Die Bundesrepublik in den globalen Transformationsprozessen der siebziger und achtziger Jahre

Die Bundesrepublik in den globalen Transformationsprozessen der siebziger und achtziger Jahre

Organisatoren
Lehrstuhl für Neueste Geschichte, Universität Mainz, Lehrstuhl für Neue und Neueste Geschichte, Universität Augsburg und Institut für Zeitgeschichte, München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.03.2007 - 23.03.2007
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Von
Elke Seefried, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Univ. Augsburg

Die Geschichte der 1970er- und 1980er-Jahre ist in das Gesichtsfeld der Zeitgeschichtsschreibung gerückt. Wenn sich die Geschichtswissenschaft nun verstärkt der zweiten Hälfte der „alten“ Bundesrepublik widmet 1, so betritt sie vorbereiteten Boden; denn diese Zeiträume unterlagen bereits der zeitlich synchronen, empirischen Beobachtung der Sozialwissenschaften. Nachdem die „leichte Kavallerie“ der Sozialwissenschaften weitergezogen sei, rücke nun, so kürzlich der Bonner Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz, die Geschichtswissenschaft mit „schwerem Geschütz“ an, um die letzten Dekaden der „alten“ Bundesrepublik zu bearbeiten. In diesem Sinne wollten die Veranstalter Thomas Raithel (Institut für Zeitgeschichte), Andreas Rödder (Universität Mainz) und Andreas Wirsching (Universität Augsburg) die Tagung über die „Bundesrepublik Deutschland in den globalen Transformationsprozessen der 1970er- und 1980er-Jahre“, die Ende März im Institut für Zeitgeschichte stattfand, auch und vor allem als interdisziplinäres Gespräch zwischen Historikern und Sozialwissenschaftlern verstanden wissen. Ein weithin bis heute spürbarer Transformationsprozess westlicher Industriegesellschaften, so formulierte Andreas Rödder einleitend die Thesen der Veranstalter, habe sich während dieser Dekaden formiert und dynamisiert; dieser manifestierte sich im beschleunigten Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, in ökonomischer Internationalisierung, in wachsender sozialer Ungleichheit, gesellschaftlicher Pluralisierung, einer Medialisierung des Alltags und im Schwinden traditioneller Bindungen zugunsten individualisierender Tendenzen. Den Referenten aus Wirtschaftsgeschichte, Soziologie, Politikwissenschaft und Geschichtswissenschaft war es nun aufgetragen, im Rahmen eines multiperspektivischen Ansatzes ökonomische, gesellschaftliche und sozialkulturelle Wandlungsprozesse gegenüber Persistenzen zu gewichten, die Reaktionsmuster der Politik auf diese Wandlungsprozesse zu bemessen, internationale Dimensionen bzw. nationale Spezifika dessen auszuloten und schließlich zu prüfen, ob die 1970er/80er-Jahre in der Bundesrepublik eine eigene, historisch distinkte Epoche bildeten.

Dass ökonomische und technologische Entwicklungen das Profil der Epoche prägten, wurde in der ersten Sektion evident. Gerold Ambrosius (Siegen) beleuchtete, wie die bundesdeutsche Wirtschaft endgültig Industrialisierungsmuster verließ, die seit dem 19. Jahrhundert bestanden, und den weltweiten „Megatrend“ zur Deindustrialisierung vollzog. Mit der Tertiarisierung sank der Anteil des industriellen Sektors an Wertschöpfung und Zahl der Erwerbstätigen zugunsten des Dienstleistungssektors, wenngleich Industrie und Dienstleistungen eng verklammert blieben. Ambrosius diagnostizierte so Anzeichen eines Strukturbruches, sah aber auf einem mittleren Niveau der Disaggregation das Tempo des sektoralen Wandels in den 1970/80er-Jahren durchaus verlangsamt. Auch die These einer Internationalisierung der bundesdeutschen Wirtschaft wollte Ambrosius differenzieren: Nur bestimmte Branchen (Chemie, Stahl, Elektrotechnik, unternehmensbezogene Dienstleistungen) hätten sich verstärkt den globalen Märkten zugewandt. Demgegenüber bezeichnete Kommentator Werner Abelshauser (Bielefeld) die einsetzende Globalisierung der 1970er-Jahre als „Rückkehr der Weltwirtschaft“, da internationalisierende Trends bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wirksam geworden und dann 1914 gestoppt worden seien. Den globalen Charakter seines Gegenstandes – nämlich der neuen Technologien – wollte auch Thomas Raithel akzentuieren. Er skizzierte die rasanten Entwicklungen auf den Gebieten der Kernenergie, der Halbleiter- und Mikroelektronik sowie Gentechnik und zeichnete das komplexe Bild ökonomischer, politischer, sozialer und ethisch-ökologischer Technologiediskurse, das sich nicht auf das einfache Schema von Technikbefürwortern und gegnern reduzieren lasse. Zwar steigerte sich der intensive ethisch-ökologische Diskurs – dynamisiert durch Katastrophen wie Tschernobyl 1986 – teilweise in einen emotionalisierten „Angstdiskurs“, doch lasse sich das Bild einer besonderen deutschen Technikskepsis kaum erhärten.

