aus dem Jahre 1841 die normierende Wirkung, die Theaterzettel auch in privaten kulturellen Selbstinszenierungen der bürgerlichen Salons hatten. Im Hamburger Salon der Varnhagen-Tochter Rosa Maria Assing traf sich alles, was damals intellektuell Rang und Namen hatte, um, per Zettel angekündigt, in Leseabenden eine eigenwillige Dramenpraxis zu praktizieren. Durch eine Fülle von Theaterzetteln, die u.a. in Krakauer Beständen zu sichten wären, können diese Formen der Parallelkultur zu den öffentlichen Theatern erschlossen werden.

Harald Loennecker zeigte an der kulturellen Praxis der akademischen Sängerschaften ein quantitativ bemerkenswertes Subsystem, in dem sich Elitebildungen und ästhetische Diskurse in gleicher Weise erkennen lassen. Die Theaterzettel dieser lebhaften theaternahen Szene haben trotz eigener, vor allem in Fragen der künstlerischen Gestaltung – von den „Biermimiken“ zur studentischen Oper – und zugleich der gruppenspezifischen Codierung einen hohen Aussagewert über die gruppeneigene Sprache und ihre Referenzen an die tradierten Aussagemöglichkeiten des Theaterzettels. Am Beispiel Leipzig zeigen sich Vernetzungen mit den etablierten Sängern des Thomanerchors ebenso wie die personellen Bündnisse, in denen sich die Sängerschaften bewegten und denen sie mit der aufwendigen künstlerischen Gestaltung der Theaterzettel als „Theaterkarte“ ein eher die eigene Gruppe spiegelndes als ein Informationsbedürfnis befriedigendes, repräsentatives Image verpassten. Sie legten keinen großen Wert auf Stücknamen oder den literarischen Text betonende Aussagen, galten vielmehr als „Couleurkarten“ mit entsprechender Inszenierung, z.B. wenn sie mit Couleurwappen als Logo gestaltet waren. Hier werden die eigenen Ritualisierungen im gesellschaftlichen Kontext herauskristallisiert; so wurden z.B. die Theaterkarten der Sängerschaft Arion in Leipzig auch mit dem Thomanerchoremblem verziert, denn etliche Thomaner waren dort nach Eintritt in die Universität untergekommen.

Hier eröffnet sich ein weites Feld, etwa im Blick auf die Geselligkeitsstruktur des 19. Jahrhunderts. Sie erlauben auch die Entdeckung weiterer Quellen, analog zur Fülle der Funde, die Lönnecker in seinem Arbeitsbereich im Koblenzer Bundesarchiv nachweisen konnte.

Peter Marx registrierte die Theaterzettel als Teil einer kulturell-kommunikativen Situation. Im Diskurs des Reinhardt-Theater ergab sich mit Beginn des 20. Jahrhunderts ein bemerkenswerter Wandel der Öffentlichkeits- und der Publikumsstrukturen, denen die Funktion des Theaterzettels weitgehend zum Opfer fiel, zumindest im urbanen Umfeld, um das es Marx ging. Mit einem eigenen Pressechef, der mit Felix Holländer unmittelbar aus Kreisen der arrivierten literarischen Intelligenz Berlins kam, prägte Reinhardt mit seiner Arbeit so etwas wie ein „Pseudoereignis“, ein mediales Spektakel von neuer Qualität. Deren Folgen und Bedingungen führten zu einem Paradigmenwechsel, durch den, nicht zuletzt auf dem Hintergrund der ab 1869 geltenden Gewerbefreiheit, neue Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit wie die gezielte Werbung und Positionierung der Theaterkritik, Premierenfeiern in großem, durchaus auch privatem Stil bei Reinhardt zu Hause, mit geladenen Gästen und Kritikern und weitere publizistisch gezielte Aktivitäten, z.B. die Herausgabe der eigenen Zeitschrift „Blätter des Deutschen Theaters“ möglich wurden.

