"Da heime in miner Pfarre". Identitätsbildung und Kulturtransfer im europäischen Niederkirchenwesen vor 1600. Ein Arbeitsgespräch der Herzog August Bibliothek

"Da heime in miner Pfarre". Identitätsbildung und Kulturtransfer im europäischen Niederkirchenwesen vor 1600. Ein Arbeitsgespräch der Herzog August Bibliothek

Organisatoren
Herzog August Bibliothek (Wolfenbüttel), Michele C. Ferrari (Erlangen), Beat Kümin (Warwick)
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.03.2007 - 07.03.2007
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Von
Beat Kümin, Warwick

Vom 5. bis zum 7. März 2007 fand an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel ein interdisziplinäres wissenschaftliches Kolloquium unter dem Titel "'Da heime in miner Pfarre'. Identitätsbildung und Kulturtransfer im europäischen Niederkirchenwesen vor 1600" statt. Laut dem Konzept der wissenschaftlichen Leiter – Prof. Dr. Michele C. Ferrari (Erlangen) und PD Dr. Beat Kümin (Warwick) – sollte die Tagung eine Bündelung bisher oft inhaltlich (Kultur-, Sozial- bzw. Institutionsgeschichte) oder chronologisch (Mittelalter und Reformationszeit) getrennter Zugänge ermöglichen. Definierten sich Pfarrgemeinden auch als soziale Gebilde? Welche Rolle spielten dabei Kommunikationsakte, Medien und rituelle Performanz? Inwiefern nutzten Pfarrer und Gemeinden Schriftlichkeit, Wissensspeicherung (z.B. in Form von Pfarrbibliotheken und Pfarrarchiven) und Kulturtransferprozesse? Welche Rolle spielten die räumlichen und materiellen Begebenheiten für die Definition einer eigenen Identität? Wie gestalteten sich die Netzwerke der untersuchten Pfarreien? Solchen Fragen widmeten sich zwölf Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus Europa und Nordamerika, wobei neben der Geschichts- auch die Musik- und Literaturwissenschaft sowie die Architekturgeschichte vertreten waren.

Nach Grußworten der Wolfenbütteler Gastgeber Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer und Dr. Volker Bauer führte Beat Kümin in die Tagungsthemen ein. Mit Bezug auf prominente Konzepte wie das Konfessionalisierungsparadigma oder die Kommunalismusthese, aber auch pfarreispezifische Ansätze, wurden verschiedene Aspekte von Identitätsbildung erörtert, zum Beispiel die von Katherine French am Beispiel englischer Fallstudien vorgeschlagene Interpretation von Kirchgemeinden als «textual communities» (The People of the Parish: Community Life in a Late Medieval English Diocese, Philadelphia 2001). Als zweiter Referenzpunkt erschien das Forschungsfeld des «Kulturtransfers», dessen Betonung vielschichtiger Austausch-, Vermittlungs- und Adaptionsprozesse auch für die Vormoderne neue Perspektiven eröffnet (siehe jüngst Wolfgang Schmale, Hg., Kulturtransfer: Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert, Innsbruck 2003). Die folgenden zehn Kolloquiumsbeiträge gliederten sich in die Sektionen «Regionale Perspektiven» und «Thematische Zugänge».

Zum Auftakt des regionalen Überblicks sprach Prof. Dr. Enno Bünz (Leipzig) über «Pfarrgemeinden im spätmittelalterlichen Deutschland». Nach einem Forschungsbericht, der vor allem die erfreuliche Vielzahl jüngerer Regionalstudien hervorhob, erläuterte der Referent grundlegende Fragen wie die nach der Anzahl von Kirchengemeinden (50. bis 60.000 im Alten Reich), den kanonischen Rahmenbedingungen (Pfarrzwang, Gläubige als Untertanen des Pfarrers), innerkommunalen Strukturen (unterschiedliche Größe der Sprengel, Beziehungen zu Kapellen) und langfristigen Entwicklungstendenzen (Ausbau der Seelsorge und Laienkontrolle über Stiftungen). Die Bedeutung des Untersuchungsgegenstandes unterstrich die zusammenfassende Bilanz, dass sich die Pfarrei seit dem Hochmittelalter «zur wichtigsten Berührungszone zwischen Kirche und Welt, zwischen Klerus und Laien» entwickelte.

