Wie europäisch ist die Oper? Das Musiktheater als Zugang zu einer kulturellen Topographie Europas

Wie europäisch ist die Oper? Das Musiktheater als Zugang zu einer kulturellen Topographie Europas

Organisatoren
Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW ; Forschungsprojekt "Oper im Wandel der Gesellschaft" ; mit finanzieller Unterstützung der Volkswagenstiftung und der Stadt Wien
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
01.03.2007 - 02.03.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Jutta Toelle

Im Mittelpunkt dieser Konferenz stand die Fragestellung, inwieweit die Oper als eine europäische Kunstform zu betrachten ist. Dabei wurden drei systematische Zugänge gewählt: In Abgrenzung zu konstruktivistischen Zugängen zur europäischen Geschichte wurde erstens die Frage gestellt, inwieweit die Oper von den Zeitgenossen – der Schwerpunkt der Konferenz lag auf dem langen 19. Jahrhundert – als europäisch wahrgenommen wurde. Zweitens ging es darum, inwieweit die im 19. Jahrhundert exponentiell zunehmenden kulturellen Austauschprozesse zu einer Konvergenz in Hörverhalten und Rezeption, in Repertoire und Aufführungspraxis führten. Drittens wurde unter dem Begriff der „kulturellen Räume“ die Ausbreitung und Rezeption der italienischen Oper und des deutschen Musikdramas untersucht. Es ging also um Oper als Medium von Kulturtransfers innerhalb Europas – insbesondere zu den Rändern Europas und auch darüber hinaus – und als Baustein für eine „kulturelle Topographie Europas“ im 19.Jahrhundert. Die Konferenz war eine weitere Tagung im Rahmen des von der VW-Stiftung geförderten Forschungsprojekts „Oper im Wandel der Gesellschaft“, die in Kooperation mit der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt wurde (vgl. zu früheren Tagungen die Webpage www.operundgeschichte.de).

Zeitlich und räumlich war die Konferenz gerahmt vom Thema Wien, bietet sich die Stadt doch sowohl als Ausgangspunkt für Zentral- und Osteuropa als auch für einen Überblick über das Operngeschehen an. Die Schwerpunkte lagen also – neben den Metropolen Wien, London, Paris und Mailand – auf dem Vergleich zentral- und osteuropäischer Länder und Zentren wie Zagreb, Budapest und Belgrad. Anhand der Repertoiregestaltung, der Rezeption bestimmter Werke und der großflächigen Ausbreitung transnationaler Märkte wurden sowohl die Nationalisierung der Oper in Europa, die vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägend war, als auch ihre Europäisierung untersucht.

Nach Grußworten von Peter Schuster, dem Präsidenten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, und Moritz Csáky, Obmann der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichten, sowie einer Vorstellung des Forschungsprojekts „Oper im Wandel der Gesellschaft“ von Philipp Ther und einer Einführung in die Thematik der Konferenz von Organisator Peter Stachel zeichnete Gernot Gruber in seinem Einführungsvortrag „Die Wiener Klassik als Grundlage einer europäischen Musikkultur“ die Wege der europäischen Rezeption von Mozarts Opern nach. Vor dem Hintergrund italienischer Operntraditionen klärte er die Einflüsse auf die Mozart-Rezeption in den verschiedenen europäischen Metropolen und Ländern, die sich höchst unterschiedlich vollzog – von den Reisen von Opernensembles und Sängern nach Sankt Petersburg über die von E.T.A. Hoffmann geprägte deutsche Don Giovanni-Rezeption bis zur Wiederbelebung von Mozarts Opern im Zuge der Anti-Wagnerbewegung der 1890er-Jahre in München unter Hermann Levi. Gruber betonte, dass sich trotz der divergenten und primär von lokalen und regionalen Entwicklungen beeinflussten Mozart-Rezeption Ende des 19. Jahrhunderts ein gewisser Kanon herausbildete, der allerdings den zu Mozarts Zeiten meistgespielten Opern kaum entspricht. Vor diesem Hintergrund betonte der Referent die große Kluft zwischen einer Rezeptionsgeschichte und dem punktuellen Gedächtnis an bestimmte Werke.