Reinhardt machte seine Großstadtkultur zum Erfolgskonzept. Er verstand die Kunst als Sensation und machte sie zum Geschäft. Das damit verbundene Ende des Literatur-Theaters, unter dem Einfluss anderer Metropolen als „Londonisierung“ abklassifiziert, und ihre Vorbildfunktion verteidigte er gegen den Vorwurf des Niedergangs des Theaters, die „Barnumisierung“, wie sie im Blick auf die Formen der Reklame im Zirkus genannt wurde. Das damit eröffnete neue Diskursfeld gab den Theaterzetteln einen anderen Stellenwert, schuf sie aber nicht ab. Hier zeigte Marx, welche kultursoziologischen Diskurse der Diskussion um den Theaterzettel immanent sind, nicht nur im Zeichen urbaner Kultur oder im Kontext einer „Theatropolis“, wie Marx die Situation im Anschluss an Fritsche benannte. Die Kritik ist, nicht minder als der Theaterzettel, konstitutives Element und Moment des urbanen Lebens, dabei dialektisch auf Theaterzettel verweisend. Beide haben Anteil an der komplexen kulturellen Historisierung, um die es in der zukünftigen Forschung gehen muss.

Klaus Gerlach zeigte in einem Blick auf die ein Jahrhundert zuvor vollzogene bemerkenswerte Wende, dass der Zusammenhang von Kritik und Repräsentanz des Theaterzettels als Medium der Öffentlichkeit bereits lange virulent war, bevor Reinhardt ihn zu einem neuen Kapitel weiterschrieb. Im Kontext des Forschungsprojektes „Berliner Klassik“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hatte Gerlach in eine Fülle von Theaterzetteln und ihrer Funktion einen Memorial- und Konstruktionsdiskurs ausgemacht, der die Genese des Nationaltheaters als analoges, paradigmatisches Ereignis erkennbar macht.

Ausgehend von der Erkenntnis, dass der Theaterzettel als literarisches Thema, z.B. in Karl Philipp Moritz’ Roman „Anton Reiser“, die Imaginationskraft selbst stimuliert und sozusagen als immerwährendes Medium „aller möglichen Täuschung“ fungiert, zeigte er das Spannungsgefüge von realer und fiktiver Welt, das die Zeitgenossen im Theaterzettel zu konkretisieren vermochten. Goethes Diktum vom Theaterzettel als „Dokument des verflogenen Genusses“ impliziert die polyvalente Fähigkeit des Mediums, Informationsträgerschaft und Memorialfunktion zu übernehmen. Dass Goethe selbst sich regelmäßig alle Theaterzettel aus Berlin schicken ließ, nicht selten begleitet von einer Ladung Teltower Rübchen, ist mehr als eine kulturhistorische Anekdote. Die Zettel waren für ihn ein Ersatz für das Original, auch ein Genuss, nicht zuletzt aber ein Referenzcode im kulturellen Feld. Sie dokumentieren insgesamt die „Suggestivkraft“ des Theaters.

Gerlach zeigte exemplarisch auch die über Theaterzettel sich vollziehende Theaterkritik und die sich damit eröffnenden Möglichkeiten einer „archäologischen Methodik“, die sich vermittels der „Ordnungskategorien“ der „Komödienzettel“ sowohl in semiologischer als auch in hermeneutischer Sicht anbieten. Der Theaterzettel als „Blatt Papier“ vermittelte nichts weniger als die „Bedingungen zur Teilnahmeberechtigung“ am Kulturdiskurs. Wie die Kritik Teil der bürgerlichen Sinnsuche war, wurde der Theaterzettel ein ebenso wichtiger Vermittler. Beide standen „statt“ des theatralen Ereignisses, waren „Repräsentanten“. „In“ ihnen vollzieht sich ein immanenter Diskurs, ebenso aber auch „dahinter“. War das Theaterstück vorbei, wurde der Theaterzettel im Sinne Baudrillards zum Repräsentanten des Ereignisses.

