Die Habsburgermonarchie: ein Ort der Inneren Kolonisierung?

Die Habsburgermonarchie: ein Ort der Inneren Kolonisierung?

Organisatoren
Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte (Österreichische Akademie der Wissenschaften), ausgerichtet von Moritz Csáky, Johannes Feichtinger und Ursula Prutsch
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
19.09.2002 - 21.09.2002
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Von
Johannes Feichtinger, Graz

Workshop der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte (Österreichische Akademie der Wissenschaften)

In diesem internationalen Workshop der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte (Österreichische Akademie der Wissenschaften) wurde - ausgehend von der Postcolonial Theory - der Blick auf Machtverhältnisse sensibilisiert, welche innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie (Zentraleuropa) vorherrschten. Die 17 Vortragenden und zahlreiche DiskutantInnen debattierten darüber, ob die postkoloniale Theorie auch auf ein multikulturelles Staatswesen wie das der Donaumonarchie, das offensichtlich keine nennenswerte kolonialistische Vergangenheit aufweist, wissenschaftlich ertragreich anzuwenden sei. Dabei wurde aber auch der Blick nach außen, d. h. auf vergleichbare staatliche Konfigurationen gerichtet (auf die kolonisierte lateinamerikanische Staatenwelt, das Osmanische Reich und Indien als Vergleichsbeispiele), wie auch der Bezug zur Gegenwart gewahrt. Gefragt wurde im besonderen, was unter Anwendung dieser Theorie in neuem Licht erscheine. Vorrangiges Ziel des workshops war es nicht, Tendenzen von habsburgischem Kolonialismus - falls es solche gab - auf traditionelle Weise abzuklären; vielmehr wurde ausgehend von der Postcolonial Theory eine Analyse diskursiv konstruierter Machtverhältnisse innerhalb der habsburgischen Ordnung (Zentraleuropa) versucht.

Ausgehend von der Vorstellung, dass ein maßgebliches Ziel jeglicher Kolonisierung in der Vereinheitlichung unterschiedlicher kultureller Muster (im weitesten Sinne) liege, wurde gefragt, ob die postkoloniale Theorie hilfreich sei, das Machtgefüge, das solchen Homogenisierungsversuchen zugrunde liegt, aufzubrechen, um verwischte Differenzen zwischen den Kulturen wieder aufzuspüren. Die Vereinheitlichung funktioniert durch die Inklusion des Außen, seine Sinnentleerung; durch die Exklusion des Anderen, seine Punzierung als deviant, inhuman und unmündig, oder durch die Entrückung des Anderen in eine Idealsphäre, was aber seiner Entmündigung gleichkommt. Kurz gesagt, verwirklichen sich Kolonisierungsmaßnahmen insbesondere durch die programmatische Überwindung jedweder historisch gewachsener Differenzen.

Spiegelte die ethnisch-kulturelle Differenz in einer "verflüssigten" Form die Staatswirklichkeit des vielschichtigen, kulturell inhomogenen habsburgischen Vielvölkerstaates wider, wurden Differenzen zwischen den verschiedenen Kulturen, Ethnien und Sprachen aber auch bewusst konstruiert und "verfestigt", denn kulturelle Hybriditität ist/war konfliktbeladen und wurde oftmals als krisenhaft empfunden. Die Abgrenzung "kultureller Monaden" (Bhatti) in plurikulturellen Gesellschaften versteht sich daher sowohl als Maßnahme zur Konfliktminderung als auch als Mittel, durch das sich kulturelle "Authentizität" im nationalen Sinne konstruieren ließ. Mit der Herstellung solcher Ordnungen versuchte man jedenfalls die Komplexität, die vielfach als Chaos wahrgenommen wurde, in den Griff zu bekommen. So wurde eine Überwindung dieser Chaoswahrnehmung vermittels Kodifikationen (z. B. der Sprachen) angestrebt. Vereinheitlichungsmanöver anderer Art fanden gleichfalls innerhalb der Teile der Monarchie, aber auch durch die Zentralmacht statt. So versuchte letztere vermittels nonverbaler Sprachvereinheitlichung (z. B. Architektur) Zentrifugalkräfte zu schwächen.

