Transnationalität in Osteuropa

Transnationalität in Osteuropa

Organisatoren
Verband der Osteuropahistoriker/innen Deutschlands und das Herder-Institut e.V. Marburg
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.02.2007 - 23.02.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Jörg Ganzenmüller, Historisches Seminar, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Welchen Erkenntnisgewinn verspricht ein transnationaler Zugang zur Geschichte des östlichen Europas? Worin besteht der Mehrwert einer transnationalen Geschichtsschreibung im Unterschied zu einer internationalen, multilateralen, transkulturellen oder vergleichenden Historiografie? Welche Definition des Begriffs „Transnationalität“ ermöglicht es schließlich, ihn auch empirisch fruchtbar zu machen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Tagung „Transnationalität in Osteuropa“, die vom Verband der Osteuropahistoriker/innen Deutschlands und dem Herder-Institut am 22./23. Februar 2007 gemeinsam ausgerichtet wurde.

Das erste Panel stand unter der Überschrift „Globalisierung und Nationalisierung“. Claudia Weber (Leipzig) plädierte zunächst dafür, die Ermordung von rund 4.500 polnischen Offizieren durch den NKWD im Wald von Katyn als eine transnationale Geschichte zu schreiben. Die Einordnung des Ereignisses in eine stalinistische und europäische Gewaltgeschichte ermögliche eine Neuinterpretation „Katyns“, dessen Deutung immer noch zu stark in der polnischen Nationalgeschichte verhaftet sei.

Mathias Mesenhöller (Leipzig) zeigte am Beispiel der polnischen Diaspora im 19. und 20. Jahrhundert, dass Migration nicht als linearer, sondern als zirkulärer Prozess zu verstehen sei. Auswanderung bedeute weder ein Abschneiden von heimatlichen Bezügen noch ein vollständiges Aufgehen in einer neuen Gesellschaft. Stattdessen wirke die Emigration in die alte Heimat zurück. Indem eine enge Verflechtung zwischen dem Herkunftsland und den Auswanderern fortbestanden habe, sei es bei den „Daheimgebliebenen“ zu einer „Globalisierung von Bezügen und Vorstellungen“ gekommen.

Sarah Lemmen (Leipzig) erläuterte anhand von tschechischen Reiseberichten aus der Zwischenkriegszeit, wie Alteritätserfahrungen in nordafrikanischen und asiatischen Ländern auf die nationale Identitätsbildung zurückwirkten. Indem die Reisenden „Europa“ als Gegenentwurf zu den bereisten Ländern wahrnahmen, definierten sie sich selbst nicht nur als „Tschechen“, sondern verstärkt auch als „Europäer“.

Mária Hidvégi (Leipzig) untersuchte am Beispiel der Vereinigten Glühlampen- und Elektrizitäts-AG Ujpest (Tungsram), einem der einst führenden europäischen Glühlampenproduzenten, transnationale Verflechtungen in der Weltwirtschaft in der Zwischenkriegszeit. Die führenden Betriebe der europäischen Elektroindustrie unterliefen als Produzenten eines der ersten global standardisierten Massenprodukte, der Glühbirne, die protektionistische Wirtschaftspolitik jener Zeit durch Preisabsprachen und Marktaufteilung im Rahmen eines internationalen Glühlampenkartells. Die Herausforderung, als international tätiges Unternehmen auf unterschiedlichen nationalen Märkten zu agieren, begegnete man also nicht zuletzt mit einer intensivierten transnationalen Verflechtung der Unternehmen.

