Der Kartograph und sein Leser. Die Produktion und Rezeption von Karten von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart

Der Kartograph und sein Leser. Die Produktion und Rezeption von Karten von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart

Organisatoren
Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald, Tagungsleitung: HD Dr. Ute Schneider (Darmstadt), Prof. Dr. Hans-Dietrich Schultz (Berlin)
Ort
Greifswald
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.03.2007 - 21.03.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Ulrike Jureit, Hamburger Institut für Sozialforschung

Für Benedict Anderson gehört neben dem Museum und der Volkszählung auch die Landkarte zu den zentralen Instrumenten politischer Vergemeinschaftungen. Die Kartographie ist daher nicht nur eine kulturelle Technik zur Visualisierung von Räumen, sondern Teil der räumlichen Konstituierung selbst. Ob die 1482 nach Ptolemaios im Holzschnitt hergestellte Karte, auf der die Welt erstmals geographisch statt heilsgeschichtlich organisiert ist, oder die anlässlich der EU-Erweiterung auf einer irischen Sonderbriefmarke abgebildete Europakarte, die statt Zypern Kreta als neues Mitglied ausweist – alle Karten haben eines gemeinsam: Sie zeigen keine objektiven Gegebenheiten, sondern reproduzieren gesellschaftstypische Wahrnehmungsmuster von Welt.1 Unter Kartographie versteht man die Kunst, die Wissenschaft und die Technik, Karten herzustellen (Sara Irina Fabrikant). Kartographieren bedeutet, komplexe und oft auch widersprüchliche Entwürfe von Räumen zu vereindeutigen, um sie überschaubar und damit verfügbar erscheinen zu lassen. Damit ist eine Abstraktionsleistung verbunden, die verschiedene Formen von Generalisierung, Symbolisierung und Typisierung umfasst. Winkel, Flächen und Krümmungen werden geglättet, vereinfacht, stilisiert. Im Zeitalter digitaler Medien sind Karten zwar nicht mehr nur zweidimensional und damit in mancher Hinsicht präziser, objektiver sind sie dadurch keineswegs. Karten lassen sich als „hoch komplexe Superzeichen“ (Karl Schlögel) beschreiben, die im Wesentlichen durch den gewählten Maßstab und durch graphische Symbole funktionieren. Kartensprachen sind kulturelle Codes, die trotz ihrer offensichtlichen Konstruktionsleistung objektiv wirken und eine enorme visuelle Evidenz besitzen. Ob schnöder Stadtplan oder virtueller Rausch bei Google Earth - die Erwartung des Wirklichen ist weiterhin ungebrochen. Karten tragen entscheidend dazu bei, dass Räumlichkeit als harte Materialität empfunden wird.

Trotz des täglichen Gebrauchs unterschiedlichster kartographischer Erzeugnisse und ihrer enormen Wirkung auf unsere Raumvorstellungen wissen wir immer noch zu wenig darüber, wie Karten in den letzten fünfhundert Jahren hergestellt, wie sie verbreitet, genutzt und vor allem gelesen wurden. Diesen Forschungslücken einmal systematischer nachzugehen, war erklärtes Ziel einer interdisziplinären Tagung, die vom 19.-21. März 2007 unter Leitung von Ute Schneider (Darmstadt) und Hans-Dietrich Schultz (Berlin) im Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald stattfand. Die Tagungsorganisatoren meinten es ernst, als sie unter dem Titel Der Kartograph und sein Leser zum interdisziplinären Dialog einluden: Nicht nur Geographen, Historiker und Kartographen waren vertreten, sondern auch Philosophen, Kunsthistoriker und Didaktiker. Und entgegen der üblichen Wissenschaftspraxis war fast die Hälfte der Referenten weiblich. Auch blieb die beanspruchte Interdisziplinarität kein theoretisches oder strategisches Bekenntnis, sondern erwies sich in diesem Fall als ausgesprochen konstruktiv, da sich durch den gleichzeitigen Blick auf Visualität und Text ein viel versprechender Zugriff auf das sowohl historische wie auch zeitgenössische Kartenmaterial abzeichnete.

Die fachliche Vielfalt sorgte für ein breites und mitunter zu heterogenes Vortragsprogramm: Ob es um die aktuelle Kartenbegeisterung (Wolfgang Crom, Berlin), um die Veränderung von Raumbildern durch digitalisierte Verfahren (Doris Dransch, Potsdam), um die Internationale Weltkarte (IWK) als Orientierungshilfe (Ute Schneider, Darmstadt), um die zu erlernende Kompetenz des Kartenlesens (Vadim Oswalt, Gießen) oder um einen praxisnahen Einblick in die Werkstatt einer Kartographin (Sara Irina Fabrikant, Zürich) ging: Vorträge und Diskussionen kreisten immer wieder um die Frage, was genau passiert, wenn Wissen in Karten transformiert wird. Während sich Martina Stercken (Zürich) diesem Problem anhand mittelalterlicher Karten näherte, Tanja Michalsky (München) der Visualisierung von Geschichte in frühneuzeitlichen Quellen nachging, Reinhard Zölitz-Möller (Greifswald) von einem Projekt über die Ende des 17. Jahrhunderts von schwedischen Landvermessern erstellten Matrikelkarten von Pommern berichtete und Iris Schröder (Berlin) die Konkurrenz von Geographie und Kartographie im 19. Jahrhundert hervorhob, skizzierte Ute Wardenga (Leipzig) ein sowohl unter kartographischen als auch historischen Gesichtspunkten bemerkenswertes Forschungsvorhaben. Eine Forschergruppe am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig analysiert die Kartenproduktion des Perthes-Verlages in der Ära Petermann (1855-1884) und kann dabei auf einen wohl außergewöhnlichen Archivbestand zurückgreifen, der es erlaubt, die einzelnen Techniken, Mechanismen und Praktiken der Kartenherstellung herauszuarbeiten und diesen Vorgang als einen komplexen Aushandlungsprozess zwischen unterschiedlichen Akteuren nachzuvollziehen. Wie wurden die Daten auf den Forschungsreisen erhoben? Wie hat man die Informationen fixiert, übermittelt, gedeutet? Welche Rolle spielten die technischen Produktionsverfahren? Was verändert sich, wenn beispielsweise geographisches Wissen über Afrika in eine Karte übersetzt wird? Auf die Ergebnisse dieses Projektes darf man gespannt sein.

