Revisiting South Eastern Europe. Comparative Social History of the 19th and 20th Centuries

Revisiting South Eastern Europe. Comparative Social History of the 19th and 20th Centuries

Organisatoren
Sabine Rutar; Ruhr-Universität Bochum, Institut für soziale Bewegungen; Centre for Advanced Study in Sofia; Univerza na Primorskem in Koper/Slowenien; Central European University, Budapest
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.01.2007 - 28.01.2007
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Von
Eva Anne Frantz, Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien

Die Konzeption der Konferenz beruhte auf der Beobachtung, dass Südosteuropa in der vergleichenden Geschichte bislang stark vernachlässigt geblieben ist. Ziel war es also, auf möglichst breiter Grundlage Potentiale und Fallstricke einer stärkeren Einbeziehung des Balkans in die europäische Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu problematisieren.

Organisiert wurde die internationale Tagung „Revisiting South Eastern Europe . Comparative Social History of the 19th and 20th Centuries” vom Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum, unter Federführung von Sabine Rutar, und in Kooperation mit dem Centre for Advanced Study in Sofia, der Univerza na Primorskem in Koper/Slowenien sowie der Central European University in Budapest.

Als inhaltlicher und methodischer Aufhänger der Tagung dienten Maria Todorovas Überlegungen zur „Rückständigkeitsfalle“ mit Blick auf die vergleichende Nationalismusgeschichte. 1 Holm Sundhaussen (Berlin) nutzte seinen Eröffnungsvortrag teilweise zur Wiederaufnahme seiner Debatte mit Todorova. In Auseinandersetzung mit ihrem Konzept einer „relativen Synchronität“ in Bezug auf die europäischen Nationalismen befürwortete Sundhaussen die Aufmerksamkeit des Historikers auf zeitliche Abfolgen. Darüber hinaus benannte er zentrale Forschungsfelder, die zu einer gleichwertigen Einbeziehung Südosteuropas in die europäische Historiografie beitragen könnten, z. B. die noch nicht umfassend analysierte Serbophilie im deutschsprachigen Raum im frühen 19. Jahrhundert, die noch zu historisierende positive Reputation des sozialistischen Jugoslawien, die Erklärung der Gewalteskalation im ehemaligen Jugoslawien, die noch empirisch zu verflechtenden Modernisierungsprozesse, insbesondere die ausgeprägten Stadt-Land- bzw. Eliten-Masse-Kontraste, die Ausweitung der für westliche Gesellschaften schon vertieften historisch-soziologischen Auseinandersetzung mit Wertedebatten und Wertewandel, sowie nicht zuletzt die historische Migrationsforschung, die maßgeblich zur Überwindung der üblichen, isolierten Nationalgeschichtsschreibungen beitragen könne. Insgesamt lägen zu den Balkangesellschaften seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Hundertausende bislang nicht systematisch ausgewerteter Daten vor. Die Frage, warum einigen Ländern der europäischen Peripherie, die im 19. Jahrhundert im Vergleich zu „Kerneuropa“ ökonomisch rückständig waren, innerhalb einiger Jahrzehnte der Anschluss gelungen ist, während andere den Abstand bis heute nicht schließen konnten, sei nicht beantwortet. Mehr noch, so Sundhaussen, seien derartige Fragen eher von der sich mit außereuropäischen Gesellschaften beschäftigenden Forschung angegangen worden, so dass die Südosteuropaforschung hier eine wichtige Aufgabe schlicht verschlafen habe.

Die Schwerpunkte der fünf Sektionen der folgenden zweieinhalb Tage lagen auf Mental Maps, Erinnerungskulturen und ihrer Anbindung an sozialhistorische Prozesse, auf den Beziehungen zwischen Struktur und Akteur, insbesondere beim Widerstand gegen, sowie der Anpassung an Sozialstrukturen, auf Faschismusgeschichte sowie auf Identitätsbildungsprozessen.