In der anschließenden Diskussion stand die Frage im Mittelpunkt, ob das Konzept einer transnationalen Geschichte die vorgestellten Ergebnisse hervorgebracht habe und inwieweit man ohne das Etikett der transnationalen Geschichtsschreibung zu den gleichen Resultaten gekommen wäre? Joachim von Puttkamer (Jena) sah in Claudia Webers Forderung, Katyn stärker in den Kontext stalinistischer Nationalitätenpolitik und einer Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts einzuordnen, eher eine Anknüpfung an die Arbeiten von Jörg Baberowski und Stefan Plaggenborg. Dies sei legitim, doch benötige man dafür den Begriff „transnational“ nicht. Dagegen sah man in der Herangehensweise von Mathias Mesenhöller die Möglichkeiten einer transnationalen Geschichtsschreibung beispielhaft demonstriert. Zwar wollte Hans-Jürgen Bömelburg (Lüneburg) der These, die Polen hätten sich in der Emigration nationalisiert, nicht ohne weiteres folgen, da er sie für empirisch nicht beweisbar hielt. Claudia Kraft (Erfurt) strich jedoch die Beobachtung Mesenhöllers heraus, dass der transnationale dem geschlechtergeschichtlichen Zugang folge, der Frauen und Männer zueinander in Relation setze und daraus seine Fragestellungen entwickle. Insofern sah sie weniger im Grad der Nationalisierung die entscheidende Frage, sondern darin, worüber die Diaspora und das Mutterland verhandelten. Peter Haslinger (München) wies schließlich darauf hin, dass Globalisierung, Nationalisierung und Lokalisierung eng miteinander zusammenhingen und dass gerade diese gleichzeitig stattfindenden und aufeinander bezogenen Prozesse der Untersuchungsgegenstand einer transnationalen Geschichte sein sollten.

Zu Beginn des zweiten Panels stellte Damien Tricoire (München) die Ausbreitung des Marienpatronats im Polen des 17. Jahrhunderts in einen transnationalen Kontext. Er beleuchtete die europaweite Ausbreitung dieses Phänomens und beschrieb die unterschiedlichen Formen der Aneignung als einen Kulturtransfer. Transfer verstand er dabei explizit nicht als eine Einbahnstraße, sondern betonte vielmehr die interkulturellen Wechselbeziehungen.

Heidi Hein-Kircher (Marburg) stellte mit Lemberg einen urbanen Raum als Zone des transnationalen Kontakts und Austauschs in den Mittelpunkt ihres Vortrags. Am Beispiel der Kommunalpolitik zeichnete sie das Bild einer Vielvölkerstadt, in der Polen, Juden und Ukrainer beinahe ohne Berührungspunkte nebeneinander koexistierten und kaum Züge einer Gemeinschaft aufwiesen.

Stefan Rohdewald (Passau) zeigte, wie Erinnerungsfiguren der orthodoxen Südslawen, die einen religiösen und transnationalen Ursprung hatten, sich im 19. Jahrhundert zunehmend säkularisierten und nationalisierten. Dabei konkurrierten die bulgarische und die serbische Erinnerung verstärkt im Bestreben, die beiden Slawenapostel Kyrill und Method für die jeweils eigene nationale Identität zu vereinnahmen.

In der Diskussion stand die Frage nach der Abgrenzung einer transnationalen Geschichte zu anderen methodischen Zugängen im Mittelpunkt. Vor allem der Vortrag von Damien Tricoire wurde als ein geeignetes Thema für einen transnationalen Zugang angesehen, da die Übernahme des Marienpatronats in Polen zum einen kein bilateraler Austausch gewesen sei (Ludwig Steindorff, Kiel). Zum anderen sei dafür auch kein Kulturtransfer nötig gewesen (Dittmar Schorkowitz, Berlin). Hingegen wurde der Beitrag von Heidi Hein-Kircher als ein Beispiel für das multiethnische Zusammenleben in einer ostmitteleuropäischen Stadt gesehen, das auch ohne den Begriff „transnational“ zu wichtigen Ergebnissen komme. Jörn Happel (Basel) regte vielmehr an, für Lemberg das Konzept der Lebenswelten fruchtbar zu machen, da auf diese Weise die Grenzen der scheinbar getrennten Sphären möglicherweise verschwimmen würden.

