Von der „europäischen Stadt“ zur „sozialistischen Stadt“ und zurück? Urbane Transformationen im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts

Von der „europäischen Stadt“ zur „sozialistischen Stadt“ und zurück? Urbane Transformationen im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Thomas Bohn (Jena); Jahrestagung des Herder Forschungsrates und des Collegium Carolinum
Ort
Bad Wiessee
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.11.2006 - 26.11.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Michal Pullmann, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Karlsuniversität Prag

Die Jahrestagung des Collegium Carolinum, die Ende November 2006 in Bad Wiessee stattfand, war urbanen Transformationen im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts gewidmet und führte damit die Reihe interdisziplinärer, komparativer Konferenzen zur Sozial- und Kulturgeschichte Ostmitteleuropas während des Staatssozialismus fort, die das Institut vor einigen Jahren eröffnet hatte. Stadtgeschichte und vor allem die Geschichte der „sozialistischen Stadt“ hat seit einer Weile Konjunktur. Die fast aktivistische Atmosphäre bei den Tagungsdiskussionen zeigte aber nicht nur, dass die auf Thomas Bohn (Jena) zurückgehende Konzeption höchst gelungen war, sondern auch den nach wie vor großen Forschungs- und Klärungsbedarf auf diesem Themenfeld. So zeigte die Veranstaltung, dass es sich auf jeden Fall lohnt, historische Zeitdiagnosen anhand der Themenfelder zu unternehmen, auf denen sich die Lebenswelten und Sinnzusammenhänge besonders dicht mit sozialen Strukturen, wirtschaftlichen Zwängen und politischen Rahmenbedingungen überschneiden.

Um die moderne Stadtentwicklung in Ostmitteleuropa – und damit in einem sehr heterogenen historischen Raum – zu erfassen und vergleichbar zu machen, wurden auf der Tagung unterschiedliche Aspekte thematisiert: Kontinuitäten und Brüche in der politischen Entwicklung, die Rolle der Industrialisierung, der Wandel sozialer Strukturen, Repräsentationen und utopische Energien, die Bedeutung der Sprache sowie symbolische Auseinandersetzungen. Angesprochen wurden zudem methodologische Fragen.

Bereits in der ersten Diskussion, die dem Eröffnungsvortrag von Friedrich Lenger (Gießen) über „Stand und Perspektiven der Urbanisierungsforschung zum 20. Jahrhundert“ und den zwei Kommentaren von Michaela Marek (Leipzig) und Karl Schlögel (Frankfurt/O., Uppsala) folgte, entfaltete sich eine spannende Kontroverse über den angestrebten Anspruch der Reflexion: Sollte es das Ziel der Diskussion sein, diese in möglichst enger Nähe zum Forschungsobjekt zu führen, oder sollte vielmehr die Ausarbeitung des wissenschaftlichen Instrumentariums an erster Stelle stehen?

Der rote Faden, der sich durch die Tagungsvorträge und -diskussionen zog, waren Fragen nach der inneren Dynamik der Urbanisierung, nach möglichen Gegenprozessen und der kulturellen Dimension der Stadtentwicklung. In sehr übersichtlicher Weise wurde zum Beispiel die Entwicklung belarussischer Städte präsentiert: Das Hauptanliegen des Vortrags „Von jüdischen Schtetln zu sowjetischen Industriestädten. Paradoxien der Urbanisierung Weißrusslands“ von Thomas Bohn etwa bestand darin, einen phasenverschobenen Verstädterungsprozess aufzuzeigen, der entgegen den Zielen der unter dem Zeichen der sozialistischen Planwirtschaft verlaufenden Industrialisierung eine Ruralisierung der urbanen Zentren bedingte. Jiří Pešek (Prag) umspannte mit seinem Beitrag über „Die Regulierung des Prager Stadtwachstums“ das gesamte 20. Jahrhundert. Pešek thematisierte die Haupttendenzen der Entwicklung Prags mit besonderer Akzentuierung der Stadtplanung und Stadtentwicklung in der Zeit des „realen Sozialismus“. Dabei erläuterte er nicht nur die wichtigsten Regulierungsmaßnahmen, sondern fragte auch nach möglichen Kontinuitäten vor allem mit Blick auf die sozialistischen Projekte, die weder „nur“ als „verwilderte Modernisierung“ noch als ein ganz anderer Typus begriffen werden könnten. In der Diskussion der beiden Vorträge ging es insbesondere um das Verhältnis von Urbanisierung und Verstädterung: Um die unterschiedlichen Formen von Stadtentwicklung in einen historischen Erklärungsrahmen einordnen zu können, bedarf es – über die gründliche sozialstrukturelle Analyse hinaus – nicht nur einer klaren Kriterienwahl für die Klassifikation, sondern auch der Thematisierung der Gegenprozesse, Transfers und Utopien.