Die Konzeption der Tagung erwies sich gerade wegen ihres experimentellen Charakters als sehr fruchtbar: Ausgewiesene Experten der (vergleichenden) europäischen Geschichte, überwiegend mit Schwerpunkt auf Westeuropa (Fikret Adanir, John Breuilly, Guido Franzinetti, Bruno Groppo, Lutz Klinkhammer, Heinz-Gerhard Haupt, Falk Pingel, Thomas Welskopp, Sacha Zala, Dieter Ziegler) diskutierten die überwiegend südosteuropäisch orientierten Einzelbeiträge. Pro Sektion sollte ein nicht südosteuropäischer Beitrag jeweils auf mögliche methodische und inhaltliche Affinitäten, Differenzen und Richtungen verweisen.

Im ersten Panel „Mapping the Self and the Other“, moderiert von Falk Pingel (Braunschweig) und kommentiert von Guido Franzinetti (Alessandria), analysierte Daniel Šuber (Konstanz) aus soziologischer Sicht den Einfluss von kulturellen Symbolen und Mythen – mit besonderem Schwerpunkt auf der politischen Mythisierung der Kosovo-Schlacht - auf die serbische nationale Identität seit den 1980er-Jahren („Collective Memory and National Identity in Serbia. A Cultural Approach Towards an Explanation of the Breakdown of Yugoslavia”). Heike Karge (Wien) plädierte dafür, in der Erforschung von Erinnerungspraktiken die Trennlinien des Kalten Krieges zu überwinden, bzw. gar nicht erst zu ziehen, um zu verhindern, dass die Entwicklung in den post-kommunistischen Ländern – etwa in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg - a priori als nachholend beurteilt würde („Practices and Politics of World War Two Remembrance. (Trans-)National Perspectives From Eastern and Southeastern Europe“). Vanni d’Alessio (Neapel) stellte sein gemeinsam mit Eric Gobetti (San Marino) bearbeitetes Forschungsprojekt zur Aushandlung von Identitäten und Symboliken in Mostar seit dem Ende des Bosnienkrieges vor („Politics of Identity and Symbolism in Post-War Mostar, 1996-2005“). Seçil Deren-van het Hof (Antalya) hinterfragte die Interpretation des türkischen kemalistischen Nationalismus zwischen 1923 und 1938 als eine Variante des ethnischen Nationalismus („Ottoman Past as the Other of Turkish National Identity“). Vangelis Kechriotis (Istanbul) stellte Aspekte eines größeren Forschungsprojektes vor, dessen Untersuchungsgegenstand die europäischen Mental Maps über Griechen und Türken seit dem Ende des 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg bilden („‘Greece will reclaim its place among the nations of Europe’: Images of Greeks and Turks in European Public Discourse at the Turn of the 19th Century”). Schließlich problematisierte Diana Mishkova (Sofia) am Beispiel Griechenlands und Bulgariens gängige Interpretationsmuster des Verhältnisses zwischen dem Balkan und Westeuropa („In Quest of Balkan Occidentalism“).

