Was ist europäisch? Die Vielfalt von Gedächtnissen oder die Eindeutigkeit von europäischen Werten

Was ist europäisch? Die Vielfalt von Gedächtnissen oder die Eindeutigkeit von europäischen Werten

Organisatoren
Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
09.11.2006 - 11.11.2006
Von
Katharina Scherke, Institut für Soziologie Graz

Vom 9. bis zum 11. November 2006 fand die 8. Internationale Konferenz der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum Thema: "Was ist europäisch? Die Vielfalt von Gedächtnissen oder die Eindeutigkeit von europäischen Werten" in Wien statt. Diese von Moritz Csaky und Johannes Feichtinger konzipierte Veranstaltung bot einen hervorragenden Einblick in das – spätestens seit Zygmunt Baumans Beschreibung der 'Ambivalenz der Moderne' deutlich gewordene – Spannungsfeld zwischen dem modernen Bedürfnis nach Eindeutigkeit einerseits und dem Wissen um die diesem Wunsch entgegenstehende Vieldeutigkeit der sozialen Realität andererseits.

Im Rahmen der Konferenz wurde einerseits ein deutliches Unbehagen gegenüber der aktuellen europäischen Wertediskussion sichtbar, das sich unter anderem aus der Einsicht in die historische Wandelbarkeit von Wertvorstellungen (die immer auch Gegenstand politischer und kultureller Deutungsprozesse sind) speiste, andererseits wurde jedoch auch der Versuch unternommen, nach neuen Wegen einer europäischen Identitätsbildung zu suchen. Gerade die Vielfalt unterschiedlicher Werte in Europa schien einigen Konferenzteilnehmern und -teilnehmerinnen ein geeigneter Ausgangspunkt für die Definition des Europäischen zu sein. Mit einer derartigen Haltung wird das Muster herkömmlicher Diskussionen über europäische Werte durchbrochen, die sich zumeist durch eine Inklusions-Exklusions-Logik auszeichnen, und zwar in der Weise, dass klare Grenzen zwischen jenen Werten und Verhaltensweisen, die als europäisch, und jenen, die als kulturell fremd gelten, gezogen werden. Ein derartiges Vorgehen kann jedoch den vielfältigen kulturellen Traditionen in Europa nicht gerecht werden und birgt daher unweigerlich Konfliktpotential in sich.

Europa als 'Wertegemeinschaft' ist ein im Rahmen der sich erweiternden Europäischen Union und der damit einhergehenden vielfältigen praktischen Probleme derzeit oft und gern bemühtes Konzept. Jenseits aller ökonomischen Argumente, die lange Zeit eine der Haupttriebfedern der europäischen Einigung darstellten, soll durch das Konzept Europas als 'Wertegemeinschaft' offenbar ein gesamteuropäisches Zusammengehörigkeitsgefühl verstärkt werden. Auf welcher Basis dies geschehen kann, ist jedoch umstritten.