Auch auf gesellschaftlicher Ebene, welche den Gegenstand der zweiten Sektion bildete, konstatierte Stefan Hradil (Mainz) dynamische Veränderungsprozesse. Den Wandel zur „nachindustriellen“ (Daniel Bell) Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft hätten die Sozialwissenschaften frühzeitig herausgearbeitet. In der „Wohlstandsgesellschaft“ der Bundesrepublik seien der Anteil Angestellter an der Zahl der Erwerbstätigen gestiegen, die Einkommen gewachsen und eine „Prosperitätskultur“ entstanden, in der die Art der Freizeitgestaltung zum Definitionskriterium für den einzelnen avancierte. Die These von der Pluralisierung sozialer Milieus, also von der Ausdifferenzierung sozialer Gruppierungen mit ähnlichen Werten und Mentalitäten, wollte Hradil grosso modo bestätigen: Zwar seien bereits vor 1970 konfessionelle und regionale Pluralitäten auszumachen gewesen, doch das Ausmaß der Wählbarkeit von Lebensstilen habe sich ab den 1970er-Jahren erhöht. Zunehmend aber hätten sich dann die Rahmenbedingungen verschlechtert, indem soziale Ungleichheit wuchs und die beginnende Auslagerung von Produktionsanlagen ins Ausland das Sterbeglöcklein der Vollbeschäftigung einläutete. Westdeutschland, so Hradil, „begann über seine Verhältnisse zu leben“.

Stärker noch akzentuierte Andreas Wirsching den Zäsurcharakter der 1970er-Jahre, indem er die Entstandardisierung von Erwerbsbiographien und Privatheitsformen fokussierte. Wirsching konstruierte ein idealtypisches Vier-Phasen-Modell von Lebensläufen: Der traditionellen und der industriellen Phase sei ab den 1920er/30er-Jahren die „fordistische“ Erwerbsbiographie gefolgt, in welcher der männliche Alleinverdiener einen Lebensarbeitsplatz besessen und die Ehefrau den Haushalt geführt habe. Diese „fordistische“ Phase charakterisierte Wirsching im Kern als Universalierung des bürgerlichen Lebensmodells. In den 1970er-Jahren aber sei dieses Modell zerfallen: Familienbindungen lockerten sich, Geburtenraten sanken, mit dem Wachsen der weiblichen Erwerbsquote und den Neuen Sozialen Bewegungen verloren traditionelle Normen an Wirkmächtigkeit, und schließlich kippte die männliche Erwerbsarbeit aus dem standardisierten Muster, weil strukturelle Arbeitslosigkeit und das „Modell lebenslangen Lernens“ in der Wissensgesellschaft neue Flexibilitäten einforderten. Wirsching diagnostizierte sogar gewisse Parallelen zu vorindustriellen Lebensläufen: Viele Frauen seien nicht umhin gekommen, das Haushaltseinkommen aufzubessern – und dies oft mit geschlechts¬spezifisch determinierter, schlechter bezahlter Arbeit. Mithin habe sich in den 1970er-Jahren eine hochindustrialisierte und hochkapitalisierte „neue Gesellschaft“ herausentwickelt, in der individuelle Freiheit, aber auch die Anfälligkeit für Kräfte des Marktes gewachsen seien. Kommentator Lutz Leisering (Bielefeld) unterstrich Wirschings These der Pluralisierung, wollte diese aber eher als weitere Universalierung des bürgerlichen Lebensmodells hin zu verstärkter Individualisierung verstanden wissen.

