Kulturanalyse - Psychoanalyse - Sozialforschung. Positionen Verbindungen, Perspektiven

Kulturanalyse - Psychoanalyse - Sozialforschung. Positionen Verbindungen, Perspektiven

Organisatoren
Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Universität Graz; Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien; Verein für Volkskunde/Österreichisches Museum für Volkskunde in Wien
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
23.11.2006 - 25.11.2006
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Von
Sabine Manke, Marburg

Vom 23. bis 25. November 2006 fand in Wien die Tagung "Kulturanalyse – Psychoanalyse – Sozialforschung. Positionen, Verbindungen und Perspektiven" statt. Tagungsort war das Österreichische Museum für Volkskunde, welches das Symposium zusammen mit dem Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Universität Graz und dem Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien vorbereitet hatte. Die Kulturwissenschaftlerinnen Margot Schindler, Elisabeth Katschnig-Fasch und Elisabeth Timm hatten zu einer exzellent organisierten Tagung eingeladen und neben Vertretern und Vertreterinnen ihrer eigenen, mit vielen verschiedenen Fachbezeichnungen hantierenden Disziplin (Volkskunde, Empirische Kulturwissenschaft, Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie) vor allem auch Repräsentanten aus (Ethno-)Psychoanalyse, Sozialpsychologie und Geschichtswissenschaft geladen.

Was ursprünglich als informelle Veranstaltung geplant war, musste aufgrund des großen Interesses letztlich doch in geregelte Verwaltungsstrukturen gelenkt werden. Die Direktorin des Österreichischen Museums für Volkskunde, Margot Schindler (Wien), zeigte sich in ihren Begrüßungsworten dementsprechend verblüfft von der starken Resonanz. Diese erklärt sich wohl daher, dass es eine vergleichbare Veranstaltung innerhalb der oben genannten Disziplienen bisher kaum gegeben hat. Dass eine Tagung, die sich nicht nur einen disziplininternen, sondern auch fächerübergreifenden Diskurs zum Anliegen gemacht hat, von einer nicht zu vernachlässigenden ‚Randgruppe’ im Fach dankbar aufgenommen wird, verwundert vielleicht gar nicht so sehr. Eine echte Überraschung war dagegen die Mühe, die es auf beiden Seiten kostete, miteinander ins Gespräch zu kommen, sich auf gemeinsame Begriffe zu verständigen bzw. Differenzen anzuerkennen.

Dies zeigte sich gleich zu Beginn. Die einführende Abendveranstaltung förderte bereits soviel Konfliktmaterial zutage, dass Symposiumsteilnehmer und -teilnehmerinnen sich im Laufe der beiden Folgetage immer wieder an ihr abarbeiten konnten. Zunächst gab Elisabeth Katschnig-Fasch (Graz) einen Überblick über die gemeinsame Geschichte von Psychoanalyse und Kulturwissenschaft. Anschließend moderierte sie die Begegnung zwischen dem Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim (Zürich), der Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus (Frankfurt a.M.) und dem Kulturwissenschaftler Martin Scharfe (Marburg). Die drei Podiumsteilnehmer sollten mit Hilfe von kurzen Impulsreferaten in ein gemeinsames Gespräch über das Tagungsthema gelangen.

Mario Erdheim (Zürich) suchte nach Antworten auf die Frage, warum sich die Kulturwissenschaften mit der Psychoanalyse so schwer täten und skizzierte zwei mögliche Antworten: Zum einen führte er den ökonomischen Druck ins Feld, der von Forschungsanträgen eine genaue Darlegung von Thesen, Zielen und die Angabe eines möglichst kontrollierbaren Instrumentariums verlange. Niemand bekäme Fördergelder für die Ankündigung, mittels gleichschwebender Aufmerksamkeit erst nach Problemen und Fragestellungen in einem unbefristeten Zeitraum suchen zu wollen. Zum anderen benannte er die fundamentale Verwirrung, in die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen durch den ungewohnten Einbezug der eigenen Subjektivität in die Forschungsperspektive gestürzt werden könnten. Die Psychoanalyse zeige sich so als wagemutiger Versuch, sich selbst den epistemologischen Boden unter den Füßen wegzuziehen.