Im Zentrum von Sven Oliver Müllers Vortrag über „Hörverhalten im europäischen Kulturtransfer“ stand die Suche nach Indizien für eine gesamteuropäische Musikkultur. Wie er anhand eines deutsch-englischen Vergleichs erläuterte, begann das Publikum ab etwa 1830 in ganz Europa langsam mit dem modernen „Zuhören“. Bis zu diesem Zeitpunkt war es nicht unüblich während Opernaufführungen zu essen, zu trinken, lautstark zu streiten oder herumzulaufen. Wie es das deutsche Bürgertum gezeigt hatte, wartete man nun auch in England auf die erbauende Wirkung der Musik, und gerade in England wurde das sich wandelnde Hörverhalten auf den Einfluss der deutschen Musik zurückgeführt. Wichtige Benimmfragen – etwa wann man zu klatschen hatte (und wann nicht) – wurden zu einem Distinktionskriterium des europäischen Opernpublikums.

Zwei Referate handelten von der Europäisierung der Szene, der Opernbühne selbst. Gesa zur Nieden beschäftigte sich mit „Gesamteuropäischen Tendenzen in der Entwicklung des Bühnenbildes“. In einem Vergleich Frankreichs, Deutschlands und Italiens lenkte sie den Blick auf das Phänomen, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts an allen großen europäischen Theatern italienische Bühnenbildner tätig waren, die aber innerhalb der nächsten 30 Jahre nahezu alle durch ihre lokalen Schüler ersetzt wurden. Diese erste „nationale Bühnenbildnergeneration“ war zwar für die Einführung romantischer Ästhetik auf der Bühne verantwortlich, hielt sich jedoch im Zuge einer nur sehr langsamen Abkehr der Musikkritiker vom Klassizismus oft an dessen ästhetische Vorgaben, darunter insbesondere die geometrische Grundstruktur der Bühnenbilder. Mit dem Aufkommen der Publikation von Bühnenbildsammlungen und der Ausbildung von, auf internationalem Niveau arbeitenden, Bühnenbildateliers tradierten sich diese Strukturen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts so stark weiter, dass auch Richard Wagner von einem weitestgehend europäisierten Bühnenbild Gebrauch machte.

Der Erfurter Chefdramaturg Arne Langer ging in seinem Vortrag zur „Europäisierung der Inszenierungspraktiken in der Oper seit dem späten 18. Jahrhundert“ der Frage nach Kulturtransfers in der Opernregie nach. Doch was wurde „transferiert“, was transportiert? Erst die Festspiele in Bayreuth und später in Salzburg und Tourneeunternehmen wie Angelo Neumanns „Reisendes Richard-Wagner-Theater“ und die Meininger Theatertruppe des Herzogs Ernst August schufen tatsächlich Standards für die Inszenierungspraxis. Regiebücher, die für französische Opern schon ab den 1820er-Jahren gedruckt und im späten 19. Jahrhundert von Giuseppe Verdis Verleger Ricordi perfektioniert wurden, waren beliebt und wurden an die Theater mit den Noten mitgeliefert. Sie waren aber auch ein Mittel für die Komponisten, die Kontrolle über die Aufführung ihrer Werke wieder zu erlangen.