Spannend waren auch die Vorträge, die sich mit der Wirkung und manipulativen Verwendung von Kartenmaterial beschäftigten. Heinz-Peter Brogiato (Leipzig) bezog sich in seinem Vortrag dabei auf Schulatlanten, Holger Wild (Leipzig) wandte sich der stattlichen Einflussnahme auf das Kartenwesen der DDR zu und Hans-Dietrich Schultz (Berlin) untersuchte das Deutschlandkonzept der Schulgeographie in der Zwischenkriegszeit. Die suggestive Kartographie - man betrachte nur die von Albrecht Penck 1926 veröffentlichte Karte zum „deutschen Volks- und Kulturboden“ - stand ganz im „Dienst am Volk“ und nutzte moderne Erkenntnisse visueller Darstellung, um nach 1918 einen politischen Revisionismus kartographisch zu unterfüttern. Daher gehörten auch nicht nur die mit den Versailler Verträgen erzwungenen Gebietsverluste zu den bearbeiteten Themen, sondern der nach „völkischen“ Gesichtspunkten kurzerhand als „deutsch“ definierte Raum wurde so bereits visuell vereinnahmt. Die Frage, wann und wodurch Karten in diesem Sinne propagandistisch sind oder werden, bedarf sicherlich noch weiterer Forschungsanstrengungen, die über den konkreten historischen Zusammenhang der Zwischenkriegszeit weit hinausweisen.

Einen forschungspraktischen Bezug hatte die Präsentation von Andreas Kunz (Mainz). Er stellte das am Institut für Europäische Geschichte in Mainz erarbeitete multimediale Informationssystem zur deutschen Staatenwelt im 19. Jahrhundert (HGIS) vor. Unter der Internetadresse www.hgis-germany.de ist nun so ziemlich alles, was man sich noch nie merken konnte, kartographisch verfügbar: Wo verlief 1865 eigentlich die Grenze zwischen Preußen und Österreich? Welche Staaten gehörten zum Norddeutschen Bund? Und wie viele Einwohner hatte eigentlich Reuß-Lobenstein? Das HGIS systematisiert und visualisiert nicht nur enzyklopädisches Wissen über deutsche Staaten, Grenzen und Dynastien, es liefert darüber hinaus auch Informationen zum Bevölkerungswachstum, zur Entwicklung der Eisenbahn und anderen Infrastrukturprojekten sowie ein multimedial aufbereitetes Basiswissen zur deutschen Staatenwelt. Während sich einige möglicherweise fragen, ob man das wirklich alles wissen muss, hat sich für viele der praktische Nutzen dieser Datenbank längst erwiesen. Für andere kartographische Erzeugnisse muss sich ein solcher erst noch herausstellen. Das wurde besonders an zwei Beiträgen deutlich: Elmar Holenstein (Zürich/Yokohama) reflektierte in einem öffentlichen Abendvortrag die Entstehung eines Philosophie-Atlasses, und eine Forschergruppe um Lutz Raphael (Trier) stellte ein internationales Kartierungsprojekt zu den Institutionen der europäischen Geschichtsschreibung zwischen 1800 und 2000 vor. Ziel des letzteren ist es, die unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken in den einzelnen Ländern vergleichend aufzuarbeiten, indem sie – zunächst gedruckt, später online – in zahlreichen Übersichts- und Detailkarten systematisiert werden. Beide Beiträge lösten unter den Zuhörern eine kontroverse Debatte über den zu erwartenden Erkenntnisgewinn aus. Und es drängte sich die Frage auf, in welchem Verhältnis der erforderliche Arbeitsaufwand zu den Ergebnissen stehen wird. Dass sich solche kritischen Nachfragen besonders an wissenschaftshistorischen Projekten festmachten, mag man als symptomatisch ansehen, fest steht allerdings, dass angesichts des inzwischen technisch Möglichen noch sehr viel intensiver darüber nachzudenken sein wird, wann eine kartographische Verarbeitung von Informationen wirklich sinnvoll ist und wann nicht. Für eine interdisziplinäre Forschergruppe zur Kartographie, wie sie auf der Tagung angedacht wurde, gäbe es also mit Sicherheit genügend zu tun.

Anmerkung:
1 Vgl. Schneider, Ute, Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2004.


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts