Leitbild Europa? Europabilder und ihre Wirkungen in der Neuzeit. Ausgewählte Beispiele

Leitbild Europa? Europabilder und ihre Wirkungen in der Neuzeit. Ausgewählte Beispiele

Organisatoren
Arbeitsstelle "Geschichte und Öffentlichkeit" am Historischen Seminar II der Universität zu Köln; Ranke-Gesellschaft; Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V.; Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Nordrhein-Westfalen; Vertretung der Europäischen Kommision in Bonn
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.03.2007 - 23.03.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Abdurrahman Kulac; Lars Maus; Jürgen Nielsen-Sikora; Jens Ruppenthal; Ina Wachendorf

Ziel der Tagung war es, anhand einer Analyse der Leitbilder, die es im Verlauf der Geschichte in Bezug auf Europa gegeben hat, deren historische Genese und Vielfalt aufzuzeigen. Ausgehend von ausgewählten Fallbeispielen aus dem politisch-ökonomischen und dem gesellschaftlich-kulturellen Bereich sollten unterschiedliche Formen der Nutzung und Instrumentalisierung des Begriffs „Europa“ als Leitbild nachgezeichnet, sowie die damit einhergehenden Wirkungen in Wissenschaft und Öffentlichkeit herausgearbeitet werden, um mögliche Wege, die der europäische Integrationsprozess nehmen könnte, zu diskutieren. Die gut besuchte Tagung fand in den Räumen der Vertretung der EU-Kommission in Bonn statt und erwies sich als außerordentlich lebendig und ertragreich.

Die Leiterin der Kommissionsvertretung in Bonn, Barbara Gessler, verwies in ihrer Eröffnungsansprache auf die bevorstehende Veröffentlichung der „Berliner Erklärung“. Die Erklärung werde nicht nur einen Blick in die Zukunft, sondern auch einen in die Geschichte des Integrationsprozesses werfen. Gerade in diesen Tagen gelte es, Europa neu zu erfinden. Dazu müsse man sich insbesondere die Frage nach dem Leitbild Europas stellen. Wichtig seien in diesem Kontext der öffentliche Nachhall und die Fortschreibung eines „Europa der Projekte.“

Der Vorsitzende der Ranke-Gesellschaft und Organisator der Tagung, Professor Jürgen Elvert, sprach gleich zu Beginn von der schwersten Krise des Einigungsprozesses. Vielleicht, so seine Vermutung, sei die Osterweiterung der EU zu diesem frühen Zeitpunkt ein Fehler. Die Ablehnung des Verfassungsvertrags sowie die daran anschließende „Denkpause“ seien zumindest Indizien hierfür gewesen. Auf der anderen Seite sah Elvert in der Krise eine große Chance für Europa. So viel Europa sei noch nie gewesen, so Elvert. Doch ohne ein funktionierendes Leitbild werde Europa keinen Fortschritt machen. Denn menschliches Verhalten richte sich nun mal nach Leitbildern im Sinne orientierender Realitätsdeutungen, die auf eigener Erfahrung und auf der Vermittlung fremder Erfahrungen beruhten. Was in der Lebenswelt an Ansprüchen und Zumutungen, an Sinngehalten und Widerfahrnissen vorkomme, werde indessen nicht einfach hingenommen. Leitbilder trieben den Entwurf einer Alternative hervor, eines neuen Bildes sinnvoller oder sinnträchtiger Verhältnisse. Leitbilder hätten dementsprechend entweder eine Orientierungsfunktion, die jedoch nur in Grenzen nachvollziehbar sei, da Leitbilder auch als Ausdruck eines Prozesses gelesen werden könnten, oder sie hätten eine Koordinierungsfunktion, die dahingehend relativiert werden müsse, dass sie nur dann trage, wenn die alternativen Denkmuster grundsätzlich alternativ seien, das heißt, sie funktioniere allenfalls bei Alternativen im Rahmen des Gegebenen, nicht aber bei – auf die Systemgrenze bezogenen – Basiskonflikten. Leitbilder hätten aber auch eine Motivationsfunktion, die davon ausgehe, dass appelativ-rhetorische Strategien in der Politik auf eine gewisse Resonanz in der Bevölkerung stießen.