Mit einer zentralen Institution des Niederkirchenwesens befasste sich PD Dr. Arnd Reitemeier (Kiel) in seinem Beitrag «Kirchenfabrik und politische Kultur in der spätmittelalterlichen Stadt». Als Ansammlung von Besitztiteln, Ansprüchen und Pflichten stand die Fabrik in den Städten des Reiches unter der starken Kontrolle des Rats. Letzterer traf im kulturprägenden Rahmen des Christentums alle politisch und kirchlich relevanten Grundsatzentscheide. Die Pfleger bzw. Kirchmeister der einzelnen Pfarrkirchen besaßen somit keine Deutungshoheit, sondern lediglich eine ausführende Funktion, die es ihnen etwa über die konkrete Ausgestaltung von Räumen und Riten erlaubte, Akzente zu setzen und zentralen kulturellen Werten wie der «guten Ordnung» Nachdruck zu verschaffen.

In seinem reich illustrierten Vortrag zum Thema «Der Bau von Pfarrkirchen in Nürnberg und Schweinfurt» unterstrich Dr. Martin Brandl (Bamberg), dass neben der üblichen Konzentration auf Kathedralen und Abteien auch die Pfarrkirchenarchitektur zentrale Einsichten zur Sakralkultur einer Region zu vermitteln vermag. Am Beispiel der Fallbeispiele St. Sebald, Nürnberg, und St. Johannis, Schweinfurt, verdeutlichte der Referent die weit über bloße Zitate der "ecclesia matrix" hinausgehende architektonische Gestaltung von Kirchenräumen. Konkret konnten Einflüsse aus dem elsässisch-burgundischen Raum und die oft eklektisch anmutende Kombination verschiedener Stilelemente aufgezeigt werden. Die Quellenbasis erlaube zwar Korrekturen an bisherigen Datierungsmodellen, nicht aber die Erhellung der Entscheidungsfindung in der Planung und Ausführung der Bauprojekte.

Sehr anschaulich informierte Prof. Dr. Giorgio Chittolini (Milano) in der Folge über «Le communità parrochiali in Italia». In vergleichender Perspektive erhellte er die sich von nordalpinen Verhältnissen stark unterscheidenden niederkirchlichen Strukturen in Nord- und Mittelitalien. Hervorzuheben sind in erster Linie die sich außerordentlich lange – bis ins 16. Jahrhundert – haltende Vorrangstellung der Mutterpfarreien ("sistema pievano") und die immer stärkere Einflussnahme von etwa dreißig urbanen Zentren auf ihre Landgebiete. Zwar kam es auch in diesem Untersuchungsraum dank lokalen Initiativen im Verlauf des Spätmittelalters zu einer Vermehrung von "chiese curate", doch gelang es den relativ schwachen Landgemeinden nicht, diese so dauerhaft und eigenständig zu etablieren wie etwa im Reich oder in England. Von zentraler Bedeutung sind zudem die Aktivitäten der Bettelorden sowie die nachtridentinischen Konsolidationsbestrebungen unter Carlo Borromeo.

In einem sehr direkt auf die Kolloquiumsthemen ausgerichteten Beitrag «Identité et transfer culturel dans les parroisses françaises du moyen âge (XIIIe-XVe siècle)» beleuchtete Prof. Dr. Catherine Vincent (Paris X Nanterre) den französischsprachigen Raum. Sie unterschied zwischen (vor allem auf den Vorgaben des IV. Laterankonzils von 1215 beruhender) religiöser, (sich in kollektiven Initiativen wie Bauprojekten manifestierender) kommunaler und (etwa in Seelgeräten und Grabmälern aufscheinender) individuell-familiärer Identität. Kulturtransferprozesse verliefen keineswegs nur von «oben nach unten», da sowohl Predigten wie auch kirchliche Rituale stark von lokalen kulturellen Praktiken mitgeprägt waren. Eindringlich wurde abschließend zu weitergehenden Forschungen über Koexistenz und mögliche Friktionen der verschiedenen Identitäten aufgerufen.