In konstitutiver Verbindung mit dem gesellschaftlichen Wandel standen sozialkulturelle Entwicklungen, welche die dritte Sektion zum Thema hatte. Wechselseitig verknüpft mit der gesellschaftlichen Pluralisierung sah Andreas Rödder das Phänomen des „Wertewandels“, das er als Veränderung grundlegender individueller oder kollektiver Orientierungsstandards definierte. Rödder verband die sozialwissenschaftlichen Konzeptualisierungen Ronald Ingleharts und Helmut Klages’, die eine Verschiebung von materialistischen zu postmaterialistischen Werteorientierungen bzw. von Pflichtwerten zu Freizeit- und Selbstentfaltungswerten diagnostiziert hatten, mit der historischen Bürgertumsforschung und der Postmoderne-Debatte. Es seien idealtypische bürgerliche Werte wie Arbeits- und Leistungsethos, Selbständigkeit, humanistische Bildung und Familie gewesen, so Rödder, die seit den 1960er-Jahren zugunsten individualisierender Tendenzen an Bedeutung verloren hätten. In einem Ineinander von Kontinuität und Verwandlung des „Projekts Moderne“ habe sich eine postmoderne „radikale Pluralität“ mit ihrer Trias von forcierter Individualisierung, Pluralisierung und Entnormativierung („anything goes“) herausentwickelt. Einen substantiellen Teil des „Wertewandels“ bildete die Entkirchlichung, welche Karl Gabriel (Münster) eigens thematisierte. Auch er verwies auf religiöse Pluralisierung und Individualisierung als sozialkulturelle Trends der 1970er/80er-Jahre. Gespeist aus dem Modernisierungsschub, der mit wachsender Freizeit und Motorisierung sowie steigender Bildung einherging, verloren die Kirchen an Bedeutung, wie sich an der wachsenden Zahl der Kirchenaustritte zeigte. Zugleich bildeten sich im Gefolge der Neuen Sozialen Bewegungen neue individualisierte Sozialformen von Religiosität aus, die sich in einer steigenden Zahl von Religionsgemeinschaften sowie in wachsender Heterogenität innerhalb einer Religion („Patchwork-Religiosität“) manifestierten. Religion, so Gabriel, „wurde unbestimmter, unsichtbarer, hintergründiger“, sie habe sich aus ihrer kirchlichen Bindung gelöst. Kommentator Martin Sabrow (Potsdam) regte an, den Wertewandel auf seine transnationalen und globalen Verflechtungen zu prüfen, aber auch nach Binnenphasen zu differenzieren.

Den Abschluss dieses Panels setzte Holger Nehring (Sheffield), der die wachsende Bedeutung von Massenmedien und deren Selbstreferentialität beleuchtete. Die 1970er-Jahre waren für Nehring geprägt von einem größeren Partizipationsangebot durch die Ausweitung von Medien, die Substitution realer Aktivitäten durch Medien (Parteiversammlungen würden durch politische Fernsehauftritte ersetzt) und die Anpassung von Medienfunktionen (der technischen Entwicklung hin zum Farb- und Privatfernsehen mit einer steigenden Zahl an Sendern usw.), woraus sich wachsende Privatisierung und Individualisierung sowie eine Dynamisierung durch den „Erlebnismarkt“ Fernsehen ableiteten. Die Medien seien dabei, so Nehring, in einer doppelten Perspektive zu betrachten, da sie gesellschaftliche Transformationsprozesse beobachteten und diese zugleich beeinflussten.

Sozialkulturelle Entwicklungen waren auch Thema des öffentlichen Abendvortrages von Hans Maier (München) am 22. März: Sein Blick galt der Umkehrung des herrschenden Fortschrittsparadigmas in das „dumpfe Gefühl eines epochalen Wandels, eines unwiderruflichen Einschnitts“, das 1972/73 mit dem Bericht des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“ auf den Begriff gebracht worden sei. Die folgende zeitgenössische Diskussion um die Kehrseite des Wiederaufbaus, wie sie sich in Umweltzerstörung und im Verfall von Denkmälern manifestierte, vermengte sich mit der kollektiven Erfahrung der wirtschaftlichen Krise zu kulturpessimistischen Tendenzen und „Selbstmitleid auf hohem Niveau“. Doch habe der Staat mit der Integration des Umwelt- und Denkmalschutzes in den Kreis traditioneller Staatsaufgaben, mit dem extensiven Ausbau des Bildungssystems und mit einer wirkungsvollen Eindämmung des Terrors rasch reagiert, bis am Ausgang der Epoche mit der Wiedervereinigung Optimisten neue Nahrung erhielten.