Nordrhein-Westfalens Europaminister Michael Breuer war der Auffassung, dass ohne Berücksichtigung der Europäischen Integration jeder Versuch, ein Leitbild zu schaffen, zum Scheitern verurteilt sei. Als alternativlos bezeichnete er den europäischen Einigungsprozess. Er sah aber auch, dass viele Menschen dem Tempo, das Europa heute vorlegt, nicht mehr folgen könnten und verlangte, den Menschen klar zu machen, dass die Bewahrung und Entwicklung der Werte der EU nur durch entschlossenes Handeln sicherzustellen sei. Dazu müsse die europäische Öffentlichkeit stärker als bislang eingebunden werden. In Nordrhein-Westfalen sah er diesbezüglich gute Bedingungen gegeben. Europa profitiere von NRW wie auch NRW von Europa profitiere.

Im Anschluss an die Eröffnungsbeiträge befasste sich die erste Tagungssektion mit Leitbildern von Europa in der Frühen Neuzeit. Mathias Asche (Tübingen) verwies in seinem Impulsreferat darauf, dass alteuropäische Leitbilder vorwiegend religiös geprägt waren. Ein gesamteuropäisches Denken lasse sich im Mittelalter nur bedingt konstatieren, vielmehr sei jeweils die eigene staatliche Exklusivität zentral. Die Idee von Europa sei im Mittelalter zunächst durch heidnische und christliche Elemente und durch eine einseitige Abgrenzung von außen bedingt gewesen. Europa sei geprägt durch innereuropäische Trennlinien, woraus sich drei Kulturbereiche ergeben hätten.

Caspar Hirschi (Fribourg) sprach über das Europa der Humanisten, als ein Raum für größte Katastrophen und höchste Missionen. Mit dem englischen Historiker Peter Burke fragte er „Did Europe exist before 1700?“ und erklärte, in ihrem Bemühen, dem europäischen Einigungsprozess einen historischen Unterbau zu geben, liefen Historiker Gefahr, in ähnliche Untiefen zu geraten wie die Nationalgeschichtsschreiber des 19. und 20. Jahrhunderts, indem sie Kontinuitäten konstruierten und einer Mythenbildung Vorschub leisteten, nach der die europäische Idee schon am Werke sei, wenn in den Quellen diesbezüglich „noch tiefer Winter“ herrsche. So seien etwa Dante und Erasmus in die Ahnengalerie großer Europäer aufgenommen worden, obgleich beide kaum von Europa gesprochen und sich nicht als Europäer verstanden hätten. Mit Burke wies Hirschi nach, dass Europa vor 1700 nicht existiert habe. Dennoch habe schon Thomas Münster Europa in Wort und Bild als Einheit in der Vielfalt der Regionen und Nationen konstruiert und mit diesem a-konfessionellen Entwurf den Boden für die erfolgreiche Karriere Europas als säkulares Einheitsmodell nach dem religiösen Tauwetter um 1700 bestellt.

Alfred Kohler (Wien) zeigte die Bedeutung des Staatsbegriffes und der staatlichen Diplomatie von 1453 bis 1559 auf. Der Übersprung der konstruierten epochalen Grenze habe dabei weniger eine Problematik als eine Notwendigkeit dargestellt. Europa sei geprägt gewesen durch Expansionen, zunächst von Portugal, dann von Spanien aus. Dabei habe sich durch die Änderung eines Aspektes des Mächtesystems eine Auswirkung auf den ganzen Kontinent ergeben. Die Europäische Staatenbildung habe dann infolge hegemonialer Bestrebungen Staatensysteme und somit den Dualismus zwischen System und Hegemon entstehen lassen. Dabei habe sich der Fürstenstaat bzw. die Monarchie letztlich durchgesetzt. Europa sei hierbei ein vorwiegend geographisch genutzter Begriff.

Vladimir von Schnurbein (Tübingen) befragte in seinem Vortrag den Sultan und die europäischen Mächte nach dem Leitbild Europas und erklärte, warum das Osmanische Reich nicht zum frühneuzeitlichen Europa gehört habe. Er zog einen Spannungsbogen vom 16. ins 18. Jahrhundert und legte dar, dass Europas zunächst angstvoller Blick auf das Osmanische Reich vor allem dadurch begründet gewesen sei, dass Begegnungen fast ausschließlich auf dem Schlachtfeld stattgefunden hätten. Im 18. Jahrhundert sei dann aus der europäischen Angst Arroganz geworden. Nach dem Sieg am Kahlenberg sei das Konzert der europäischen Mächte schließlich ohne das Osmanische Reich angestimmt worden.