In der anschließenden Diskussion – auch geprägt durch Debatten des 21. Jahrhunderts um den Regulierungsdrang der Europäischen Union – ging es vor allem um die Frage, ob „Europäisierung“ auch Standardisierung, also einen Verlust der Kreativität, bedeutete oder ob nicht vielleicht durch die Etablierung europäischer Standards an einigen Opernhäusern gleichzeitig auch deren Besonderheiten zutage treten konnten. Gewarnt wurde vor der Gefahr einer neuen Meistererzählung, davor, – den Titel der Konferenz ohne Fragezeichen zu setzen – und damit die standardisierten, gesamteuropäischen Aspekte der Oper herauszuarbeiten anstatt auf deren nationale, regionale oder lokale Ausprägungen hinzuweisen. Zudem wurde am Beispiel Chinas und der zahlreichen dortigen Opernneubauten darauf hingewiesen, dass die Anziehungskraft der Oper, die immer noch als europäische Kunstform wahrgenommen wird, auch heute immens zu sein scheint.

Der zweite Konferenztag begann mit einem Panel zur europäischen Rezeption der italienischen Oper. Antonio Baldassarre sprach über die Verdi-Rezeption im europäischen Vergleich und führte verschiedene Punkte an, in denen sich die Verdi-Rezeption in Frankreich, England, Deutschland und Italien selbst deutlich unterschied, etwa der Wagnerismus-Verdacht und die Vorhaltungen gegen den italienischen Komponisten, sich durch seine Schiller- und Shakespeare-Vertonungen am (wahlweise) deutschen oder englischen nationalen Kulturerbe zu vergreifen.
Michael Jahn betonte in seinem Referat über „Die italienische Oper in Wien“ die wichtige und vielfältig nachvollziehbare Stellung der Stadt als Schaltstelle europäischer Kulturtransfers.
In seinem Vortrag über den „Einfluss der italienischen Oper in Ungarn“ zeichnete Markian Prokopovych ein Panorama des ungarischen Opernlebens im europäischen Kontext: zwischen Verdi-Rezeption, Wagner-Begeisterung und dem Rückgriff auf nationale (oder vermeintlich nationale) Traditionen. Auch in Ungarn war zumindest die frühe Verdi-Rezeption unmittelbar mit der Rezeption des Risorgimento verbunden und der nationale Impetus von Nabucco und Ernani wurde begeistert übernommen, wie auch einige Jahrzehnte später das Budapester Bürgertum die Opern Richard Wagners sehr schnell annahm.

In Kroatien hingegen, ein weiterer osteuropäischer Schnittpunkt mehrerer internationaler Opernkulturen und Schwerpunkt der Forschungen von Vjera Katalinić, war die Rezeption der Werke Giuseppe Verdis – zuerst in kroatischer Übersetzung, dann auf italienisch – kaum politisch motiviert. Entgegen dem Titel ihres Referates „Verdi vs. Wagner an der Zagreber Opernbühne“ bemerkte Katalinić, dass es gerade in Zagreb eher ein Nebeneinander der beiden Komponisten gab, als dass sie gegeneinander ausgespielt worden wären. Dass die Werke Richard Wagners im Umfeld eines internationalen Repertoires erst ab den 1890er-Jahren regelmäßig in Zagreb gespielt wurden, hing mehr mit den finanziellen Möglichkeiten und der Ausstattung des seit 1870 bestehenden Opernhauses zusammen.

Auch Jutta Toelle beschäftigte sich mit der Verbreitung und Rezeption der Werke Richard Wagners („Das Zeitalter des musikalischen Imperialismus: die italienische Oper vs. Wagner“). Sie erwähnte die wichtige Rolle des „Reisenden Richard-Wagner-Theaters“ des Leipziger Impresarios Angelo Neumann, der zwischen 1881 und 1889 mit den Dekorationen der Bayreuther Uraufführung des Ring des Nibelungen, einem Sängerensemble und einem relativ kleinen Orchester von 60 Mann auf Tourneen nach London, Budapest, Graz, Moskau, St.Petersburg, Deutschland und Italien die Tetralogie Wagners einem europäischen Publikum bekannt und zugänglich machte, sie gewissermaßen „europäisierte“. Auch Toelle rief dazu auf, in der Rezeptionsforschung die Aufnahme der Opern durch das Publikum und die Rezeption der professionellen Musikkritik zu trennen – überholte doch z.B. in Italien die Aufnahme bestimmter Werke Richard Wagners in den Kanon der Theater die Diskussion in der Presse.

