Wie europäisch ist der Balkan? Wie balkanisch ist Europa?

Wie europäisch ist der Balkan? Wie balkanisch ist Europa?

Organisatoren
Christian Voss; Südosteuropa-Gesellschaft (SOG)
Ort
Duisburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.02.2007 -
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Von
Martin Sanner, Berlin

Das Symposion fand im Zusammenhang mit der Jahreshauptversammlung der Südosteuropa-Gesellschaft (SOG) unter der Federführung des stellvertretenden Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats der SOG, Prof. Dr. Christian Voss (Berlin), statt. Gastgeber vor Ort waren Prof. Dr. Heinz-Jürgen Axt (Duisburg-Essen) für die SOG und Prof. Dr. Thomas Heberer, Prodekan Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Die Veranstaltung beinhaltete fünf Vorträge aus den Bereichen Geschichts-, Sprach- und Literaturwissenschaften sowie der Byzantinistik.

Der Präsident der SOG, Gernot Erler MdB, Staatsminister im Auswärtigen Amt, betonte in seiner Begrüßung die Wichtigkeit der wissenschaftlichen Unterstützung der politischen Prozesse. Gerade die aktuelle Diskussion um den Status des Kosovo, der Beitritt Bulgariens und Rumäniens in die EU sowie die damit verbundenen Sorgen der Menschen um die ökonomische und sicherheitspolitische Tragfähigkeit der EU seien gravierende Gründe für eine versachlichende Aufklärungsarbeit der Wissenschaft. Thomas Heberer hob in seinen Begrüßungsworten die internationale Ausrichtung der Universität Duisburg-Essen hervor. Beispielsweise ist der Außenminister der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Makedonien, Antonio Milošoski, Doktorand bei Heinz-Jürgen Axt, der seinerseits den Jean Monnet-Lehrstuhl für Europäische Integration und Europapolitik der Universität Duisburg-Essen innehat. Prof. Dr. Anton Sterbling (Görlitz), Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der SOG, fasste seine Grußworte kurz und verwies auf seinen Kollegen Christian Voss, der auch den ersten wissenschaftlichen Beitrag des Symposions lieferte.

Balkandiskurse und symbolische Geographie

Unter diesem Titel erläuterte Christian Voss zunächst, wie hartnäckig sich pejorisierende Stereotype bis heute in den Diskursen über den Balkan halten. Vorurteile wie atavistische, irrationale Gewalt und Brutalität, ethnischer Hass und Kleinstaaterei sind nach wie vor häufig verwendete Begriffe der Balkandiskurse. Aus wissenschaftlicher Sicht stelle sich die Frage, inwieweit diese Reduktionen rein konstruktiven Charakter haben oder doch zu einem gewissen Grad auf einer prädiskursiven Essenz beruhen. Hinzu komme der Aspekt, in welchem Maß sich derartige Zuschreibungen wissenschaftlich valide in klar definierbaren Räumen verorten lassen. Dieser Gesichtspunkt wird inzwischen meist unter dem Begriff mental maps behandelt. Christian Voss lieferte einen anschaulichen Abriss über die breite Diskussion und mahnte einen differenzierten Standpunkt zwischen zu starker dekonstruktivistischer Haltung und erstarrtem Essentialismus an. Aus seiner Sicht als Linguist analysierte er insbesondere das Balkanstereotyp der Mehrsprachigkeit. Die Sprachenvielfalt in Südosteuropa wird meist entweder unter dem Gesichtspunkt der zu starken Ausdifferenzierung der einzelnen Sprachen oder dem Aspekt der Konvergenz der räumlich oder genetisch nahen Sprachen – Stichwort Balkansprachbund - behandelt. Hinsichtlich der sprachlichen Interaktion betonte Christian Voss den Begriff der Akkommodation, der aus der Soziolinguistik stammt. Akkomodation meint das unbewusste Sichanpassen an das Gegenüber. In diesem Sinn ist die gemeinsame Struktur der Balkansprachen ein Ergebnis der Anpassung an das jeweils sprachlich Andere, dessen man nur kaum mächtig ist, und kein Phänomen einer apriorischen Vielsprachigkeit der Sprecher auf dem Balkan.