In seinem Impulsreferat zur zweiten Sektion über das 19. und 20. Jahrhundert spannte Jürgen Elvert (Köln) einen Bogen vom Wiener Kongress bis zur Zwischenkriegszeit. In den beiden ersten Abschnitten dieses Zeitraums bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hätten die Vertreter des „Europäismus“ über politische Grenzen hinweg teils kühne europäische Zukunftsentwürfe debattiert. Gleichwohl sei der Einfluss der v. a. intellektuell geprägten Bewegung vor dem Hintergrund des erstarkenden Nationalstaats begrenzt gewesen. Unter dem Eindruck von Nationalismus und Imperialismus in der zweiten Jahrhunderthälfte bis zum Ersten Weltkrieg hätten schließlich „Europabilder als Projektionen nationaler Sehnsüchte“ die bis dato entworfenen europäischen Ordnungskonzepte abgelöst. Als Reaktion auf die durch Krieg und Nationalismus verhärteten Konfliktlinien seien dann in den 1920er-Jahren die paneuropäische Idee und zahlreiche Föderationspläne diskutiert worden. Doch auch sie befanden sich mit nationalstaatlichen Egoismen und zumal mit dem radikalen Hegemoniestreben des nationalsozialistischen Deutschland in einem Spannungsfeld, das ihnen letztlich nicht den erforderlichen Spielraum ließ, so Elvert.

Wolf D. Gruner (Rostock) erklärte den Wechsel von europäischen Leitbildern aus den Erfahrungen mit der europäischen Geschichte. Vor allem das 19. und 20. Jahrhundert seien durch strukturelle Veränderungen und Umbrüche gekennzeichnet. Doch auch Europa heute kenne die Friedenssehnsucht des 18. Jahrhunderts, wie sie von St. Pierre, Rousseau und Kant geäußert wurde. Gruner sprach diesbezüglich von der Langzeitwirkung Kants und dessen philosophisch grundgelegten Prinzipien der Homogenität, Rechtsstaatlichkeit und des Gleichgewichts. Das Prinzip des Gleichgewichts sei sodann über Gentz und Novalis hin zum föderativen Europa des 19. Jahrhunderts weiter verfolgbar. Der Deutsche Bund, der besser als sein Ruf sei, so Gruner, wurde in den Europavorstellungen des 19. Jahrhunderts als Modell betrachtet. Dennoch war Europa zu dieser Zeit kein Leitbild wie der Nationalstaat. Dies änderte sich laut Gruner erst Ende des 19. Jahrhunderts.

Guido Müllers (Stuttgart) Vortrag konzentrierte sich auf französische Europaleitbilder von Victor Hugo bis Jacques Chirac. Müller stellte hierzu vier Thesen zur Diskussion. 1. Frankreich führt Europa – eine Einschätzung, die mindestens von Ludwig XIV. über Napoleon bis hin zu Hugo belegbar ist. 2. Das politisch-wirtschaftliche Frankreich lenkt das deutsch-französische Tandem. 3. Frankreich muss Europa integrieren. 4. Der französisch-intellektuelle Diskurs und der Philosoph auf dem Staatsthron sind entscheidend für den Erfolg des europäischen Einigungsprozesses.

Vanessa Conze (Tübingen) analysierte die Europaleitbilder der Zwischenkriegszeit mit besonderem Blick auf Richard Coudenhove-Kalergi. Conze betonte, jedes Nachdenken über Deutschland und dessen Rolle in der Zukunft habe den Europagedanken mit eingeschlossen – ob dies nun das Neue Europa des Nationalsozialismus, ob das Mitteleuropa, das Abendland, das Reich oder Paneuropa gewesen sei. Ausführlich referierte Conze sodann zu Coudenhove-Kalergi als paradigmatisches Exempel der Europaleitbilder der Zwischenkriegszeit. Sie unterstrich insbesondere den aristokratischen Europaansatz des Grafen und machte auf die Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Paneuropa-Gedankens aufmerksam.