Die Teilnehmer der Konferenz stimmten darin überein, dass der postkoloniale Blick in der Tat ein neues Licht auf solche Prozesse zu werfen vermag. Die postkoloniale Theorie fasst das Chaos nämlich als komplexe Konfiguration auf und wertet auch die Mehrdimensionalität gegenüber linearen Sichtweisen auf (Bhatti). Daher ließen sich durch postkoloniale Sichtweisen konstruierte Machtgefüge, die als kolonialistisch aufgefasst werden mussten, radikal dechiffrieren. In diesem Sinne seien auch administrative Maßnahmen "von oben" durch eine Ordnungsmacht, wie der habsburgischen, als kolonialistisch zu verstehen, wie auch die Assimilation "von unten" Ausdruck von Machtdiskursen sein könne: Verschiedene Gruppen verspürten zunehmend den Zwang, sich dem dominanten kulturellen Narrativ zu unterwerfen (Stichwort: Selbstkolonisierung). Zur Dechiffrierung solcher Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, in denen die einen auf Kosten der anderen profitierten, bedürfe es aber der Analyse von Kultur. Dieser müsse ein weiter Kulturbegriff zugrunde gelegt werden: Kultur als vielschichtiger "Text", als die Ansammlung von Codes, mittels derer Individuen kommunizieren.

Die Anwendung der postkolonialen Theorie habe im Sinne einer "ethischen Haltung" zu erfolgen, nicht aber im Stil einer "Großen Erzählung", vermittels Aufpfropfung einer durchkonzipierten Theorie auf das Analyseobjekt (Bhatti). Auch stimmte man darüber überein, dass die kolonialistische Perspektive nicht notwendigerweise an den Besitz von Kolonien geknüpft sein müsse.

Ausgehend von einer ausdifferenzierten Verwendung der Begrifflichkeiten Multikulturalismus - Transnationalismus - Hybridität durchzogen die Konferenz mehrere Argumentationsstränge: Erstens das Wechselspiel von Homogenisierung versus Differenzierung (und Diversifizierung) als ein Spezifikum der zentraleuropäischen Region; zweitens die von den Postcolonial Studies eingeforderte Auflösung der Dichotomie Zentrum versus Peripherie. Wurde als Ausgangspunkt der Analyse die Verortung der Macht auf die Zentren der Donaumonarchie (Wien, Budapest) als zu kurz greifend diagnostiziert, so wurde in vergleichender Perspektive eine verwirrende Vielfalt von Machtzentren z. B. auch in der kolonisierten Staatenwelt Lateinamerikas lokalisiert. Drittens stand in Zusammenhang damit die Diagnostizierung von Mikrokolonialismen, die für die Donaumonarchie besonders signifikant waren, im Vordergrund. Mikrokolonialismen wurden als Terminologie vorgeschlagen, um den zu grob gestrickten heuristischen Ansatz eines reichsübergreifenden Kolonisierungsdiskurses aufzubrechen (Simonek). Die Träger der Macht vervielfältigten sich; auch Opfer der Kolonisierung behaupteten sich später in der Rolle von Kolonisatoren.

Die 17 ReferentInnen aus acht verschiedenen Ländern wurden zu diesem Workshop im Rahmen der Kulturwissenschaftlichen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften eingeladen, so auch 12 DiskutantInnen; hinzu kamen zahlreiche Gäste - WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Disziplinen und Ländern. Der Workshop zeichnete sich durch theoretisch und inhaltlich fundierte Beiträge, die wechselseitig auf großes Interesse stießen, aus. Das offene Diskussionsklima ließ auch lebhafte und konstruktive Debatten zu. Eröffnet wurde die Veranstaltung mit einer Lesung von Dzevad Karahasan (Graz, Sarajevo) (Tagebuch der Aussiedlung, Buch der Gärten). Moritz Csáky leitete das anschließende Gespräch mit dem Autor.