Schließlich richtete sich das regionale Augenmerk noch auf die von Prof. Dr. Robert Swanson (Birmingham) untersuchten «Parish Communities in England». Nicht zuletzt dank einer guter Quellenlage erfreut sich die spätmittelalterliche Kirchengemeinde dort seit geraumer Zeit besonderer Aufmerksamkeit. Swanson warnte allerdings davor, sie isoliert als Laiengemeinschaft zu betrachten. Ebenso wichtig seien die externen (also etwa anlässlich von Visitationen artikulierten) Perspektiven, sowie der Blickwinkel und Beitrag des niederen Klerus, dessen Persönlichkeit, Rechte und Pflichten das kirchliche Leben entscheidend prägten. Heterogenität von Kontexten und inneren Strukturen komplizieren die Untersuchung von kommunalen Identitäten, in Elementen wie dem in die Messfeier integrierten "bidding prayer" finden sich aber wertvolle Ansatzpunkte.

Die thematisch ausgerichtete zweite Sektion eröffnete Prof. Dr. John Shinners (Saint Mary’s College, Notre Dame) mit einem Beitrag zum «Everyday life in medieval parishes». Nach einem einleitenden Teil, der als Erträge der jüngeren Forschung die Überwindung allzu scharfer Trennlinien zwischen Eliten- und Volksreligion sowie die Verbreiterung der konsultierten Quellengattungen hervorhob, konzentrierte sich der Vortrag auf das Fallbeispiel des englischen Bauern Robert Reynes, dessen "commonplace book" außerordentlich detaillierte Einblicke in den komplexen, von kirchlicher Frömmigkeit, Bruderschaftsaktivitäten, Herrschaftsverhältnissen wie unorthodoxen Praktiken gleichsam geprägten Erfahrungshorizont eines Pfarrgenossen um 1500 bietet. Daraus entwickelte der Referent weiter reichende Fragen nach den Anliegen und Prioritäten der so oft kaum dokumentierten «einfachen» Gemeindemitglieder.

Mit verschiedenen Formen von Priesterhandbüchern befasste sich Prof. Dr. Joseph Goering (Toronto) in «Handbooks for priests in the Middle Ages». Zur Klärung der Rolle von seelsorgerischer Literatur in der gemeindlichen Identitätsbildung und einem besseren Verständnis der Interaktion zwischen lokalen und regional-universalen kirchlichen Kulturen, gelte es zunächst die Heterogenität der Pfarreistrukturen wie auch der Geistlichen selbst zu erfassen. Mit besonderem Bezug auf die großen, ländlich geprägten Bistümer Nordeuropas betonte Goering dann die wichtige Rolle der Schriftlichkeit im Allgemeinen – und der Synodalstatuten im Besonderen – für den im 12. und 13. Jahrhundert zu beobachtenden Transformationsprozess von isolierten und auf lokale Bezüge konzentrierten Sprengeln zu offeneren und verstärkt in die Gesamtkirche integrierten Pfarreien.

Die erstaunliche Verbreitung und Entwicklung der Kirchenmusik am Vorabend der Reformation stand im Zentrum der Ausführungen von Dr. Magnus Williamson (Newcastle) zum Thema «Music in the late medieval parish church – European trends and English case studies». Das 15. Jahrhundert erschien dabei als wichtigste Wachstumsphase musikalischer Aktivitäten in niederländischen und englischen Pfarreien. Inspiriert von einem intensiven Heiligenkult – und gefördert von Zünften und Bruderschaften – erweiterten Pfarreien das Repertoire ihrer gesungenen Messen, so dass sich sogar in kleinstädtischen Kontexten vermehrt Hinweise auf "pricksong", d.h. Mehrstimmigkeit, finden. Wurde Polyphonie im 13. Jahrhundert noch als suspekte Elaboration der Liturgie eingestuft, trugen nicht zuletzt die Angriffe der Lollarden dazu bei, musikalischer Ausschmückung als Symbol orthodoxer Gesinnung zu einem großen Aufschwung zu verhelfen.