Mit dem übergreifenden Ansatz der ersten Sektion korrespondierte der Abendvortrag von Jacques Santer im Rathaus der Bundesstadt Bonn. Der frühere Präsident der Europäischen Kommission wollte wissen: „Braucht Europa ein neues Leitbild?“ Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise der EU, aufgrund eines allerorten debattierten Legitimationsdefizits, konstatierte Santer im Besonderen eine Kluft zwischen Europa-Politikern und Europa-Wissenschaftlern hinsichtlich der Lösungsmöglichkeiten. Auch aus dieser unterschiedlichen Wahrnehmung einer grundsätzlichen Legitimationskrise resultiere die Diskussion um neue Leitbilder für Europa. Überhaupt bezeichnete Santer als Grundproblem die mangelnde Identifikation der Menschen mit bestehenden und etwaigen neuen Leitbildern. Den EU-Verfassungsvertrag halte er nun für „das neue Leitbild Europas“ und für ebenso bedeutsam wie die Römischen Verträge. Dringlichste Aufgabe müsse es sein, den EU-Bürgern den Vertrag „immer wieder zu erklären“, denn: „Gelingt es nicht, die Bürger für die europäische Sache zu gewinnen, droht der EU die Erosion von innen.“ Die Frage der politischen, sowie der geographischen Finalität Europas dürfe dabei nicht vernachlässigt werden. Generell müsse die Leitbild-Debatte im Kontext einer „großen Identitätsdebatte“ geführt werden, wenn sie Früchte tragen soll.

Michael Salewski (Kiel) leitete sein Impulsreferat zur dritten Sektion zu drei Beispielen aus dem Integrationsraum mit der Feststellung ein, dass auch die Definition, eben jene scheinbar selbstverständliche Bezeichnung „Integrationsraum“, die Frage nach europäischen Leitbildern aufwerfe. Die gegenwärtige Debatte um den Beitritt der Türkei zur EU mache den Europäern bewusst, wie stark die christliche Prägung – nicht nur im religiösen Sinne verstanden – als „europäisches Identitätskriterium“ wirke. Generell seien andere, als nur die ökonomischen, Leitbilder höchst relevant. So erweise sich die Einhaltung der Menschenrechte als eigentlicher Lackmustest für jeden Beitrittskandidaten. Salewski konstatierte folglich eine „zähmende Kraft EU-Europas“, obwohl sich seine Leitbilder durch einen hohen Grad an Abstraktion auszeichneten.

Am ersten Beispiel Spanien analysierte Birgit Aschmann (Kiel) die Bedeutung europäischer Leitbilder vor dem Hintergrund der historischen Selbstreflexion Spaniens. Ihrer zentralen These zufolge habe es in den spanischen Europabeziehungen weit mehr Kontinuität als Brüche gegeben. Der in Spanien betonte Katholizismus habe als Gegenentwurf für die Kritik französischer Aufklärer an der vermeintlichen Rückständigkeit Spaniens gedient. Der Philosoph Miguel de Unamuno habe gar eine Hispanisierung Europas gefordert. Vordergründig sei eine abgrenzende Haltung auch unter Franco erhalten geblieben. Konkret jedoch habe dieser die spanische Außenpolitik nach Kriterien innenpolitischer Zweckmäßigkeit ausgerichtet und sowohl vor, als auch nach 1945 Flexibilität bei der Interpretation Europas zum Ausdruck gebracht. Zugleich hätten sich die spanische Opposition und die Europäische Gemeinschaft für die Integration des Landes stark gemacht.

Auch Klaus Larres (Coleraine) stellte mit Blick auf das Beispiel Großbritannien eine große Kontinuität in der Europapolitik fest. Die Ablehnung des Schuman-Plans, die Fehleinschätzung des Premierministers Eden hinsichtlich der Entwicklungschancen der EG und ein allgemeines britisches Überlegenheitsgefühl hätten die Europapolitik ebenso nachhaltig beeinflusst wie der „Suez-Faktor“ – bis heute prägend für die gesamte Außenpolitik Großbritanniens. Während unter Heath Europa erstmals politische Priorität erhalten habe, sei erst unter Blair zumindest der Versuch des Ausgleichs beider Ausrichtungen erfolgt. Dabei sei Blairs Politik pragmatisch und nicht ideologisch. Die Teilnahme am gegenwärtigen Irak-Krieg habe jedoch die Hoffnungen auf ein positives europäisches Leitbild zerstört.