Im Mittelpunkt von Peter Niedermüllers (Berlin) Überlegungen zum "Mythos des Unterschieds. Vom Multikulturalismus zur Hybridität" stand die kulturelle Differenz in der europäischen Moderne. Seine These lautete: Was wir mit kultureller Differenz verbinden, ist nicht die kulturelle Differenz an sich, sondern deren politische Deutung. Die Idee der kulturellen Differenz sei von Bedeutung, weil mit ihrer Hilfe das Andere eingeordnet werden könne. So spielte die Differenz auch für den Nationalstaat eine konstitutive Rolle. Dessen Ziel sei nicht Ausgrenzung, sondern die Verortung des "Fremden". Das Andere werde konstruiert und marginalisiert. Auch betonte Niedermüller, dass der Multikulturalismusbegriff daher unangebracht sei, denn jedwede essentialistische Verbindung zwischen Ort und Raum einerseits und Identität anderseits habe sich aufgelöst; den Alltag bestimme die Trennung des sozialen Orts alltäglicher Verrichtungen von jenem der Identitäten (z. B. Berliner Türken), was hybride Identitäten erzeuge. Moritz Csáky (Wien) ergänzte Niedermüllers Ausführungen durch den Hinweis, dass kulturelle Differenzen weder nur konstruierte Ordnungsmuster noch retrospektive Harmonisierungen darstellten, sondern auch der Erfahrungswirklichkeit urbaner Bevölkerungsschichten in Zentraleuropa entsprachen; dies untermauerte er mit den Ausführungen des Geographen Friedrich Umlauft, der die Monarchie als einen "Staat der Kontraste" 1 bezeichnete.

Stefan Simonek (Wien) sah in seinem Vortrag "Die Möglichkeiten und Grenzen der Postcolonial Studies aus slawistischer Sicht" darin, den Blick verstärkt auf "Mikrokolonialismen" zu richten und den Ansatz eines reichsübergreifenden linear-einseitigen Kolonisierungsdiskurses zu dekonstruieren. In seinem Beitrag wurde die Frage erörtert, inwieweit sich die theoretischen Ansätze Homi Bhabhas auf die slawischen Literaturen der Habsburgermonarchie anwenden lassen. Am Beispiel von Galizien und der multilingualen Autoren Ivan Franko und Tadeusz Rittner wurde einerseits auf die Existenz regional ausdifferenzierter Mikrokolonialismen innerhalb der Monarchie sowie andererseits auf die Relevanz von Bhabhas Hybriditätskonzept hingewiesen. Kolonialismus habe es nicht nur von Seiten Österreichs und Ungarns gegeben, so werde u. a. auch in der galizischen Belletristik deutlich, dass die Dominanz des Zentrums oftmals als nicht so drastisch verspürt wurde wie jene peripherer Mächte: z. B. die Dominanz der Polen aus der Sicht der Ukrainer.

Robert Luft (München) diagnostizierte in seinem Referat "Machtansprüche und Politikformen in der Provinz", dass man für Böhmen und Mähren in der späten Habsburgermonarchie keinesfalls von einem linearen kolonialen Abhängigkeitsverhältnis gegenüber Wien sprechen könnte. Oft sei Böhmen und Mähren vielmehr ein dem Zentrum gleichgeordneter politischer, wirtschaftlicher und kultureller Kernraum der Monarchie gewesen, der auch verkehrstechnisch früh an Wien Anschluss gefunden habe; im übrigen greife die Sicht von der Kolonisierung einer Peripherie durch ein Zentrum zu kurz. Zwar sei die Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit national weniger homogen gewesen als Österreich oder Trianon-Ungarn, jedoch stabiler als alle anderen Nachfolgestaaten. Immerhin war sie in der Zwischenkriegszeit eine der 10 führenden Wirtschaftsmächte der Welt. Lufts These lautete daher, dass diese Stabilität nicht auf eine Kolonisierung seitens der Habsburgermonarchie schließen lasse. Luft verschwieg aber auch nicht, dass nach 1918 von Seiten Thomas Masaryks und anderer Intellektueller ein koloniales Abhängigkeitsverhältnis von der österreichischen Zentrale als ein retrospektiver, staatstragender und identitätsstiftender Mythos erfunden wurde. Das historische Narrativ, durch welches im Zuge der Schaffung einer tschechischen Identität das Andere stilisiert worden sei, wäre der Josephinismus gewesen. Gerechtigkeit für die Schlacht am Weißen Berg zu verlangen, sei als ein Mythos zu betrachten, nicht aber die Sicht der 1890er Jahre.

Christian Promitzer (Graz) untersuchte in seinem Beitrag "Die Konstruktion Jugoslawiens und die Kette des Seienden" Vorstellungen von im späten 19. und frühen 20. Jh. in Wien studierenden südslawischen Intellektuellen (Jovan Cvijic, Niko Zupanic) über den später realisierten gemeinsamen südslawischen Staat. Dabei legte er den Schwerpunkt auf die Frage, inwieweit die in der Monarchie vorhandenen Hierarchisierungen der einzelnen Völker rezipiert wurden und für Südosteuropa bzw. auf den Balkan modifiziert und umgelegt wurden, um die historische Unausweichlichkeit eines jugoslawischen Staates, der per definitionem die Albaner und Griechen, aber auch die ebenfalls südslawischen Bulgaren ausschloss, zu legitimieren.

Elena Mannová (Bratislava) berichtete über "Das kollektive Gedächtnis der Slowaken und die Reflexion der vergangenen Herrschaftsstrukturen". Historische Diskurse und mentale Selbst- und Fremdbilder der Slowaken zeigten, gemäß Mannová, dass sie ihre Vergangenheit im Königreich Ungarn nie als "kolonial" bewerteten. Die national orientierte Geschichtsschreibung basiere zwar auf dem Mythos der 1000-jährigen Unterdrückung durch die Magyaren, betone aber andererseits, dass die Slowakei keine Peripherie war. Nach 1918 gab es politische Strömungen (Hlinkas Volkspartei und die Kommunisten) und nach 1945 auch historiografische, die versuchten, mit dem Bild der Slowakei als einer tschechischen Kolonie zu argumentieren. Sie setzten sich nicht durch.

Alois Woldan (Passau) analysierte in seinem Referat "Bevormundung oder Selbstunterwerfung? Sprache, Literatur und Religion der galizischen Ruthenen als Ausdruck einer 'österreichischen Identität'" die kulturelle Situation der ukrainischen Bevölkerung Galiziens (Ruthenen) am Beispiel Lembergs. Im Blickpunkt standen die "ukrainischen Wiedergeburten" (an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert sowie auch an der vom 18. zum 19. Jahrhundert): d. s. emanzipatorische Prozesse, die auf eine zumindest kulturelle Befreiung von Hegemonie abzielten. Diese emanzipatorischen Bewegungen ließen sich an den Parametern Sprache, Literatur und Religion dingfest machen. Um 1600 richtete sich die ukrainische emanzipatorische Bewegung gegen die Dominanz der polnisch-lateinischen-katholischen Kultur in demjenigen Staat, in dem um diese Zeit der größere Teil der ukrainischen Bevölkerung lebte: der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Um 1800 waren die Ruthenen Teil des österreichischen Königreichs Galizien und Lodomerien. Seither sucht man sich von zwei potentiellen Unterdrückern zu emanzipieren: von der polnischen Oberschicht in Galizien sowie vom Machtzentrum der Habsburgermonarchie.