Die zweite Sektion, „Accomodation, Protest, Resistance: Acting Within and Against Social Structures“, moderiert von Sacha Zala (Bern) und kommentiert von Bruno Groppo (Paris), konzentrierte sich auf die Fragestellung nach dem Verhältnis von Akteuren und Strukturen. Stefano Petrungaro (Venedig) untersuchte anhand der bäuerlichen Aufstandsbewegung in Kroatien-Slawonien 1897 diskursanalytisch Formen und Funktionen des Protestes im Spannungsfeld von Tradition und Modernität („Fire and Honour. Popular Protest in the Late 19th Century Croatia-Slavonia“). Andreas Helmedach (Braunschweig) verortete seine Analyse der Bedeutung von Gewalt im Osmanischen Reich im Spannungsfeld von Mental Map und historischer Region: Einerseits habe Gewalt in der Region das Bild Europas vom Osmanischen Reich stark beeinflusst, andererseits bleibe dahingestellt, inwieweit dort tatsächlich mehr Gewalt als im übrigen Europa herrschte. Augusta Dimou (Leipzig) erläuterte anhand des bulgarischen Genossenschaftswesens, wie die Erforschung akteurskonzentrierter Netzwerkbildungen zu einer erneuerten Sozialgeschichte Bulgariens in der Zwischenkriegszeit beitragen könnte („Cooperativism in Interwar Bulgaria“). Amaia Lamikiz (San Sebastian) verknüpfte strukturgeschichtliche Ansätze zur Interpretation des baskischen Nationalismus in der Franco-Ära mit einer dichten Beschreibung der unterschiedlichen Entwicklungswege und -formen baskischer Kulturvereine und Identitätsoptionen („Maintaining Alternative Memories Under an Authoritarian Regime: Basque Cultural Associations in the 1960s and Early 1970s”). Hier, wie auch im folgenden Vortrag, standen Netzwerksbildungsprozesse ebenfalls im Mittelpunkt. Konstantinos Kornetis (Thessaloniki) knüpfte nicht nur durch den gleichen Bearbeitungszeitraum an den vorhergegangenen Vortrag an und bot ein dichtes Bild der Bedeutung kultureller Symbole im studentischen Widerstand gegen die griechische Militärdiktatur („Re-Inventing Tradition: Folk As a Means of Student Resistance to the Greek Military Dictatorship (1967-74)“).

Die dritte Sektion, „Fascism, War and Society: Yugoslavia, Romania, France, Italy”, moderiert von Dieter Ziegler (Bochum) und kommentiert von Lutz Klinkhammer (Rom), vereinte komparativ angelegte Arbeiten zu Faschismus und Weltkrieg. Wim van Meurs (Nijmegen) plädierte dafür, die faschistischen Bewegungen in Rumänien und Kroatien anhand einer Verflechtungsgeschichte von exogenen und endogenen Wirkmechanismen und als Ausdruck politischer Kultur zu untersuchen („Fascism in the Balkans: the European Evil and Domestic Movements in Romania and Croatia”). Aus politikwissenschaftlicher Sicht wurden von Ionut Sasu (Brüssel) die Gründe für den Erfolg bzw. Misserfolg der faschistischen Bewegungen in Italien und Rumänien diskutiert, für die er strukturell ähnliche Ausgangssituationen ausmachte („The Metaphysics of Illusion. A Comparative Analysis of the Italian and Romanian Fascist Movements“). Vesna Drapac (Adelaide) verglich die Formen und Anwendbarkeit der Konzepte Kollaboration und Widerstand im Zweiten Weltkrieg innerhalb der katholischen Kirche in Frankreich und Jugoslawien und richtete den Blick nicht nur auf prominente Individuen (Bischöfe), sondern auch auf die Gemeindeebene (Paris und Zagreb) („Religion, Resistance and Collaboration in France and Yugoslavia: Towards a Comperative Framework of Exploration”). Nevenka Troha (Ljubljana) konnte krankheitsbedingt nicht teilnehmen, ihr Beitrag zur komplizierten ethnisch-ideologischen Gemengelage im italienisch-jugoslawischen Grenzraum nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aber dennoch in die Diskussion einbezogen.