Im abschließenden Beitrag der Sektion befasste sich Stephan Michael Schröder (Köln) mit den europäischen Leitbildern in den skandinavischen Ländern. Dort sei generell eher ein „Leitbild Norden“ als ein „Leitbild Europa“ nachzuweisen. In Nordeuropa herrsche ein „sachlich-nüchternes Verhältnis“ zu Europa vor. Als Gründe benannte Schröder das Fehlen hellenistisch-römischer Traditionen, denen vielmehr seit dem 13. Jahrhundert das Konzept einer „nordischen Sonderkultur“ entgegengesetzt worden sei, außerdem die mangelnde Differenzbildung gegenüber einem kolonialen Anderen oder der „Türkengefahr“, schließlich den anhaltenden Glauben an die Legitimität des Nationalstaats. Daraus sei eine Präferenz der nordischen Zusammenarbeit erwachsen, die einen Ausdruck im Skandinavismus des 19. und Neuskandinavismus bzw. Nordismus des 20. Jahrhunderts gefunden habe.

Veronika Wendland (München) analysierte in ihrem Impulsreferat zur vierten Tagungssektion die Bedeutung der Ostmittel- und Osteuropäischen Perspektive für eine umfassende und vielschichtige Auseinandersetzung mit der Frage nach europäischen Leitbildern. Gerade der Verweis auf Osteuropa eigne sich nach Ansicht von Claudia Kraft (Erfurt), um die Einheit Europas innerhalb seiner Vielfalt besser organisieren zu können. Demnach versperre eine einseitige Blickrichtung gen Westen sinnvolle Lösungsansätze für diese Aufgabe. Dazu leiste eine selbstkritische Auseinandersetzung des Kontinents mit der eigenen Vergangenheit, besonders vor dem Hintergrund der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, eine entscheidenden Beitrag.

Dietlind Hüchtker (Leipzig) konzentrierte sich während ihres Referats insbesondere auf die europäische Frauenpolitik Ost- und Mitteleuropas. Die eklatante Rückständigkeit dieser Regionen sowie Unterdrückungs- und Benachteiligungserfahrungen vieler, riefen bereits im 18. Jh. erste Frauenbewegungen ins Leben. Es entstanden Selbsthilfevereinigungen mit dem immer stärker werdenden Appell nach (institutioneller) Gleichberechtigung. Eine Liste jener nach wie vor sehr aktuellen und politisch viel diskutierten Forderungen reichte von der Abschaffung des Frauen- und Mädchenhandels sowie der Prostitution, über den Ausbau von Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, bis hin zur staatlich organisierten Vereinbarkeit von Familie und Berufstätigkeit.

In der fünften Sektion über „Wirtschaftliche Leitbilder heute“ hob Werner Bührer (München) zu Beginn seines Impulsreferats auf Adolf Muschg und dessen Gegenüberstellung von Kultur und Europa ab. Es gebe, so Bührer, in solchen kulturphilosophischen Ansätzen, wie denen Muschgs, ein gewisses Unbehagen gegenüber der Ökonomie. Die Wirtschaft, wie etwa der EWG-Vertrag, werde dann als Vorstufe zu etwas Höherem missverstanden. Bührer betonte demgegenüber die Institutionalisierung der Ökonomie nach 1945, vom Marshall-Plan über die OEEC, die Montanunion bis hin zum Euro. Die wirtschaftlichen Leitbilder, die sich dabei herauskristallisierten, seien ein freier Markt, frei konvertierbare Währungen und die vier Freiheiten Kapital, Dienstleistungen, Waren und Personen. Aber auch eine staatlich organisierte, sozial verträgliche Wettbewerbsordnung stünde hierbei im Vordergrund.

In dieses eher positiv gefärbte Bild der Wirtschaft passte sich Milène Wegmanns (Bern) Deutung des Neoliberalismus trefflich ein. Das neoliberale Europa-Konzept setze eine außerwirtschaftliche soziale Integration voraus. Für den Neoliberalismus sei klar, dass Wettbewerb allein keine soziale Integration hervorrufe. Zu einer sozialen Integration gehöre ein Kodex von Normen, Prinzipien, Verhaltensregeln und Wertvorstellungen. Doch ermöglichten die Rechts- und Wirtschaftsordnung des neoliberalen „starken“ Staates einen Rahmen, innerhalb dessen die Zivilgesellschaft nicht-zentrale Spontaneität, Selbstverantwortung und Freiwilligkeit entfalten könne. In ihrem Fazit betonte Wegmann, Europa sei von einer Annäherung an das neoliberale Ideal einer interdependenten nationalen, supranationalen und internationalen Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft weit entfernt.