In der dritten Sektion analysierte Julia Eichenberg (Tübingen) zunächst die transnationale Vernetzung polnischer Kriegsveteranen des Ersten Weltkrieges in internationalen Veteranenverbänden. Als transnationale Kommunikationsgemeinschaft seien die Veteranen durch eine pazifistische Grundeinstellung verbunden gewesen. Diese trugen sie in die jeweiligen nationalen Öffentlichkeiten hinein, indem sie dort für Abrüstung und Konfliktvermeidung eintraten. Gleichzeitig fungierten die Veteranenverbände auf nationaler Ebene als Interessenvertretung und setzten sich für Rentenansprüche, die Versorgung von Invaliden, Witwen und Waisen, die Reintegration von Veteranen in den Arbeitsmarkt sowie die Versorgung bei Arbeitslosigkeit ein.

Kornélia Papp (Berlin) verglich die Rückkehr von deutschen und ungarischen Exilschriftstellern aus dem sowjetischen Exil nach 1945. Sie zeigte die engen Kontakte des ungarischen und des deutschen Exils in der Sowjetunion, die sich jedoch nach der Rückkehr in ihre Heimatländer wieder lösten. Dieses Beispiel diente als Beleg dafür, dass eine transnationale Geschichte nicht nur einen permanent fortschreitenden Verflechtungsprozess beschreiben muss, sondern auch die Entflechtung einmal geknüpfter Verbindungen zum Thema haben kann.

Daniel Logemann (Jena) beleuchtete die transnationale Vernetzung deutsch-polnischer Alltagskontakte im Leipzig der siebziger und achtziger Jahre, indem er Einkaufstourismus, Schmuggel und Schleichhandel zum Gegenstand seiner Untersuchung machte. Die DDR kriminalisierte zwar den Schleichhandel, konnte ihn aber zu keiner Zeit unterbinden, da Staatsbetriebe und staatliche Repräsentanten allzu oft selbst Teil jener transnationalen Strategien des Ausgleichs in der sozialistischen Mangelwirtschaft waren.

Die drei Beiträge regten die Diskutanten zu einer stärkeren Abgrenzung des Begriffs „Transnationalität“ von benachbarten Termini an. So hielt Ingo Eser (Berlin) die polnischen Veteranenverbänden weniger für transnationale, als vielmehr für internationale Organisationen, die sich selbst als solche verstanden und deshalb den Begriff „international“ auch in ihrem Namen führten. Julia Obertreis (Freiburg i. Br.) sah in dem Beitrag von Kornélia Papp eher einen klassischen Vergleich zwischen den Remigranten in Ungarn und der SBZ/DDR. Peter Haslinger hob hervor, dass der Begriff „multilateral“ eine gewisse Verfasstheit voraussetze, während der Begriff „transnational“, eher die Alltagskontakte zeige und die Prozesshaftigkeit betone, was in den Beiträgen von Daniel Logemann und Julia Eichenberg deutlich zum Ausdruck gekommen sei. Joachim von Puttkamer griff dies auf und betonte, dass das Wechselverhältnis zwischen Nationalem und Transnationalem der Gegenstand einer transnationalen Geschichte sein sollte. So habe das Beispiel der polnischen Veteranenverbände gezeigt, dass die transnationale Verflechtung nicht nur deren Selbstbild beeinflusst. Die von den Verbänden aufgeworfenen Themen Pazifismus und soziale Versorgung hätten diese vielmehr in ein Spannungsverhältnis zu ihren nationalen Regierungen gebracht. Die transnationale Untersuchung des polnisch-deutschen Schleichhandels mache den Blick auf das Wechselverhältnis zwischen Brüchen an den Berührungspunkten staatlich verfasster Volkswirtschaften einerseits und den staatlichen Stabilisierungsversuchen andererseits erst frei.