Mit dem Echo Erdheims noch im Ohr geriet der wesentlich forschere Tenor von Ina-Maria Greverus’ (Frankfurt am Main) Beitrag besonders kontrastreich. Ihr Thema stand in Anlehnung an Freuds ‚Unbehagen in der Kultur’: das andauernde, gegenwärtige Sprechen über, Suchen nach und Leben für das ‚Glück’. Greverus wirkte keineswegs wie im epistemologischen Fall begriffen, sondern schien die Psychoanalyse als durchaus griffigen Ansatz zur Enttarnung sozialer Ungleichheit, zum Aufdecken des unter dem Gerede vom Glück verschütteten Leids und zur Dekonstruktion bipolarer Konstellationen überhaupt zu verstehen. Trotz dieses dekonstruktiven Impetus’ schwangen empfundenermaßen etliche (bipolare) Gewissheiten mit: ein klares Wissen darum, wo Natur aufhört und Kultur anfängt, was Glück vom Unglück unterscheidet und die Sicherheit, dass die Kulturwissenschaften den vermeintlich Glücksuchenden die Augen für ihr Leid zu öffnen hätten.

Vermutlich wäre über ihre Perspektive mehr gestritten worden, wenn nicht das letzte Impulsreferat von Martin Scharfe (Marburg) die überhaupt nicht gleichschwebende, sondern sehr komprimierte Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Er hatte einleitend versprochen, implizite oder explizite Freud-Zitate in seinem Beitrag nicht zu markieren, sondern den Erfahrungs- und Deutungsschatz der Psychoanalyse als Grundwissen vorauszusetzen. Mag sein, dass der eine oder andere Lehranalytiker bei diesem vielleicht als respektlos empfundenen Übergriff auf einen Säulenheiligen bereits den Aufmerksamkeitsmodus wechselte. Stattdessen benannte Scharfe kulturwissenschaftliche Ansätze der Vor-Freudschen Zeit (von Knigge, Schopenhauer, Nietzsche etc.), die sich mit demjenigen Gegenstand beschäftigt hätten, der später für die Psychoanalyse zentral wurde: Kultur als entlarvende Verhüllung des menschlichen Leibes. Zur Illustration zitierte er eine kurze Szene aus der Frühgeschichte des Alpinismus: Ein rätselhaftes, mit offensichtlichen und verdeckten Körperbezügen ausgestattetes Gipfelritual, wie es der Erzherzog Johann von Österreich in einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1817 beschrieben hat.

Die anschließende Diskussion überraschte mit einem erstaunlichen Abgrenzungsbedarf im Verhältnis von Kulturwissenschaften und Psychoanalyse und markierte die wunden Punkte, die im Folgenden immer wieder berührt werden sollten. Erdheim war unzufrieden mit Scharfes Deutung der Gipfelszene in kulturellen Mustern und forderte, man müsse die Interpretation ‚weitertreiben auf das Individuelle’ (nach Kindheit und Erziehung des Erzherzogs fragen etc.). Darin verbarg sich ein impliziter Platzverweis an die anwesenden Kulturwissenschaftler: Ihre Bemühungen konnten im Lichte dieser Bemerkung als Vorstufe zu bzw. Schwundform einer höheren Form der Erkenntnis, der psychoanalytischen Wissenschaft, verstanden werden. Ein zentrales Thema war damit gesetzt: Nicht die neugierige Suche nach Berührungspunkten und Gemeinsamkeiten stand im Vordergrund, sondern das dezidierte Insistieren auf einer psychoanalytischen Sachkompetenz, die es gegen unbotmäßige Übergriffe zu verteidigen galt. Das hätte zur Tagungsfehde zwischen Kulturwissenschaftlern und Psychoanalytikern werden können; allein auf kulturwissenschaftlicher Seite wollte den Handschuh keiner so recht aufnehmen – aus Verblüffung, Verunsicherung, Desinteresse?