Philipp Ther behandelte in seinem Vortrag „Wagnerianismus und Moderne bei den `kleinen` Nationen“ den Wagnerismus und den Anti-Wagnerismus als europäische Phänomene. Er zeigte die Parallelen zwischen den ersten Aufführungen von Opern Richard Wagners bei Tschechen, Ukrainern und Katalanen und dem Aufkommen eigener, nationaler Operntraditionen auf: Da das Deutsche keine etablierte Opernsprache war, wurden Wagners Werke in nationalsprachlichen Übersetzungen aufgeführt, sodass die Handlungen der Opern unmittelbar verständlich und ihr deutscher Nationalismus in die Sphären der eigenen nationalen Codes überführt wurden. Da man aber für die Aufführung von Wagners Opern in der Nationalsprache auch nationalsprachliche Sängerensembles benötigte, ergibt sich eine Gleichzeitigkeit der Blüte der Aufführungen von Wagner-Opern und dem Aufblühen nationaler Operntraditionen.

Fotios Kaliampakos betonte in seinem Vortrag „`Kleina ainigmata` auf der Operbühne. Die griechische Antike als europäisches Kulturerbe und ihre Rolle im Musiktheater um 1900“ die große Bedeutung des antiken Erbes für die europäische Oper und dessen Funktion um die Jahrhundertwende unter anderem als Vehikel für die Assimilation der Juden.
Tatjana Markovic aus Belgrad sprach über „Ottomanische Elemente in der serbischen Oper“ und erwähnte mehrere Besonderheiten der serbischen Nationaloper. Sie entstand in Abgrenzung gegen den ottomanischen Aggressor und die türkische Musik, und die Themen fanden sich meist im heldenhaften Kampf der Serben gegen die Osmanen. Da die erste serbische Nationaloper Na Uranku erst im frühen 20. Jahrhundert entstand (1904), orientierten sich die nationalen Opernschaffenden mehr an den Opern veristischer Prägung (besonders an Cavalleria Rustica) anstatt an traditionellen italienischen Musteropern von Bellini oder Donizetti. Dadurch, dass das eigene Genre im Vergleich mit den Nachbarvölkern also erst relativ spät entstand, konnte die serbische Nationaloper an den Erfolg der Giovane Scuola Italiana anknüpfen und auf diesem aufbauen.

Auch im abschließenden Abendvortrag („Turkey and Europe: The Operatic Perspective“) von Larry Wolff kamen außereuropäische Einflüsse zur Sprache. Wolff konzentrierte sich auf die Figur des Türken und die Darstellung der Türkei auf der Opernbühne und suchte nach dem „Klang des Türken“ in der europäischen Operngeschichte von 1720 bis 1820. Vor allem interessierte ihn die Frage, wie die Darstellung des Türken in der Oper mit anderen Bildern der Türkei und der Türken in der europäischen Kulturgeschichte korrespondierte. Anhand mehrerer Beispiele aus Opern von Vivaldi, Händel, Rameau, Mozart und Rossini führte er in seinem Referat durch einhundert Jahre Operngeschichte und offerierte die These, dass Türken in der europäischen Oper oft als Verlierer, oft als Gewinner, als böse, lächerlich oder glamourös dargestellt wurden – aber immer als Europäer. Er bewies damit, dass sich die Oper kaum dazu eignet, die heutige Konstruktion eines Europas in Abgrenzung zur Türkei, aber auch zu Russland, zu untermauern.
Die außerordentlich vielfältigen Referate beleuchteten also die europaweite Rezeption und Produktion der Oper – mehrfach wurde betont, wie sehr sich die französischen und italienischen Opernmärkte überschnitten. Es bleibt aber gleichwohl weiterhin zu untersuchen, warum die Oper gerade an den Rändern Europas und weit darüber hinaus als genuin europäisch wahrgenommen wird.


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