„ORIENT —> OKZIDENT“: Topographien der Balkanisierung

Mit diesem Beitrag eröffnete die Literaturwissenschaftlerin Dr. Tatjana Petzer (Berlin) einen markanten Gegendiskurs gegenüber den herrschenden – meist westlichen – Balkanstereotypen. Mit Beispielen aus den drei Phasen des ehemaligen Jugoslawiens (1918-1941, 1945-1991, ab 1991) lieferte sie luzides Anschauungsmaterial dafür, dass Balkanisierung bzw. Jugoslawismus auch das avantgardistische Moment der Überwindung nationalstaatlichen Denkens beinhalten. Der Beginn ihres Beitragstitels „ORIENT —> OKZIDENT“ zitiert das Deckblatt der Zeitschrift Zenit, die von 1921 bis 1926 anfangs in Zagreb und später in Belgrad erschienen ist und Sprachrohr der zenitistischen Bewegung war. Dieses Blatt verschrieb sich der Idee, dass in der Balkanisierung die große Chance der Erneuerung des gesamten Europas läge, das bereits viel zu sehr im Nationalismus des 19. Jahrhunderts verkrustet gewesen sei. In diesem Sinne sei auch der Richtungspfeil zwischen dem Begriffspaar Orient/Okzident zu lesen, der Neuorientierung des Westens durch den Osten stiftet. Auch das föderative Tito-Jugoslawien, das unter der Parole „Bratsvo i Jedintsvo“ (Brüderlichkeit und Einheit) firmierte, stellt Tatjana Petzer zufolge eine Staatsform dar, die zumindest im herkömmlichen Sinne national unmarkiert war und die Völker jenseits ihrer ethnischen Herkunft verbinden wollte. Als ein Sinnbild dieses Anspruchs hat sich die Bundesstraße B 51, der „Autoput Bratsva i Jedinstva“, in die Landkarte des ehemaligen Jugoslawiens eingraviert, die vier der sechs Teilrepubliken verbindet und unmittelbar nach 1945 als großes Gemeinschaftsprojekt initiiert wurde. Nach dem Zerfall Jugoslawiens greift das Künstlerkollektiv Neue Slowenische Kunst (NSK) die Topoi Balkanisierung/Jugoslawismus erneut auf und transzendiert sie sogleich. Es ruft 1991 den globalen NSK-Staat aus, dessen Grenzen und Institutionen einen fluiden Charakter haben. Diese drei Beispiele südosteuropäischen Transnationalismus, die Tatjana Petzer vorstellte, gaben frische Impulse für die oft eingefahrenen Betrachtungen dieses Raums.

Wie byzantinisch ist der heutige Balkan?

Der Byzantinist Prof. Dr. Günter Prinzing (Mainz) lenkte den Blick auf eine tiefe historische Wurzel Südosteuropas, das byzantinische Erbe dieses Raumes. Er korrigierte zu Beginn seiner Ausführungen den Titel seines Vortrags, indem er das „ist“ durch ein „war“ ersetzte, und schilderte detailliert die wechselvolle Geschichte des Byzantinischen Reichs seit dessen Entstehung am Ende des 4. Jahrhunderts bis zur Niederlage gegen die Osmanen im Jahre 1453. Eine tragende Säule dieses Reichs war stets die orthodoxe Kirche, die im Gegensatz zur westlich-römischen Kirche dezentral-monastisch organisiert war. Diese Verwaltungsstruktur hat sich bis heute auf der Halbinsel Athos im Nordosten Griechenlands erhalten. Dort befinden sich eine Vielzahl von Mönchsklöster. Ein Teil der
Halbinsel um den Berg Athos herum hat seit 1923 den Status einer autonomen griechisch-orthodoxen Mönchsrepublik. Ein Teilnehmer aus dem Auditorium ergänzte den Vortrag von Günter Prinzing. Er betonte, dass durch diese dezentrale Struktur weltliche Macht immer untrennbar mit kirchlicher Macht vor Ort verbunden war und dies auch ideologisch forciert wurde. Seiner Meinung nach konnte sich im Gegensatz dazu in der Einflusssphäre der zentralistischen, römischen Kirche eine eigene weltliche Macht vor Ort wesentlich leichter etablieren. Diese habe nicht zuletzt an der meist großen räumlichen Differenz zur Zentralmacht gelegen. Die besondere Bedeutung der orthodoxen Kirche als gesellschaftspolitischer Machtfaktor sei bis heute ein wichtiges Charakteristikum des Balkans.

Wie osmanisch ist der heutige Balkan?