Es sollte einige Zeit dauern, bis sich die Tagung zu der Kontroverse des ersten Abends zurückgearbeitet hatte. Der folgende Tagungsvormittag unter dem Sektionstitel ‚Wege zwischen Kulturanalyse, Psychoanalyse und Sozialforschung’ begann jedenfalls friedfertig und bot vier gut strukturierte Referate. Die Sozialpsychologin Regina Becker-Schmidt (Hannover) kritisierte die Entsinnlichung des Körpers in Judith Butlers Deutung der kulturell verankerten Zweigeschlechtlichkeit. Der individuelle Empfindungskörper interessiere die Philosophin nicht, der Körper sei bei ihr durch und durch Sozialkörper. In Becker-Schmidts Referenz auf Adorno und Freud klang an, warum sie dies beklagenswert fand: Adorno habe die Sensualität als den individuellen, nicht vergesellschafteten Teil der Korporalität beschrieben und dem Körper damit einen gewissen subversiven Rest belassen; Freud dagegen hätte im Vergleich zu Butler ein wesentlich differenzierteres Verständnis davon gehabt, dass jeder Verlust durch Vergesellschaftung gleichzeitig auch einen Gewinn mit sich brächte, nämlich die Entstehung eines Möglichkeitsraumes in Form der Fantasietätigkeit.

Auf einer ähnlichen Suche nach Möglichkeiten von Kritik zeigte sich der Geschichtswissenschaftler Eli Zaretsky (New York) mit seinem historischen Rückblick auf ein Jahrhundert Freud. Er betrachtete den historischen Ort, an dem die Psychoanalyse entstanden war, und skizzierte die zeitspezifischen Ansprüche (vor allem der Mittelschicht), auf die sie reagierte. Er konstatierte das Auseinanderfallen des ursprünglich dreifachen Anliegens der Psychoanalyse als Therapieform, Kulturtheorie und ethische Kraft in den 1960-er und 1970-er Jahren, dessen Ursachen er vor allem in dem Aufkommen von Gender-Fragen sowie in den Wirkungen einer kapitalistischen Produktionsweise lokalisierte. Sein Resümee: Ohne einen genauen Blick auf die historische Bedingtheit der Psychoanalyse hätte sie heutzutage nichts mehr zu bedeuten. Erst wenn man die Frage beantwortet hätte, wie eine Therapieform von der Konsumkultur derartig absorbiert werden konnte, könne man auch ihr dringend notwendiges kritisches Potential für die Gegenwart bergen.

Der Beitrag der Psychologieprofessorin Angela Moré (Hannover) widmete sich der transgenerationellen Weitergabe von Traumata und Geheimnissen. Sie machte Freuds Ausführungen zur ‚Gefühlserbschaft’ in ‚Totem und Tabu’ fruchtbar für die vielzitierten erinnerungstheoretischen Entwürfe von Maurice Halbwachs und den beiden Assmanns zum kulturellen Gedächtnis. Das Szenario des Vatermords mit kannibalistischer Pointe skizzierte sie als Urszene der Weitergabe kultureller Werte, Muster etc. und betonte damit den Vererbungswunsch auf Seiten der älteren Generation (also derjenigen, die verspeist wird oder – man müsste nun eher sagen – zur Speisung einlädt). Die Folgegenerationen tauchen in dieser Perspektive eher als die Leidtragenden eines stark negativ konnotierten Vererbungsvorgangs auf: Virulente Traumata, schuldbehaftete Geheimnisse der Elterngeneration würden auf diesem Wege in den Kindern lebendig gehalten.

Unter dem Eindruck des vorangegangenen Abends hatte der Ethnopsychoanalytiker Milan Stanek (Basel) – der letzte Referent an diesem Vormittag – beschlossen, seinen Vortrag über das ‚Soziale Feld jugendlicher Patienten in der Praxis der psychoanalytischen Sozialarbeit’ thematisch zuzuspitzen – und zwar in Hinblick auf die Frage, welche Schlüsse er aufgrund seiner Erfahrungen in der Sozialarbeit über das Verhältnis von Kulturwissenschaften und Psychoanalyse ziehen könne. So wie Ärzte und Psychoanalytiker zwar mit den gleichen Jugendlichen, aber mit ganz verschiedenen Methoden arbeiten würden, so wäre auch die Arbeit von Kulturwissenschaftlern und Psychoanalytikern zu konzeptionieren. Erkenntnisse aus der Psychoanalyse könne man nicht auf die Kulturwissenschaft übertragen. Eine klare Ansage und erneut ein Versuch, die Psychoanalyse vor dem offensichtlich als illegitim empfundenen Übergriff der Kulturwissenschaftler zu schützen. In der anschließenden Diskussion wandte die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Katschnig-Fasch ein, dass man an dem vielbeschworenen Begriff der Störung ablesen könne, dass es sich bei der Psychoanalyse auch um eine Kulturwissenschaft handele – schließlich sei das, was als ‚gestört’ gelte, ja kulturell vermittelt.