Guido Thiemeyer (Kassel) rekurrierte auf das französische Wirtschaftsmodell im europäischen Integrationsraum und zeigte an aktuellen Beispielen auf, dass Frankreich eine stärkere Kontrolle der Europäischen Zentralbank wünsche. Das wirtschaftliche Leitbild in französischer Tradition sei geprägt vom „Colbertisme“ und der „Planification“. In der französischen Revolution seien das Bodinsche Konzept des Staates sowie Rousseaus Idee der Nation zusammengeschmolzen zur Idee der Einheit von Staat und Nation. Auch die gemeinsame Agrarpolitik sei nach dem Vorbild des Colbertism, das heißt der politischen Kontrolle der Ökonomie ausgerichtet gewesen. Im Verfassungsvertrag schließlich könne man beobachten, dass der Gegensatz zwischen Neoliberalismus und Sozialstaat in französischer Ausprägung in diese philosophische Linie hineinpasse.

André Steiner (Potsdam) hob abschließend hervor, dass Europa sowohl in geografischer Hinsicht, als auch in einer an Wertevorstellungen orientierten Perspektive in den ost- und mitteleuropäischen Staaten keine Rolle gespielt habe. Vielmehr habe der sozialistische Weltmarkt im Denken der Ostblockländer dominiert. Insbesondere der Bezug auf dem Marxismus/Leninismus und die Ablehnung der EWG hätten hierbei im Vordergrund gestanden. Insbesondere in der Montanunion sah man eine Verfestigung der Monopolherrschaft des Westens. In ökonomischer Sicht reagierten die ost- und mitteleuropäischen Staaten Ende der 1940er-, Anfang der 1950er-Jahre mit planwirtschaftlichen Initiativen im Rahmen des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RWG). Dessen Gründungsmitglieder Sowjetunion, Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und die Tschechoslowakei sowie die DDR, Kuba, die Mongolei, Vietnam und Albanien strebten im Rahmen dieses Vertrags vor allem eine Harmonisierung der OME-Staaten an, als Gegengewicht zum westeuropäischen Modell der Sechsergemeinschaft.

„Der außereuropäische Blick“ war das Thema der sechsten und letzten Sektion. Fikret Adanir (Bochum) verwies eingangs darauf, dass die Neudefinition Europas in Bezug auf das griechisch-christlich-jüdische Erbe im Laufe der Geschichte in Abgrenzung zum Islam, oder politisch gesehen zum Osmanischen Reich stattgefunden habe. Der Europabegriff der osmanischen Elite sei nach der Anerkennung des Friedens von Karlowitz 1699 entstanden, nachdem sich bereits zuvor, 1683 vor Wien, der Beginn des osmanischen Machtverfalls angekündigt hatte. Den Kulminationspunkt der Modernisierung habe das osmanische Reich 1839 erreicht, als die Gleichheit aller vor dem Gesetz nach französischem Vorbild verkündet worden sei. Die bis dato vorherrschende ethno-konfessionelle geprägte Identität in der Bevölkerung sei von einer verfassungsnational-multiethnisch dominierten Weltanschauung unter dem Leitbegriff „osmanische Verfassungsnation“ abgelöst worden. Nach diversen Kriegen gegen europäische Nationen im Laufe des 19. Jahrhunderts sei jedoch eine islamisch orientierte Bewegung entstanden, gegen die sich in der Folge wiederum die europäisch ausgebildeten Jungtürken gewehrt hätten. Um sich von ihrem seither vorherrschenden Einfluss zu lösen, verträten derzeit islamisch-konservative Kreise paradoxerweise eine positive Einstellung gegenüber Europa, während sich die „verwestlichte“ kemalistische Elite in Richtung Eurasien orientiere.

Walther L. Bernecker (Erlangen-Nürnberg) fragte in seinem Vortrag, ob Europa ein Leitbild für Lateinamerika sein könne und betonte gleich zu Beginn, dass Ursula Plassnik die EU und Lateinamerika als Teile derselben Wertefamilie betrachtet, auch wenn das Institutionengefüge in Lateinamerika fehle. Bernecker selber sah in der EU kein Modell für den lateinamerikanischen Integrationsprozess, der bereits im 19. Jahrhundert einsetzte. Denn die soziokulturellen Voraussetzungen und mentalen Dispositionen seien zu unterschiedlich. Im Gegenteil zu Europa seien die lateinamerikanischen Staaten nicht bereit, auf ihre Souveränitätsrechte zu verzichten. Auch würden damit verbundene notwendige Verfassungsänderungen keine Mehrheit in den lateinamerikanischen Staaten finden. Dennoch bleibe Europa ein Vorbild, nicht zuletzt, weil beide Regionen in den grundlegenden Fragen gleichgesinnt seien.