Wie die politischen Akteure auf diese Transformationsprozesse reagierten, sollte in einem letzten Schritt ausgelotet werden. Manfred G. Schmidt (Heidelberg) problematisierte „Ausbaureformen und Sanierungsbedarf“ des Sozialstaates. Aufbauend auf dem Fundament einer auch im internationalen Vergleich ehrgeizigen Sozialgesetzgebung der 1950er-Jahre, habe die sozialliberale Koalition bis 1974 im Zeichen eines konsequenten Machbarkeits- und Planungsoptimismus einen rasanten Ausbau der Sozialpolitik betrieben. Nach der Rezession 1974/75 wechselten sich Befestigung des Sozialstaates und „begrenzte finanzpolitische Disziplinierung“ ab; die Sanierung der „aus dem Lot geratenen Sozialpolitik“ sei aber weitgehend unterblieben. Nach der „Wende“ 1982 beabsichtigten Union und FDP eine finanzielle Konsolidierung des Sozialetats, die durchaus gelungen sei, während strukturelle Reformen am Widerstand des Sozialministers Norbert Blüm scheiterten. Insgesamt konstatierte Schmidt für den Untersuchungszeitrum sozialpolitische Strukturkonstanz. Diese gründe im bundesdeutschen System des „Machtaufteilungsstaates“ mit seinen zahlreichen Vetospielern, in einem Parteiensystem mit „zwei großen Sozialstaatsparteien“, schließlich im konstant hohen Problemdruck, der sich wiederum aus dem Erbe der „viel zu optimistischen Sozialgesetzgebung“ der 1950er- bis 1970er-Jahre speise.

Tendenziell kritisch äußerte sich auch Peter Graf Kielmansegg. Grundsätzlich reagiere die Politik nur auf Herausforderungen, die sie als solche wahrnehme. In den 1970er/80er-Jahren hätten der Ost-West-Konflikt, die Ölkrise und die Neuen Sozialen Bewegungen die politische Agenda beherrscht, nicht aber langfristige Transformationsprozesse, von denen Graf Kielmansegg vier mit „Agenda-Qualität“ herausgriff: die Ökonomie, die ökologischen Folgekosten der modernen Zivilisation, den demographischen Strukturwandel und den Anstieg von Migration in die „Wohlstandszonen“ USA und Europa. Graf Kielmansegg vermerkte „ein erhebliches Maß an Zukunftsvernachlässigung“ in der Bundesrepublik: Zwar habe man in umweltpolitischer Hinsicht rasch reagiert, aber eine „erstaunliche Blindheit“ gegenüber der demographischen Entwicklung und einer Immigration ohne Integration gezeigt; auch auf die Internationalisierung von Wirtschaftsbeziehungen sei man wenig vorbereitet gewesen. Zur Erklärung dessen verwies Graf Kielmansegg ähnlich wie Schmidt auf das komplexe politische System der Bundesrepublik mit seiner hohen Zahl an Vetospielern und auf die Logik des Wettbewerbs, die das Aufschiebbare aufschieben ließ. Auch spezifisch deutsche Wahrnehmungsmuster hätten Wirkung entfaltet: Bevölkerungspolitik sei durch die NS-Erfahrung tabuisiert worden, und mit Migration habe sich schwerlich umgehen lassen, da das notwendige Maß an eigener nationaler Identität gefehlt habe.

Demgegenüber verstanden Florian Grotz und Joachim Jens Hesse (Berlin) das „Reifen der Republik“ in einem positiveren Sinne. Ausgehend von der Problemstellung, die bundesdeutsche Politik in ihren internationalen Kontexten zu werten, griffen sie drei Politikfelder heraus: Institutionenpolitik als Reform von Staat und Verwaltung, Umwelt- und Europapolitik. Vor allem in den beiden letzten Bereichen hätten die Regierungen der 1970er/80er-Jahre kontinuierlich exogene wie endogene Kontextveränderungen verarbeitet, wenn sich auch verfahrensbezogene und inhaltliche Kontinuitäten abzeichneten. Hans Günter Hockerts (München) wollte in seinem Kommentar gerade das erste genannte Politikfeld, die Reform der bundesstaatlichen Ordnung, mit Verweis auf die nur partielle Entflechtung des „Blockadeföderalismus“ kritischer gewichtet wissen und verwies darauf, dass die Politik nicht nur einseitig auf Herausforderungen reagiere, sondern oftmals auch den Problemdruck selbst mit aufgebaut habe. Zudem formulierte er die grundsätzliche Frage nach Normen und Maßstäben, die der Historiker anlege, wenn er die Reaktion politischer Akteure auf säkulare Prozesse bewerten und die „Agendaqualitäten“ von Politikfeldern abschätzen wolle.