Der Beitrag der Kulturwissenschaftlerin Katharina Eisch in der Nachmittagssektion ‚Psychoanalytische Methodik und Erkenntnis in der (Europäischen) Ethnologie’ war vielleicht der Moment der größten Nähe zwischen den beiden Fachverbünden. Schließlich war Eischs Blick fest auf das Individuum gerichtet – in diesem Fall auf einen jungen Mann in einem ICE. Die Vortragende hatte ihren Rucksack zwecks eines Speisewagenaufenthalts an ihrem Platz zurückgelassen und war entsetzt, das Gepäckstück bei ihrer Rückkehr in den Händen des jungen Mannes in geöffnetem Zustand wiedersehen zu müssen. Diese Episode und das sich daran anschließende Gespräch mit dem jungen Mann hatte Eisch noch während der Zugfahrt in ihrem Forschungstagebuch notiert. Der Vortrag referierte ihre Auslegung der Niederschrift bzw. die Erkenntnisse aus einer die Deutung begleitenden Supervisionsgruppe. Ausgerichtet hatte sie ihr Interesse an den thematischen Linien ihres Habilitationsprojekts: ‚Sicherheitsdiskurse in der Moderne’. Hier hatte sich eine Kulturwissenschaftlerin unzweifelhaft auf psychoanalytisches Terrain vorgewagt und dennoch waren die Einwände aus dem psychoanalytischen Fachpublikum eher höflich-wohlwollend. Kritischer waren die Bemerkungen aus dem eigenen Fach, wie zum Beispiel die Frage, ob eine sinnvolle Supervision ohne echte Psychoanalytiker überhaupt möglich sei.

Der anschließende, leider nur verlesene Beitrag des abwesenden Gerhard Kubik – Kulturanthropologe, Ethnomusikologe und Psychoanalytiker aus Wien – stellte ein Feldforschungsverfahren vor, das dieser seit den 1990er-Jahren mit ‚Floating’ umschreibt. Entwickelt hat Kubik diese Methode während zahlreicher Reisen, in denen er das nicht-zielgerichtete, aber interessengeleitete Interagieren mit der Bevölkerung als Königsweg der ethnologischen Forschung entdeckt hatte. Seine Methode erfordere den Verzicht auf das Hantieren mit vorgefertigten Hypothesen, die vermeintlich klare Unterscheidung zwischen persönlichen und wissenschaftlichen Beobachtungen und die sicherheitsschaffende Distanz zwischen Forschersubjekt und Forschungsobjekten. Der Wissenschaftler im Feld habe keine Therapieabsicht; alle diesbezüglichen Erwartungen müssten sofort enttäuscht werden. Die Absage an vorgefertigte Strukturen schaffe die Chance, dass sich im Laufe der Zeit Forschungsfragen und eine zunehmend problemorientierte Zuspitzung der Wahrnehmung ergäben. Die kritischen Stimmen aus der Zuhörerschaft wurden nun lauter. Einige Vertreter der Kulturwissenschaften hatten bereits bei der keineswegs theoriefreien Katharina Eisch nach einer theoretischen Aufrüstung verlangt – die psychoanalytische Einlassung allein könne die wissenschaftliche Qualität nicht garantieren. In Bezug auf Kubiks ‚Floating’ wurde der Tonfall aus derselben Ecke noch etwas schriller: man müsse aufpassen, nicht hinter die erreichten empirischen Standards zurückzufallen – das Gespenst vom ‚Positivismus der Gefühle’ wurde beschworen.