Ein enger Zusammenhang von sozialistischer Wirtschaftsplanung, Zukunftsoptimismus und ursprünglicher sozialer Verankerung neuer Stadtbewohner ging aus dem vergleichend konzipierten Vortrag über „Die Entwicklung sozialistischer Planstädte: Eisenhüttenstadt, Nowa Huta und Ostrava-Kuncice“ von Dagmara Jajesniak-Quast (Potsdam) hervor. Sie zeigte, dass die architektonischen Pläne für die neuen sozialistischen Industriestädte stets in einem spezifischen Kontext realisiert wurden. Unter vielen Faktoren, die diese Städte prägten, wirkte die starke Zuwanderung überwiegend junger Menschen vom Land am stärksten und führte zur Entstehung ambivalenter Situationen und Tendenzen – wie zum Beispiel dem langen Fortbestehen ländlicher Verhaltensweisen im urbanen Raum. Im Unterschied zu diesem Vortrag, der die utopischen, sozialstrukturellen und wirtschaftlichen Aspekte der Stadtentwicklung in einer detailliert erarbeiteten Verwobenheit dargestellt hatte, war die Mikrostudie über die Langzeitentwicklung von Hruschau/Hrušov (Nicole Hirschler und Vladimír Horák, Ostrava) eher als traditionelle historische Erzählung von einem Ort abgefasst.

Im Folgenden wurden die Repräsentationen von Nachkriegsstädten anhand mehrerer Beispiele analysiert, wobei es in erster Linie um sozialistische und nationale Identitätsnarrative und ihren Ausdruck in Architektur und Denkmalkultur ging. Karsten Brüggemann (Lüneburg) sprach über den Wiederaufbau Narvas, Agnieszka Zabłocka-Kos (Wrocław) ging dem Wandel der schlesischen Städte Kowary (Schmiedeberg), Legnica (Liegnitz) und Głogów (Glogau) nach, Jan Musekamp (Frankfurt/O.) stellte Denkmäler in Szczecin (Stettin) vor und Monika Stromberger (Graz) Architektur in Ljubljana. Die Diskussion dieser vier Beiträge konzentrierte sich einerseits auf die Sinnzusammenhänge zwischen den einzelnen Denkmälern und auf Konflikte zwischen den Symbolen bzw. konkurrierenden Städten, andererseits auf die hegemonialen Strategien und den gruppenspezifischen Charakter der öffentlich präsenten Symbole.

Besonders eindringlich traten Fragen nach den Kontinuitäten und Diskontinuitäten, nach Verbürgerlichung und Entbürgerlichung, lebendiger oder fehlender Urbanität im Vortrag über den Prager Wenzelsplatz von Ines Koeltzsch (Berlin) hervor. Unter dem Titel „Passagen, ‚Automaten’, Kinos. Der Wenzelsplatz in der Zwischenkriegszeit und die Diskussion um seine Neugestaltung nach 1989“ zeigte Koeltzsch die Bedeutung idealer Vorstellungen über den „Raum der Moderne“ und ihre Veränderungen im Laufe des 20. Jahrhunderts auf: Die Vorstellungen über eine ideale Raumgestaltung hingen stets mit den Erwartungen zusammen, die die Akteure an die öffentliche Sphäre richteten. Zudem machte Koeltzsch deutlich – was in einer gewissen Spannung zu der folgenden Präsentation über die Entwicklung der Konzepte für Dresdens Prager Straße von Heike Delitz (Dresden) stand –, dass die bürgerliche Utopie von der sozialistischen kaum kategorial zu trennen ist und beide konsequent historisiert werden müssen.