Jo Jonas thematisierte die Aussagekapazität des Theaterzettels an einem besonders evidenten Textelement, dem Virtuosentum. Gegenüber dem Ensemble der Schauspieler erhielt der Virtuose etwa am Ende des 18. Jahrhundert eine besondere Gewichtung und trug neben den Prinzipalen entscheidend zur Bekanntheit des Theaters bei. Mit Namen wie Iffland ist er bis heute eine prägende Erscheinung der kulturellen Erinnerung. Zum Rollenbild des Schauspielers zählte ein beherrschtes Repertoire, entsprechend gewannen sie mit der Etablierung des festen Theaters an Professionalität, wurden zu einem Berufsstand. Nicht genug, wie vor allem Devirient in seinen Notaten zur Schauspielkunst festhält, war der Virtuose mehr als ein Schauspieler; ein besonderes Maß an persönlicher Präsenz und technischem Können ließen die Theater, in denen er auftrat, nicht nur zur Attraktion werden, sondern verhieß auch ein gutes Geschäft, was in Zeiten mangelnder Subvention zum Überleben beitrug.

Jonas zeigte in einer elaborierten datenmäßigen Erfassung, bezogen auf den Theatertyp höfisches Theater anhand von Archivalien der Berlin-Brandenburgischen Akademie, wie eine Spielphase als Mischung aus Ensembletheater und dem Einsatz von Gastschauspielern in den Jahren 1801 bis 1811 über Theaterzettel aussagekräftig darstellbar ist. Mit einem Fragekatalog von der Preispolitik bis zur Zuschauerfrequenz und der Abonnement-Praxis beim Auftritt des Virtuosen ließ sich so eine geographische, auf die Theaterlandschaft in und um Berlin fixierte Analyse erstellen. Die Untersuchung des Schauspielers als Virtuose ergab eine methodisch interessante Mikrostruktur, die zur Übertragbarkeit aber auch zu Vergleichsstudien anregen kann.

Ein Workshop mit Berichten aus Theaterzettelsammlungen und Archiven brachte unter den Leitthemen „Genese und Zustand der Sammlungen, Erschließungsstrategien und Auswertungen von Theaterzetteln, Berichte und interkollegiales Gespräch“ eine Fülle von Problemen auf den Tisch, durch die sich nicht wenige der umfangreichen Sammlungen auszeichnen. Die Referenten – Christiane Caemmerer und Eva Bliembach (Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz), Marina Arnold (Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel), Max Plassmann (Universitätsarchiv Düsseldorf) und Michael Matzigkeit (Theatermuseum Düsseldorf) –waren sich mit den Veranstaltern und den übrigen Referenten und Gästen aus weiteren Archiven in folgenden Punkten einig:
Für die Sicherung und Erschließung der Bestände ist höchste Zeit geboten.
Es muss ein Kataster der Bestände aufgestellt werden. Dieses sollte nach zu erarbeitenden Kriterien u.a. Auskunft über die Qualität und Quantität der Zettel, die Genese und die Interessantheit der Bestände geben.
Gegenüber der letztlich aus den unterschiedlichsten Gründen fragwürdigen Praxis der Datenaufnahme einzelner Zettel bzw. kompletter Sammlungen wird die Digitalisierung einstimmig befürwortet, um auch den Fragen von Morgen ein Optimum an Möglichkeiten zu sichern.
Um die Theaterzettel überhaupt angemessen ins Bewusstsein zu bringen, sollte ihre kulturwissenschaftliche Relevanz publik gemacht und die Nutzung durch eine entsprechende Forschung vorbereitet werden.

Das Kolloquium diente dieser zukünftigen Aufgabe. Das DFG-Projekt, in dessen Kontext das Kolloquium stattfand, wird mit der Publikation der Ergebnisse der Untersuchung auch Kriterien in diesem Sinne bereitstellen. Die Mitarbeiterinnen im Projekt sind Jasmin Grande M.A., Nina Heidrich, Sarah Kachel, Mirja Kosinowski.

Kontakt

Nina Heidrich

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Germanistisches Seminar II
Tel.: 0211-8113004
E-Mail: <heidrich@phil-fak.uni-duesseldorf.de>


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