Der letzte Vortrag des Tages schien auf diese Bedenken zu antworten. Die Ethnopsychoanalytikerin Florence Weiss (Basel) beschäftigte sich mit Pierre Bourdieus Werk ‚Misère du monde’, welches dieser mit einem Mitarbeiterteam auf der Grundlage von zahlreichen offenen Interviews mit sozial Benachteiligten verfasst hatte. Weiss’ Fazit im Angesicht des Buches, das ausführlich aus den Transkriptionen dieser Gespräche zitiert, sowie ergänzende Darstellungen zum Umfeld der Interviewten liefert: Bourdieu ‚brauche’ die Psychoanalyse nicht; er hätte mit dieser Darstellungsform einen Weg gefunden, dem Anderen Raum zu geben – dies habe er mit der Psychoanalyse gemein. Da er die Psychoanalyse nicht für sich reklamiere, müsse er sich auch nicht von ihr abgrenzen. Sollte dies für die psychoanalytisch interessierten Kulturwissenschaftler eine gute Nachricht sein, ein Friedensangebot? War damit gemeint, dass ihre Anwendungen im kulturwissenschaftlichen Feld durchaus geschätzt werden, solange kein expliziter Bezug auf die Psychoanalyse stattfindet? Ein Vortrag, der viele Fragen wohl bewusst offen ließ.

Den vielfältigen Berührungspunkten zwischen Psychoanalyse und Volkskunde widmete sich am Samstagvormittag Bernd Rieken (Wien), Dozent für Europäische Ethnologie. Im Zentrum seiner Ausführungen stand die von ihm mitbetreute Edition von Richard Beitls Habilitationsprojekt aus dem Jahr 1933. Beitls Schrift konstatiert die Zunahme bestimmter abergläubischer Geschichten über Schreckgestalten im 20. Jahrhundert. Auf der Suche nach Erklärungsansätzen für diese Tatsache hatte sich Beitl mit kulturellen und ökonomischen Prozessen sowie dem Aspekt der transgenerativen Weitergabe solcher Geschichten beschäftigt. Insofern sein Thema ihn an die enge Beziehung zwischen rationalem und mythischem Denken herangeführt hatte, war er in die Nähe eines psychoanalytischen Gegenstandsbereichs geraten. Diese Nähe demonstrierte Rieken durch das Referieren vor allem entwicklungspsychologischer Erklärungsansätze zum magischen Denken.

Der Beitrag von Mario Erdheim (Zürich) knüpfte an, wo Riekens Vortrag hingeführt hatte – die kulturelle Bedeutsamkeit von Geschichten. Seine Ausführungen zur ‚Psychoanalyse als Forschungsparadigma’ fokussierten mit dem Bild vom „In-Geschichten-verstrickten Menschen“ (eine Wendung des Philosophen Wilhelm Schapp) ein für die Psychoanalyse zentrales Motiv. Geschichten seien für Kinder das, was für Wissenschaftler Theorien seien – Erzählungen, die die Lücken unseres Wissens füllten. Sie befriedeten diejenigen Problemfelder, von denen eine andauernde Beunruhigung ausgehe. Dass Geschichten mit Leib und Leben unmittelbar verstrickt sind, skizzierte Erdheim anhand historischer Beispiele wie der Hexenverbrennung, und mittels einer quasi genetischen Perspektive auf das Geschichtenerzählen – den Aufklärungserzählungen um das Geschehen der Sexualität. Die Storchengeschichte diente als Paradebeispiel dafür, dass Geschichten Probleme stillstellen, aber letztlich doch dazu führen, dass alte Fragen konserviert und neue gestellt werden. Das Verstricktsein in Geschichten sei deswegen auch der Schlüssel zu ihrem Verständnis. Ziel sei die Befreiung von der Macht, die diese Geschichten über uns besäßen.

Was bei Erdheim als gemäßigte Fortschrittshoffnung in Gestalt einer progredierenden Selbsterkenntnis angeklungen war, tönte in Helmut Dahmers Beiträgen auf dem abschließenden Panel zur ‚gesellschaftspolitischen Relevanz psychoanalytischer Zugänge in der Kulturwissenschaft’ als umfassende Erlösungshoffnung. Diese tauchte bei ihm im Spiegel apokalyptischer Zukunftsvisionen auf: Im Anschluss an Freuds Vision von einer ‚Kultur, die keinen mehr erdrückt’ sprach Dahmer von der Utopie einer de-institutionalisierten Gesellschaft, vom ‚Brechen des Wiederholungszwangs’ in ‚unserer’ Kultur, die er in einem circulus vitiosus von Massaker zu noch schrecklicherem Massaker bewegen sah. Mit der Entwicklung der Psychoanalyse habe Freud als Angehöriger einer verfolgten Bevölkerungsgruppe auf eben diese Strukturen in unserer Gesellschaft reagieren wollen. Wenn ‚wir’ das Sphinx-Rätsel des Wiederholungszwangs nicht lösten, dann würde es tödlich für ‚uns alle’ ausgehen.