Éva Kovács (Budapest) übte in ihrem Beitrag "Die Ambivalenz der Assimilation. Postmoderne- oder Hybrididentitäten des ungarischen Judentums" Kritik am Konzept der Assimilation (aus postkolonialistischer Perspektive) und sie dechiffrierte den Assimilationsdiskurs in der modernen ungarischen Geschichtsschreibung als Fortschreibung des Diskurses der Zwischenkriegszeit.

Andreas Pribersky (Wien) referierte detailreich anhand von Filmbeispielen über "Die politischen Erinnerungskulturen der Habsburger-Monarchie in Ungarn: Zwischen Unterdrückung und 'Goldenem Zeitalter'".

Diana Reynolds (San Diego) wies in ihrem Beitrag "Kavaliere, Kostüme, Kunstgewerbe: Die Vorstellung Bosniens in Wien 1878-1900" nach, dass auch die scheinbar apolitischen Narrative der Kunstproduktion (Kunstgewerbe) hegemoniale Bestrebungen dokumentierten. Sie behandelte die civilizing mission Österreichs in Bosnien anhand dreier Perspektiven: 1.) anhand der Reform des Kunstgewerbes als Beispiel der inneren Kolonisierung innerhalb der Habsburgermonarchie, 2.) anhand des Exhibitionary Complex, einem von Foucault abgeleiteten theoretischen Ansatz, der die kolonialen Ansprüche der europäischen Kolonialmächte zum Ausdruck bringe. Als Netzwerk von Museen, neuen Wissenschaften (wie Ethnologie oder Kunstgeschichte) und Ausstellungen diente der Exhibitionary Complex als Beispiel eines sanfteren Machtanspruches des modernen Staates, der durch die Organisierung des Wissens durch Museen und Ausstellungen eine neuen Einfluss auf der Bevölkerung ausübte, und 3.) anhand der Gender-Perspektive, vor allem die Konstruktion einer Identität Österreichs nicht nur als eine weibliche Großmacht, sondern auch - wie im Falle des Balletts - als ein ritterlicher Liebhaber, der eine schüchterne Frau umwirbt. So definierte sich Österreich seit 1871 selbst als 'Kulturstaat', als erzieherisches, weibliches Pendant zum männlichen deutschen Machtstaat; gleichzeitig verstrickte es sich in einen "künstlerischen Kolonialismus" (Diana Reynolds).

Gábor Gyáni (Budapest) betonte in seinem Vortrag "Forgetting the Diversity of National Past: Contrasting Memories of Hungarian Millenium", dass sich die Ungarn die Zuschreibung von außen (Fremdzuschreibung) als asiatische Invasoren zu eigen gemacht und sich als heroisches Reitervolk stilisiert hätten. Durch diese heroische Stilisierung hätten sie den Unmut der anderen Völker im ungarischen Herrschaftsbereich erregt, v. a. der Slawen; somit hätte sich auch das Missbehagen, das von vornherein durch die Magyarisierung bestanden habe, verschärft.

Michael Rössner (München) kam in seinen Ausführungen zu "Mestizaje und hybride Kulturen: Lateinamerika und die Habsburger-Monarchie in der Perspektive der Postcolonial Studies" auf die Komplexität der kulturellen Vielfalt in Lateinamerika wie auch im Habsburgerreich zu sprechen. Im Zeitalter der Ausbildung des modernen Nationalstaats sei diese Komplexität hier wie dort als aufzulösendes Chaos begriffen worden, seit dem Zweiten Weltkrieg kam es aber zu einer Neubewertung vermischter Kulturen: Die Identität werde wieder in der Unreinheit/Hybridität gesucht. Sei Altösterreich in Lateinamerika u. a. durch Schriftsteller wie Musil, Brod und Mauthner präsent und bis auf den heutigen Tag beliebt, argumentiere die Wissenschaft seit den achtziger Jahren ohne verklärenden Rückgriff auf die konflikt-negierende Nostalgie des Habsburgermythos. Roessner verwies im besonderen auf die Hybridisierung der lateinamerikanischen Kultur, welche nicht nur Europäisches und Indigenes einschließe, sondern sich auch gegen den Mythos von der Vorstellung der Reinheit der Kultur richte. Die Kultur repräsentiere eine unterschiedliche Mischung ohne dominante Leitkultur; hier herrsche auch ein fließender Übergang zwischen Zentrum und Peripherie vor.