Ganz eigenständige Stadtkulturen stellten Jana Nosková (Brno) mit ihrer ethnologischen Untersuchung über die Brünner „štatl“ und Sebastian Schlegel (Jena) mit seinem Beitrag über die geheimgehaltenen Städte des sowjetischen Militärkomplexes vor. Sowohl in diesen als auch in den folgenden Vorträgen, die sich mit dem Kultiviertheits-Narrativ in sowjetischen Kommunalwohnungen der 1920er- und 1930er-Jahre (Julia Obertreis, Freiburg) und dem sowjetischen „Datscha“-Phänomen (Bert Hoppe, Berlin) befassten, wurden ganz zentrale Fragen, wie die nach der alltäglichen Praxis der Aneignung von Verhaltensweisen, nach städtischen Subkulturen und klassenspezifischen Erwartungshorizonten sowie nach der Identifikation mit lokalen Kontexten, angesprochen. Diese sorgten in der Diskussion für lebhafte Auseinandersetzungen unter anderem darüber, worin das spezifisch „Sozialistische“ solcher Phänomene zu suchen sei.

Die abschließenden Vorträge widmeten sich jugendlichen Subkulturen im Budapest der 1960er-Jahre (verlesen für den abwesenden Sándor Horváth, Budapest), der „Sowjetisierung“ Grodnos nach 1944 (Felix Ackermann, Frankfurt/O.), demografischen Trends in Ostdeutschland, Tschechien und Polen (Annett Steinführer, Leipzig) und der neuen sozialen Ungleichheit am Beispiel der Plattenbausiedlung Reichenfeld bei Budapest (Alma Hagen-Demszky, München). In der Diskussion trat erneut nicht nur der Anspruch auf eine konsequente Historisierung der jeweils wirksamen Vorstellungen, Erwartungen und Verhaltensweisen hervor, sondern auch die Notwendigkeit einer sorgfältigen Unterscheidung zwischen der „sozialistischen Stadt“ und der „Stadt im Sozialismus“ hervor. Erst eine solche Kategorisierung – so der Tenor der Debatte – mache es möglich, die Parallelität mancher Prozesse wie etwa der „Sowjetisierung“ und „Russifizierung“, deren Wechselwirkungen, Abhängigkeiten und Gegenläufigkeiten trennschärfer zu erfassen.

Ein wichtiger Bestandteil der Tagung war zweifellos auch die Vorführung des Filmes „Panelstory – aneb jak se rodí sídliště“ (Panelstory – oder wie eine Siedlung entsteht) der tschechischen Regisseurin Věra Chytilová aus dem Jahr 1979, die einen Einblick in das Potential von Gesellschaftskritik in der „normalisierten“ Tschechoslowakei ermöglichte. Der Film diente als ein zusätzlicher „empirischer Beleg“ dafür, dass die Gesellschaft in den modernen urbanen Transformationen kein stummes Objekt der Steuerung war, sondern diese Prozesse aktiv mitgestaltete. Die enorme Bedeutung der sozial- und kulturgeschichtlichen Dimension der Urbanität war übrigens vielleicht das ausdrücklichste Merkmal der ganzen Tagung: In den meisten Vorträgen und Diskussionsbeiträgen offenbarten sich Gruppenbindungen, soziale Interaktionen und Erwartungshorizonte als wichtigste Momente für die Erfassung des modernen Urbanitätswandels. Es war nicht immer möglich, den genauen Stellenwert gesellschaftlicher und kultureller Prozesse in der Interpretation der Stadtentwicklung zu erkennen; hier liegt bestimmt noch Raum für weitere sozial- und kulturhistorisch fundierte stadtgeschichtliche Forschungen. Ohne Zweifel aber hat die Tagung neue Fragen und kritische Potenziale eröffnet, indem der Urbanitätswandel gerade an den Schnittstellen zwischen den Systemansprüchen, Lebenswelten und utopischen Energien festgelegt wurde.

Kontakt

PD Dr. Thomas Bohn

Friedrich-Schiller-Universität Jena, Historisches Institut
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07743 Jena

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03641 944462
Thomas.Bohn@uni-jena.de


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