Neben Dahmer auf dem Podium: Klaus Theweleit (Freiburg). Mit dieser Besetzung hatten die Organisatorinnen der Tagung wohl das rätselhafteste Bild und zugleich die erkenntnisreichste Szene des Symposiums überhaupt geschaffen. Theweleit hatte sich ebenfalls den – von Dahmer angedeuteten – Holocaust als Ausgangspunkt für seine Ausführungen gewählt. Er bezeichnete ihn als ‚Revitalisierungsmittel’ für eine deutsche Bevölkerung, die sich in der orgiastisch erlebten Vertreibung und Ermordung der Juden von Minderwertigkeitsgefühlen habe befreien wollen. Die 1968er-Bewegung könne man als ‚wilde Analyse’ verstehen, mit der man auf den Straßen der Republik der Frage nachgegangen sei, wie die Elterngeneration zu solchen Taten fähig gewesen war. Die Wiederbelebung von Freud und seinen Perspektiven auf Mensch und Kultur sei untrennbar mit den Fragen nach der eigenen familiären Vergangenheit verknüpft gewesen. Ihre vorrangige Bedeutung habe die Psychoanalyse nicht als Interpretations-‚Methode’, vielmehr sei sie ein lebendiges Geschehen – Kunstarbeit wie Teil eines interaktiven Zusammenhangs gleichermaßen. Damit brachte er zusammen, was sich während des größten Teils der Tagung wie zwei Gegenspieler unversöhnlich gegenüber gestanden hatte: Eine kulturwissenschaftliche Perspektive sowie ein Gefühl der Wertschätzung für die Existenzweisen des Individuums. Konsequenterweise sah er auch die konkreten Beziehungsverhältnisse jedes Einzelnen im Zentrum gesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Man müsse auch aus der ‚Töterei’ im übertragenen Sinne aussteigen – oft wachse in zwischenmenschlichen Beziehungen nur die eine Seite.

So unterschiedlich Dahmer und Theweleit als Wissenschaftler und Person auch wirkten, so trafen sie sich nicht nur in einer rigorosen Institutionenkritik. Beide schienen füreinander wie Verstärker zu funktionieren. Gemeinsam schaukelte man sich und die Zuhörerschaft in die dunklen Gefilde abgedrängter Untergangsvorstellungen und Erlösungshoffnungen. So entstand die Art von Stimmung, in der man, ohne Peinlichkeit zu empfinden, vom Referieren eines Erlebnissplitters direkt zur Weltrettungsformel oder zur fatalistischen Weltuntergangsfantasie vorstößt. Reflexion sei nicht das Gegenteil von Affekt, beschloss Dahmer das Podium. In diesem Fall waren die Affekte der Reflexion allerdings wild galoppierend davongeritten. Nicht verwunderlich also, dass dies auch die Stimmung war, in der die zuvor sorgsam gezogenen Grenzmarkierungen zwischen den Fächerverbünden von Kulturwissenschaften und Psychoanalyse auf einmal gegenstandslos wurden. Im Angesicht von Folter und Mord rückte man wieder enger zusammen. Der Übergang vom Individuellen zum Kollektiven – eben noch ein unüberwindbares Hindernis, jetzt eine Lappalie, nicht weiter der Rede wert.

Zum Schluss eine Anmerkung: Da die perspektivische Zuspitzung eines Tagungsberichts weder der Komplexität der einzelnen Beiträge, noch den An- und Absichten der Vortragenden gerecht werden kann, sei hier nachdrücklich auf die schriftlichen Fassungen der Vorträge verwiesen, die im Herbst 2007 in den Heften 2 und 3 der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde publiziert werden.

Kontakt

Dr. Claudia Peschel-Wacha
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