Die derzeitige Wertediskussion kann als Versuch bezeichnet werden, den europäischen Zusammenhalt letztlich auch im kulturellen Bereich abzusichern. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Idee der europäischen Einigung zunächst vor allem von Überlegungen angetrieben, wie künftig auf politischem Wege ein friedliches Zusammenleben in Europa gesichert werden könnte. In der Folgezeit traten wirtschaftliche Interessen in den Vordergrund der europäischen Diskussionen rund um die Weiterentwicklung der EG bzw. der EU. Man könnte sagen, dass der Beginn des europäischen Einigungsprozesses geradezu durch eine Abstinenz von Wertediskussionen geprägt war. Die Gründerväter der EU schien eher der Gedanke bewegt zu haben, dass Werte – wohl auch aufgrund des häufig mit ihnen verbundenen Absolutheitsanspruches und ihrer möglichen Unvereinbarkeit – keine geeignete Grundlage für eine dauerhafte europäische Friedensordnung sein könnten. Im Zuge der – nicht zuletzt im Rahmen des Entwurfs und der Diskussion einer europäischen Verfassung – forcierten Debatte um die 'Wertegemeinschaft' Europa scheint diese wertmäßige Abstinenz aufgegeben worden zu sein. Der europäische Einigungsprozess, so erweckt es zumindest den Anschein, nimmt zunehmend Anleihen am Modell der Nationalstaatenbildung des 19. Jahrhunderts. Diese Nationalstaatenbildung war gekennzeichnet durch den Versuch, kulturelle Heterogenität durch Eindeutigkeit zu ersetzen, um so ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerung und die gefühlsmäßige Bindung an den jeweiligen Nationalstaat sicherzustellen. Verbunden mit derartigen Versuchen der Eindeutigkeitsherstellung war die Abgrenzung von den jeweils 'anderen'; sei es von denjenigen jenseits der Grenzen des eigenen Staates oder sei es von denjenigen, die zwar innerhalb des Staates – als Fremde – lebten, jedoch nicht den 'imaginierten' und hegemonial propagierten Gemeinschaftskriterien entsprachen.

Die Frage, ob ein Vergleich der heutigen Debatte um 'europäische Werte' mit der Nationalstaatenbildung des 19. Jahrhunderts sinnvoll ist und welche Probleme sich möglicherweise für das heutige Europa durch das Festhalten am Modell der Nationalstaatenbildung (übertragen auf den europäischen Maßstab) ergeben können, waren einige der Themen, die im Zuge der Konferenz angeregt diskutiert wurden. Als ein Tenor der Diskussionen zeichnete sich dabei ab, dass im Unterschied zur Situation des 19. Jahrhunderts in der heutigen europäischen Wertediskussion dem Faktor 'kulturelle Vielfalt' besondere Bedeutung zukommen müsse. Somit könnten die negativen Effekte der auf kulturelle Homogenität abzielenden Nationalstaatenbildung im Rahmen der aktuellen europäischen Einigungsbemühungen vermieden werden.

Im Laufe der Tagung wurde wiederholt die Variabilität jener Werte, die in verschiedenen Phasen der Geschichte zur Definition des Europäischen herangezogen wurden aufgezeigt. Neben Phasen in denen qua des Absolutheitsanspruches bestimmter Werte eine kulturelle Homogenisierung forciert wurde, gab es in der europäischen Geschichte immer auch Phasen, in denen das gleichzeitige Nebeneinander unterschiedlicher Wertvorstellungen Realität war. So wies etwa Michael Borgolte darauf hin, dass die einseitige Konzentration bisheriger Forschungen, auf in einzelnen Zeitperioden dominant gewesene Kulturen, dazu beigetragen habe, den gleichzeitigen Einfluss verschiedener achsialer Kulturen auf Europa zu übersehen. Gerade die kulturelle Vielfalt, das heißt die wechselseitigen Bezüge zwischen den Kulturen in Europa und das Austarieren der Vielfalt im praktischen Zusammenleben, habe wesentlich zur Dynamik der europäischen Entwicklung beigetragen.

Vor dem Hintergrund der Interessenslagen jeweils hegemonial dominanter Gruppen wurden im Laufe der Geschichte sehr unterschiedliche Ereignisse und Werte als 'europäisch' definiert. Und zwar nicht nur innerhalb Europas selbst, sondern auch in anderen Weltregionen, die sich in Anbetracht der jahrhundertlangen globalen Dominanz europäischer Staaten stets in Bezugnahme auf oder in Abgrenzung von Europa definierten. Der postkoloniale Diskurs hat sehr deutlich gezeigt, dass kulturelle Verortungen niemals als einseitiger Prozess aufgefasst werden dürfen: Das Eigenbild Europas wurde jeweils durch das Fremdbild außereuropäischer Regionen gestärkt, wie auch umgekehrt diese anderen Regionen ihr Eigenbild in Bezug auf das Fremdbild Europas definierten. In der Konferenz wurde dies anhand der Referate von Shingo Shimada und Michael Rössner besonders deutlich, die die jeweilige Wahrnehmung Europas aus der Perspektive Japans bzw. Lateinamerikas nachzeichneten. Sowohl in Japan als auch in Lateinamerika (das selbst ja wiederum als Konglomerat unterschiedlicher Staaten verstanden und somit ebenso als Produkt eines Homogenisierungsversuches betrachtet werden kann) wurden im Laufe der Geschichte jeweils andere Aspekte des 'Europäischen' im Zuge der Eigenpositionierung entweder positiv oder negativ wertend diskutiert.