Den letzten Themenkreis erörterte Dr. István Monok (Budapest) in seinem Vortrag «Die Pfarreien und ihre Bücher in den Karpaten». In einer politisch heterogenen, religiös wiederholt neu ausgerichteten und im Einflussbereich des Osmanischen Reiches befindlichen Region spielte die niedere Geistlichkeit eine besonders bedeutende Mittlerrolle in der Rezeption geistesgeschichtlicher Strömungen (vom Humanismus bis zur nachreformatorischen Ausgestaltung der rivalisierenden konfessionellen Kulturen). Weil der kommerzielle Buchhandel im Karpatenbecken nur schwach entwickelt war, entwickelten sich Pfarrei- und Schulbibliotheken zu zentralen Stützpfeilern des intellektuellen und religiösen Lebens.

In der Schlussdiskussion wurden zunächst die immer wieder berührten Quellenprobleme (also vor allem die Schwierigkeit der Rekonstruktion von Motiven und treibenden Kräften kultureller Entwicklungen) hervorgehoben. Unter den Einsichten zur Identitätsbildung stach die Vielfalt der Kontexte, Einflüsse und Orientierungsmöglichkeiten hervor, die es der Forschung unmöglich macht, von «der» europäischen Pfarrei der Vormoderne zu sprechen. Als wichtige Variablen identifizierten die Vortragenden insbesondere die Größe und Homogenität der Sprengel, die Herrschaftsverhältnisse, den Zugang zu Schriftlichkeit und Buchdruck, aber auch die Diskrepanz zwischen kirchenrechtlicher Theorie (Kirchgemeinde als Untertanenverband) und parochialer Praxis (zunehmender Laieneinfluss auf das Niederkirchenwesen im Spätmittelalter). Von der Signifikanz kommunaler Identitäten zeugen die beeindruckenden Bau- und Ausschmückungsaktivitäten, die sorgfältige Aufbewahrung des Pfarreischriftgutes und die (durchaus konfliktträchtige) Selbstdarstellung in Ritualen, Prozessionen und Gerichtsfällen. Als universale lokale Organisationsform des kirchlichen Lebens bildet die Pfarrei eine einzigartige Basis für vergleichende Studien zum religiösen, sozialen und politischen Leben der Vormoderne. Die äußerst komplexen Kulturtransferprozesse stellen die Forschung allerdings vor große methodische Herausforderungen, wobei Amtsträger wie Geistliche und Kirchmeister, aber auch Bruderschaften, Künstler und Bettelorden sicher Schlüsselstellungen einnahmen. Zweifellos müssen Kirchgemeinden immer in ihren weiteren Verflechtungen mit anderen lokalen Einheiten sowie regionalen und zentralen Instanzen (nicht zuletzt dem entstehenden Territorialstaat) gesehen werden. Als konkretes Forschungsdesiderat wurden Studien zum musikalischen Pfarreileben im französisch-, italienisch- und deutschsprachigen Raum identifiziert.

Die Fortsetzung und Vertiefung der in Wolfenbüttel geknüpften Kontakte wurde generell als wünschenswert bezeichnet, insbesondere mit Blick auf eine Ausweitung des chronologischen Blickfeldes auf die gesamte frühe Neuzeit und die Weiterverfolgung alltags- und kulturgeschichtlicher Ansätze. Mögliche Zielsetzungen wären die Erarbeitung einer thematischen Gesamtbibliographie, modellhafte Quelleneditionen und weitere Schritte hin zu einer vergleichenden Geschichte der europäischen Pfarrei. Als Koordinationsplattform bietet sich u.a. das ‘Warwick Network for Parish Research’ (http://go.warwick.ac.uk/parishnetwork) an, das Informationen zu einschlägigen Materialien, Projekten und Tagungen – darunter auch ausführlichere Zusammenfassungen der Workshop Vorträge – online zur Verfügung stellt.

Zum Rahmenprogramm des Workshops gehörte eine von Dr. Gillian Bepler geführte Besichtigung der Ausstellung «Tradition als Herausforderung». Dafür wie auch generell für die Ausrichtung der Veranstaltung sei der Herzog August Bibliothek herzlich gedankt. Eine Publikation der Tagungsbeiträge wird angestrebt.


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