Das vierte Panel hatte den Orientalismus als übergreifendes Thema und erweiterte den bisherigen Blick um eine transkontinentale Perspektive. Martin Faber (Freiburg i. Br.) charakterisierte zunächst die Beziehung des polnischen Adels zum Orient als ein zwiespältiges Verhältnis: Außenpolitisch habe man sich zwar als Schutzwall der Christenheit gesehen, doch gleichzeitig versuchte die Szlachta Kriege zu vermeiden, weil sie fürchtete, diese Ausnahmesituation könnte die Stellung des Monarchen stärken. Ähnlich fiel der Befund für den Bereich der sarmatischen Kultur aus. In der Ornamentik, bei Kleidung und Waffen seien die orientalischen Einflüsse auf den polnischen Adel unübersehbar. Gleichzeitig erfolgte eine starke Abgrenzung im Bereich der Sitten und des Denkens, da die Türkei in den Augen der Szlachta der Inbegriff des Despotismus und somit der Gegenentwurf zur Adelsrepublik gewesen sei.

Jörn Happel (Basel) zeigte am Beispiel des Rittmeisters Vladimir Železnjakov, wie die alltägliche Begegnung eines zarischen Beamten mit der Lebenswelt zentralasiatischer Nomaden dessen Wahrnehmung und Beurteilung der einstmals „Fremden“ beeinflusste. Anlässlich des zarischen Einberufungsbefehls im Juni 1916 schlüpfte Železnjakov in die Rolle des kulturellen Übersetzers und versuchte der Regierung in Petrograd zu vermitteln, dass einem Nomaden der Dienst in der zarischen Armee unmöglich sei. Die Verflechtung der Lebenswelten von kolonisierten Nomaden und zarischen Repräsentanten habe also auf die Wahrnehmung und Einstellung aller Beteiligten zurückgewirkt.

Ragna Boden (Marburg/ Gießen) zeigte einerseits die mangelnde transnationale Vernetzung der sowjetischen Orientalistik auf und wies andererseits darauf hin, dass auch sowjetische Wissenschaftler den Orient vor allem als das Andere konstruierten und somit jenen Orientalismus pflegten, wie er der westlichen Orientwissenschaft schon 1978 von Edward Said vorgeworfen worden war. Leider hielt sich die folgende Diskussion allzu sehr bei Einzelaspekten auf und griff die insbesondere von Ragna Boden vorgebrachte Frage nicht auf, inwieweit Saids Kritik am Orientalismus als eine westliche Betrachtung des Orients auch für die Osteuropahistoriker fruchtbar gemacht werden könne.

Ludwig Steindorff wies in einem abschließenden Diskussionsbeitrag auf das Problem hin, dass viele der vorgestellten Themen auch gänzlich ohne den Begriff „transnational“ ausgekommen wären. Dies mag nicht zuletzt daran gelegen haben, dass man sich zu Beginn der Tagung nicht auf eine gemeinsame Begriffsdefinition verständigt hatte. Doch haben die Vorträge und der Verlauf der Diskussion deutlich gemacht, was ein transnationaler Zugriff leisten kann und wo der Zugang ins Leere läuft. Erkenntnispotenzial scheint vor allem dort zu liegen, wo nicht nur Verflechtungen untersucht werden, die über den Nationalstaat hinaus reichen, sondern vor allem transnationale Konstellationen ins Blickfeld rücken, in denen die Nation weiterhin ein zentraler Bezugspunkt ist.

Insgesamt hat es sich bewährt, Transnationalität als eine Möglichkeit zu begreifen, neue Themen und Fragestellungen zu erschließen, die bislang nicht im Fokus der Forschung lagen. In der empirischen Bearbeitung dieser neuen Themen und Fragen liegt die Chance, zu neuen Erkenntnissen und neuen Interpretationen zu gelangen. Weniger weiterführend hingegen scheint es zu sein, etablierte Themen und Konzepte in einen neuen, transnationalen Interpretationskontext zu stellen. Dies führt weder zu neuen Fragestellungen noch zu originellen Thesen. Natürlich kann auch die Bearbeitung solcher Themen neue Erkenntnisse zu Tage fördern, doch benötigt man dazu den Begriff „transnational“ nicht.