Folgt man derartigen Überlegungen kann Europa nicht als Einheit begriffen werden, da stets eine Vielfalt von sich überlappenden, aber teilweise auch im Kontrast zueinander stehenden kulturellen Traditionen vorhanden war und ist. Gibt es dennoch etwas, was als Kern des Gemeinsamen aller Europäer und Europäerinnen verstanden werden kann?

Als Kristallisationskerne eines gesamteuropäischen Selbstverständnisses werden heute gerne die Menschenrechte oder die Demokratie genannt. Wie die Konferenz jedoch zeigte, werden diese Werte auch im Hinblick auf ihre globale Bedeutung diskutiert und können damit – egal wie man zur Frage der universellen Gültigkeit dieser Werte steht – nicht mehr als ausschließlich europäisch definiert werden. Die Präsentation dieser Werte als 'europäische Errungenschaften' kann, wie Johannes Feichtinger in seinem Referat skizzierte, sogar mit Abgrenzungstendenzen gegenüber allem Nicht-Europäischen einhergehen und damit als Rückfall in ein Inklusions-Exklusions-Schema begriffen werden, das typisch war für die Nationalstaatenbildung des 19. Jahrhunderts. Anstelle derartiger, stets die Gefahr der Ausgrenzung kultureller Minderheiten mit sich bringender Ansätze, gelte es neue Formen der Identitätsbildung zu suchen, die nicht einen angesichts der Vielfalt unerreichbaren Wertekonsens anstreben, sondern gerade den gemeinsamen Umgang mit der widersprüchlichen Vielfalt ins Zentrum der Debatte stellen, so Feichtinger.

Die Demokratie als möglicher Kern eines europäischen Wertverständnisses stand auch im Referat von Georg Kreis im Zentrum der Erörterungen. Trotz der Probleme rund um den europäischen Verfassungsvertrag vertrat Kreis die Auffassung, dass ein derartiger Vertrag eine 'virtuelle Wirklichkeit' darstelle. Zwar werde er im Alltagsbewusstsein der Menschen in Europa nicht unbedingt ständig präsent sein, er sei jedoch geeignet einen gemeinsamen Bezugspunkt für die vielfältigen europäischen Identitäten abzugeben. Michael Böhler widmete sich sodann der Frage der Schaffung europäischer topologischer Werteräume. Dabei deutete er die Frage nach gemeinsamen Werten insofern um, als es nicht gelte gemeinsame bereits existierende Werte zu suchen (was notwendigerweise Vereinseitigungen und Ausgrenzungstendenzen mit sich bringe), sondern möglicherweise neue gemeinsame Werte zu definieren.