Positiv wertete Andreas Wirsching abschließend den Versuch, die Geschichte der 1970er/80er-Jahre in einem interdisziplinären Rahmen zu diskutieren. Die These von einem eigenen Profil der Epoche, von einer Zäsur um das Jahr 1970 hätten die wirtschaftshistorischen Beiträge mit dem Verweis auf die deutlich verstärkte ökonomische Internationalisierung, die veränderte Marktsituation und das Abflachen des Wirtschaftswachstums bestätigt. In ebendiese Richtung deuteten auch die Beiträge zur gesellschaftlichen Pluralisierung und Neuformierung: Die „Prosperitätskultur“ (Hradil) der 1970er-Jahre habe ein nie gekanntes Maß an Wahlfreiheit eröffnet, deren Grenzen unter dem Stichwort „Neue Armut“ vor allem in den 1980er-Jahren evident geworden seien. Zwar benannten mehrere Diskussionsbeiträge (Werner Plumpe, Hans Günter Hockerts) Kontinuitätslinien aus den 1960er-Jahren, in denen sich der Weltmarkt bereits öffnete und sich plurale Lebensmodelle abzeichneten. Im Ergebnis aber sah Wirsching das Bild einer historisch distinkten Epoche, einer „Scharnierzeit“ überwiegen, in der ganz unterschiedliche, in der Vergangenheit begründete Prozesse zusammenliefen und sich beschleunigten. Als noch offenen Aspekt benannte Wirsching die Binnendifferenzierung beider Dekaden und das Eigenprofil der 1980er-Jahre, die einen erneuten Paradigmenwechsel hin zu Fortschrittsoptimismus und technologischer Euphorie einleiteten. In weiteren Forschungen zu klären seien ferner die in München vieldiskutierten Fragen nach der Rolle des Staates innerhalb der sozioökonomischen Wandlungsprozesse und nach seiner Responsivität – inwiefern wandelte er sich zur allumfassenden „Serviceagentur“ (Hockerts) für den Bürger, zum Verhandlungsführer in einem komplexen System der „Vetospieler“, der zugleich Kompetenzen an die EG transferieren musste?

In der Tat betonten mehrere Diskussionsteilnehmer den Einfluss der europäischen Integration auf ökonomische und technologische Entwicklungen in der Bundesrepublik. Demgegenüber fokussierten Anselm Doering-Manteuffel (Tübingen) und Graf Kielmansegg die Bedeutung des Ost-West-Konflikts als Motor vielfältiger Prozesse. Überhaupt zeichnete sich das Wechselverhältnis zwischen westeuropäischen bzw. westlichen und globalen Einflüssen als wichtige Fragestellung ab, wenn man sozioökonomische und sozialkulturelle Veränderungsprozesse in den Blick nimmt, ebenso wie endogene Entwicklungen bzw. nationale Spezifika und globale Einflüsse zu differenzieren sind. In den Diskussionen verwiesen Martin Sabrow und Michael Schwartz (Berlin) zudem auf die deutsch-deutsche Dimension, welche im Sinne des innerdeutschen Systemwettbewerbs bundesdeutsche Prozesse beeinflusste, aber auch als Ebene vergleichender Untersuchungen den Blick für gesellschaftliche und kulturelle Wandlungsprozesse schärfen könne.

Insgesamt zeigte die Tagung in München, deren Beiträge in einer Reihe des Instituts für Zeitgeschichte publiziert werden sollen, wie befruchtend das interdisziplinäre Gespräch wirken kann: Es lieferte leitende Interpretationsmuster und eine Fülle von Anregungen zur Erforschung einer Periode, von der die Zeitgeschichtsschreibung bereits so viel weiß wie von keiner anderen Zeit, die sie aber nun mit ihren eigenen Methoden neu erschließt, indem sie auf breiter Quellenbasis und in empirisch-hermeneutischer Weise spezifische Prozesse des Wandels in diachroner Perspektive deutet und in übergreifende Zusammenhänge einordnet.

Anmerkungen:
1 U.a. Rödder, Andreas, Die Bundesrepublik Deutschland 1969-1990, München 2003; Wirsching, Andreas, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982-1990, München 2006.

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