Zugespitzt formulierte Reinhard Zöllner (Erfurt), dass auf die Frage: „Was ist Ostasien?“ im Allgemeinen nur geantwortet werde, es sei die Region mit den Essstäbchen. In den europäischen Sprachen würden für die Region noch immer Begriffe mit unterschiedlicher Bedeutung und Konnotation verwendet. Die Japaner hätten sich die Einigung Ostasiens durch eine Verschmelzung der Brüdervölker vorgestellt. Eine Trennung der Geschichtswissenschaft in die Geschichte des Westens, des Ostens und eine Nationalgeschichte habe kommenden Generationen ein differenziertes historisches Bewusstsein vermitteln sollen. Die mit der 1967 unterzeichneten Erklärung von Bangkok gegründete ASEAN sollte schließlich vor allem als antikommunistisches Bündnis fungieren, so Zöllner. Neben dem Bezug auf gemeinsame asiatische Werte hätten dabei Ziele wie Frieden, Wachstum und Wohlstand auf dem Plan gestanden. Grundsätzlich habe dabei die Erweiterung Vorrang vor der Vertiefung gehabt.

In der die Tagung beschließenden Podiumsdiskussion wurde die Frage „Das Leitbild Europa heute?“ noch einmal aus unterschiedlichen Perspektiven aufgegriffen. Der Diskussionsleiter, Romain Kirt, Conseiller de Gouvernement (Luxemburg), verwies auf den EU-Verfassungsvertrag als tragfähiges Leitbild, da er sowohl als Leitfaden in Orientierungs-, Entscheidungs- und Koordinierungsfragen, wie auch als Grundlage einer Corporate Identity fungieren könne. Um dies öffentlich zu vermitteln, bedürfe es jedoch engagierter Politiker und Multiplikatoren in allen Bereichen. Die Vizepräsidentin des Netzwerks Europäische Bewegung und frühere EU-Kommissarin Michaele Schreyer (Berlin) verwies auf die Bedeutung der europäischen Einigung für die unverändert wichtige Sicherung der Ideale Frieden, Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit und sprach sich für die Schaffung eines Europa der Bürger aus. Der Journalist Nikolaus Blome, Leiter der Parlamentsredaktion der „Bild“ (Berlin), bezeichnete die Diskussion um ein europäisches Leitbild zu einem Teil als akademisch. Dazu passe eine „seltsam undankbare Gleichgültigkeit“ der EU-Bürger, der eventuell mit der Etablierung eines „European Way of Life“ in den nächsten Jahrzehnten begegnet werden könne. Dagegen glaubte der Chefredakteur des „Rheinischen Merkur“, Michael Rutz (Bonn), nicht an ein Unwohlsein der Bürger, da zahlreiche Bequemlichkeiten, etwa bei Reisen und der gemeinsamen Währung, selbstverständlich in Anspruch genommen würden. Dennoch sollte ein europäischer Bundesstaat die Finalität sein, ohne das dies den nationalen Eigenheiten widersprechen müsse. Bülent Sengün (Offenbach), Chefredakteur der Zeitschrift „Zukunft“, formulierte drei Punkte, die für ein Leitbild zentral sein müssten und eine neue Identitätssuche obsolet machten: Offenheit für den Dialog, Zukunftsorientierung und Demokratie als einheitliches Identifikationsmuster. Der Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Nordrhein-Westfalen, Michael Mertes, sprach sich schließlich dafür aus, ein Leitbild nicht normativ, sondern deskriptiv zu verstehen. Aus seiner Sicht entstehe ein Europa von unten, wie es sich etwa in Form des „Eurodelta“, das gleichsam als „Kerneuropa“ gesehen werden könne, auf dem Gebiet Deutschlands, Frankreichs und der Benelux-Staaten zeige. Vor einem solchen Hintergrund müsse Europa von unten her wachsen.


Redaktion
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