Der Historiker Dr. Markus Koller (Leipzig) setzte sich mit der anderen großen Phase der Geschichte Südosteuropas auseinander, der osmanischen Zeit vom 15. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Er versachlichte die oft stark polemisch geführte Diskussion um das osmanische Reich, deren Argumente vom „türkischen Joch“ bis zum „goldenen Zeitalter“ reichen: Der Begriff osmanisch bezieht sich zunächst nur auf die Bezeichnung der Herrscherdynastie der Osmanen. Die Osmanisierung Südosteuropas bedeutet jedoch die Ausbreitung eines spezifischen Herrschaftsstils, den diese Herrscherfamilie pflegte, um ihre Macht in den neu eroberten Gebieten zu sichern. Hierbei war es wesentlich, dass lokale, bereits bestehende Gesellschafts- und Rechtsstrukturen in das osmanische System integriert wurden. Diese antitotalitäre Strategie erlaubte es beispielsweise, dass osmanische Richter Streitfälle nach altem Traditionsrecht entschieden. Ferner konnten Christen Grundbesitzer bleiben. Die Konvertierung zum Islam erfolgte meist aus sozialen und ökonomischen Gründen, wobei es auch Formen der Zwangsislamisierung gab. Die osmanische Herrschaft hinterließ eine vielschichtige und stark ausdifferenzierte Gesellschaftsstruktur, die im starken Gegensatz zur allumfassenden Einheitsideologie des Nationalstaats des 19. Jahrhunderts steht. Die Bewältigung des Widerspruchs zwischen komplexer Realität der Gesellschaft und ideologischer Vereinheitlichung ist Markus Koller zufolge eine zentrale Zukunftsaufgabe des Balkans.

Südosteuropa und Ostmitteleuropa im Vergleich: Zur Konzeptionalisierung von historischen Großregionen

Der Historiker Prof. Dr. Peter Haslinger (München) betrachtete Südosteuropa im Vergleich mit einer anderen europäischen Großregion, Ostmitteleuropa, und problematisierte dabei die wissenschaftliche Methode, Großregionen als historische Einheiten einzugrenzen. Um von einer signifikanten Geschichtsregion sprechen zu können, müsse man ein Bündel von Strukturmerkmalen herausfiltern, die exklusiv für die gesamte Region gelten und zugleich eine temporäre Nachhaltigkeit besitzen. Dieser Anspruch ist nach Peter Haslinger nie vollständig einzulösen. Er stellt deshalb die Tragfähigkeit von historischen Großregionen als Referenzrahmen für Gesamtentwicklungen massiv in Frage. Dennoch suchte er nach Merkmalen, die einerseits für beide Großregionen und andererseits nur für ein Gebiet gelten, um zu zeigen, mit welcher Vorsicht man mit dem Konzept der historischen Großregionen umgehen sollte. Hinzu komme, dass die Grenzziehung zwischen beiden Räumen abschließend nicht zu klären sei. Als gemeinsames Merkmal nannte er zum Beispiel kulturelle Pluralität und ethnisch-konfessionelle Vielfalt bzw. Verlustgeschichte, die durch Normierung, Assimilation und Gewalt (Zwangsmigration, Genozid) verursacht sei. Unterschiedlich sind beispielsweise die verschiedenen Ausprägungen hinsichtlich der Orientierung nach Mitteleuropa, insbesondere nach 1989. Vor diesem Hintergrund plädierte Haslinger dafür, historische Großregionen als „Grundierungen“ heranzuziehen und vermeintlich harte Kriterien nicht erstarren zu lassen und sie der regelmäßigen Reflexion zu unterziehen.

In der anschließenden, kurzen Abschlussdiskussion schlug ein Teilnehmer aus dem Auditorium vor, auf harte Kriterien völlig zu verzichten, da diese stets diskursive Konstruktionen seien und deshalb ohnehin permanent zur Disposition stünden. Ein weiterer Beitrag aus dem Publikum betonte noch einmal die Hinfälligkeit von starren räumlichen Grenzziehungen und verwies auf die Geographie, insbesondere die Sozialgeographie, die schon lange darüber hinweg sei, während weitere Stimmen eine räumliche Verortung von wissenschaftlichen Betrachtungen als durchaus legitim verteidigten. Eine andere Wortmeldung nahm die gesamte Veranstaltung ins Visier und kritisierte, dass weder Forscherinnen und Forscher aus der diskutierten Region eingeladen noch empirische, aktuelle Forschungen über die Region – zum Beispiel aus der Ethnologie – präsentiert wurden.

Insbesondere die Ausführungen von Peter Haslinger belegen, wie brüchig die methodische Trennlinie zwischen Europa und dem Balkan ist, die der Titel der Tagung suggeriert. Der Balkan ist vielleicht ein ökonomisches und politisches Sorgenkind Europas, er ist aber auch ein vielschichtiger und dynamischer Raum, der das übrige Europa zur Selbstreflexion zwingt. Europa als hermetischen Raum mit homogenen Inhalten zu begreifen, verfehlt die europäische Realität im globalen Kontext. Insofern ist Tatjana Petzer nur beizupflichten, die in ihrem Vortrag äußerte, dass die Balkanisierung zwischen Europäisierung und Globalisierung zur Figur der Entgrenzung geographischer, politischer, kognitiver, virtueller Räume avanciere.


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