Fikret Adanir (Bochum/Izmir) berichtete in seinem Vortrag "Aspekte ethnisch-kultureller Pluralität und Konstruktion kollektiver Identitäten im späten Osmanischen Reich" vom Versuch, die auf Konfessionalität beruhende 'hybride' Gesellschaft des Vielvölkerreiches in eine bürgerlich egalitäre, multikulturelle 'Staats-Nation' umzuwandeln, als dem Hauptziel der osmanischen Reformbewegung. Dieses Projekt erwies sich jedoch angesichts ethno-nationalistischer Formierungskonzepte ebenso wie imperialistischer Interventionen von außerhalb als nicht realisierbar, und in allen Nachfolgestaaten habe die Konstruktion kollektiver Identitäten nach nationalstaatlicher Maßgabe stattgefunden.

Anil Bhatti (New Delhi) brach in seinem Vortrag "Plurikulturalitäten? Indien und die Habsburgermonarchie aus vergleichender postkolonialer Sicht" mit der Dichotomie von Kolonisierendem und Kolonisierten. Er verwies darauf, dass das Modell der Kolonialisierung als Deformation des eigenen Weges und die Dekolonialisierung als Rückgewinnung des Authentischen aufgefasst wurde, als Befreiung von außen. Dabei handelte es sich um ein geschlossenes Kulturmodell, welches einen Dualismus von melancholischem Selbst und dem Anderen/Europa aufgerichtet und schließlich die Übereinstimmung von Sprache und Nation gefordert habe. In der Tat werde die postkoloniale Theorie aber als "ethische Haltung" aufgefasst, als produktiver Faktor innerhalb der Kulturtheorie, als Praxis, die mit den Vorstellungen von Essentialismus, Orientalismus und Okzitentalismus brechen würde. In Zonen verbaler und nonverbaler Mehrsprachigkeit, argumentierte Bhatti, würde oft nicht die Komplexität erfasst; durch Ordnungsversuche (wie z. B. Volkszählungen) werde aber versucht, das Chaos zu beherrschen. Durch diese bewussten Interventionen werde in einen "flüssigen" sozialen Praxiszusammenhang eingegriffen. Die somit hergestellten Einheiten seien Konstruktionen. Zur Beherrschung des Chaos homogenisierten die Zentren nicht nur, sondern sie erzeugten auch Differenzen.

Den Abschluss bildete eine von Rudolf Jaworski (Kiel) geleitete, intensiv geführte Diskussion, in der die einzelnen Positionen der Referenten nochmals bekräftigt und um die gewonnenen Erkenntnisse erweitert wurden.

Der allgemeine Tenor der Tagung war, dass durch eine postkoloniale Haltung diskursiv konstruierte Machtverhältnisse offengelegt werden können, wodurch jegliche kulturwissenschaftliche Analyse zentraleuropäischer Vergangenheit und Gegenwart erheblich profitiere.

Die Ergebnisse dieser Tagung werden 2003 in einem Sammelband vorgelegt, der im Studienverlag (Innsbruck-Wien-München) erscheint.

Johannes Feichtinger (johannes@gewi.kfunigraz.ac.at)

1 Friedrich Umlauft, Einleitung, in: Die Österreichisch-Ungarische Monarchie. Geographisch- statistisches Handbuch, Wien, Pest 1876, S. 1-4.


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