Welche Qualität derartige gemeinsame Werte haben können und inwiefern gerade die Kriegserfahrungen in Europa einen Kristallisationspunkt des gemeinsamen Gedenkens und einer auf die Zukunft ausgerichteten Perspektive bilden könnten, wurde von Dragan Prole erörtert. Die Spannung zwischen bisherigem partikularem Gedenken einerseits und universalistischen Ansprüchen einer gemeinsamen Erinnerungskultur andererseits müsse hierbei austariert werden. Die Frage, wie mit der europäischen Vielfalt und den daraus auch resultierenden unterschiedlichen Blickwinkeln auf die gemeinsame europäische Geschichte umgegangen werden kann, wurde auch von Sabine Offe erörtert. Sie konzentrierte sich dabei auf das in den letzten Jahren vermehrt praktizierte 'Opfergedenken' und dessen Implikationen für eine positive Identifizierung mit der EU und dem Gedanken der europäischen Einigung. Wesentlich sei hierfür die Vermittlung von Komplexität und das in den Vordergrund Rücken des gemeinsamen Anliegens, neue Opfer zu vermeiden. Nur so könne 'Opferkonkurrenz' sowie die damit einhergehenden Schuldzirkel und gegenseitigen Aversionen vermieden werden. Im Alltag, in dem es zur Vermarktung unterschiedlicher – teils auch im Widerspruch zueinander stehender – Werte kommt, wie Irena Ograjenšek zeigte, wird das wirkmächtige Vorhandensein von Werten und damit des Wunsches nach klaren Zuordnungen offensichtlich. Der Wechsel zwischen verschiedenen Wertorientierungen gestaltet sich im Alltag allerdings trotz dieser Wirkmächtigkeit häufig problemloser als es der theoretische Diskurs nahelegt, wie im Referat von Ograjenšek deutlich wurde.

Die Frage nach den europäischen Werten wird in der aktuellen politischen Debatte häufig mit religiösen Aspekten verquickt. Eine Podiumsdiskussion im Rahmen der Konferenz widmete sich daher auch der Frage: "Scheitert Europa an kulturell-religiösen Differenzen?". Vor allem im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Christentum und Islam wurden in dieser Diskussion die vielfältigen Schattierungen beiden Religionen in Europa deutlich, die eine dichotome Gegenüberstellung (eventuell verbunden mit der These der Unvereinbarkeit beider) nicht zulässig erscheinen lassen. Hinzu kommt, worauf Moshe Zuckermann hinwies, dass die Debatte über kulturell-religiöse Differenzen häufig die ökonomischen Problemlagen überdecke, die das eigentliche Problem für Europa (sowohl innerhalb Europas als auch in seinen Außenbeziehungen, etwa zu den ehemaligen Kolonien) darstellen würden.

Versucht man ein Resümee aus den im Zuge der Konferenz erörterten Themenbereichen zu ziehen, so könnte dies folgendermaßen aussehen: Die Antwort aktueller kulturwissenschaftlicher Diskussionen auf den Wunsch nach Eindeutigkeit angesichts der vieldeutigen sozialen Realität kann gewissermaßen als Aufforderung zum 'Aushalten der Ambivalenz', zur intensiven Erforschung der 'Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen' – und auf diese Weise letztlich zur Durchbrechung essentialistischer Vorstellungen – beschrieben werden. Letztlich handelt es sich dabei um den Versuch, dass moderne Bedürfnis nach Eindeutigkeit nicht nur zu hinterfragen, sondern möglicherweise auch außer Kraft zu setzen. Die nach wie vor vorhandene Wirkmächtigkeit dieses Bedürfnisses wird jedoch angesichts sehr emotional geführter Wertediskussionen im Alltag deutlich und zeigt oftmals den theoretischen Positionen der neueren Kulturwissenschaften ihre Grenzen auf. Es ist keine eindeutige Antwort auf die Frage "Was ist europäisch?" möglich und – so darf man den Tenor der Konferenz verstehen – auch nicht sinnvoll. Eine derartige Haltung (die, so könnte man sagen, die Vielfalt selbst als Wert zu definieren versucht) einem breiten europäischen Publikum zu vermitteln ist kein leichtes Unterfangen. Mit Spannung darf man daher die im Anschluss an die Konferenz geplante Publikation erwarten, die in dieser Hinsicht Material zum Weiterdenken liefern dürfte.

http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=6237
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Deutsch
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