Die Sektionen vier und fünf beschäftigten sich mit Prozessen der Identitätskonstruktion. Ethnische bzw. nationale Identitäten standen im Mittelpunkt und wurden in ihren Verbindungen mit anderen, vor allem sozialen und religiösen Identitäten kontextualisiert. In Panel vier, „Negotiating Identities I: Ethnic and Social Affiliation in the “Long” 19th Century”, moderiert von Fikret Adanir (Bochum) und kommentiert von Thomas Welskopp (Bielefeld), stellte Hakan Erdem (Istanbul), gestützt auf osmanisches Archivmaterial, das die zunehmende Rekrutierung von ethnischen Türken für die reguläre osmanische Armee belegt, die These der Existenz eines ethnischen türkischen Bewusstseins im Osmanischen Reich bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts auf („’They Are the Most Disciplined of All’: The Turks as Soldiers in Mahmud II’s Army”). Eva Frantz (Wien) referierte über das Verhältnis von religiösen, regionalen, sozio-professionellen und ethnonationalen Identitäten im spätosmanischen Kosovo („Prenational Identity Patterns and National Identity Formation in Kosovo (1870-1913)“. Borut Klabjan (Koper) untersuchte die Veränderungen innerhalb der tschechischen Diaspora in Triest an der Schwelle des Ersten Weltkriegs, welcher die Stadt vom multinationalen Österreich ins nationalstaatliche und bald darauf durch faschistische Homogenisierungsansprüche definierte Italien führte („From Franz Joseph to Mussolini: The Czechs in Trieste Before and After World War I“). Guido Franzinetti (Alessandria) verwies auf die strukturelle Relevanz der irischen Geschichte für einen möglichen Vergleich im ost- und südosteuropäischen Kontext und plädierte insbesondere dafür, Hans Kohns Dichotomie zwischen „west-“ und „osteuropäischen“ Nationalismen endgültig zu überwinden („Ethnic and Social Identities in 19th and 20th Century Ireland“).

Sektion fünf, „Negotiating Identities II: Religion and Nationality as Cross-Identity Categories, moderiert von John Breuilly (London) und kommentiert von Heinz-Gerhard Haupt (Florenz/Bielefeld) konzentrierte sich auf die Rolle religiöser Identitäten. Egon Pelikan (Koper) konstatierte verschiedene Strategien innerhalb der konkurrierenden Identitätsmodelle religiöser und nationaler Natur bei den Slowenen, insbesondere unter Vertretern des gesellschaftlich am durchsetzungsfähigsten politischen Katholizismus („The National Question and Political Catholicism in Slovenia at the End of the 19th Century”). Stefan Rohdewald (Passau) verdeutlichte die über Nationalstaatsgrenzen hinweg konkurrierende Bedeutung christlicher Elemente im Nationalismus der orthodoxen Südslawen („Serbian and Bulgarian National Religious Figures of Memory and the Change of Their Meaning and Role Before and After World War I”). Helke Stadtland (Bochum) stellte in einem Vergleich der Bedeutung des Protestantismus für die nationalen Bewegungen in Deutschland, England und Schweden die These auf, dass es in diesen Ländern in stärkerem Maße als etwa in Südosteuropa zu einer Verflechtung zwischen Religion und Nationalismus im Zeichen allgemeiner gesellschaftlicher Säkularisierung gekommen sei („Nation and Religion in Western European Thought“). Bojan Aleksov (Florenz) zeigte am Beispiel der protestantischen Nazarener in Südungarn und Serbien Ende des 19. Jahrhunderts, inwieweit diese Bewegung in der serbisch-orthodoxen Kirche zu einer stärkeren Betonung der Untrennbarkeit von Orthodoxie und Nation führte („Religious Dissent Between the Modern and the National – Nazarenes in Hungary and Serbia 1850-1914“). Anca Sincan (Budapest/London) zeigte anhand eines Kirchenbaus im siebenbürgischen Dorf Cerghizel, wie kommunistische anti-kirchliche Politik an der polyreligiösen rumänischen Gesellschaft scheiterte, insbesondere am Versuch, die Gemeinden unierter Christen ins politische System zu integrieren.

In den Diskussionen traten die methodischen, konzeptuellen und inhaltlichen Verflechtungen sehr deutlich zutage, weswegen deren Ergebnissen hier mehr Raum gewidmet sei als den, vielfach auch an sich spannenden, Einzelbeiträgen. Im Zentrum stand die Sichtbarmachung von Vergleichsmöglichkeiten im Lichte der Frage, ob und wie Südosteuropa verstärkt in die europäische Geschichtsschreibung zu integrieren sei. Ein schließlich als „Shopology“ (Zala) tituliertes Motiv zog sich wie ein roter Faden durch die Diskussionen: Soll man sich bei der Auswahl zu vergleichender Topoi gleichsam im breiten Angebot eines „Supermarktes“ bedienen bzw. wie entscheidet man über die sinnvollsten Zutaten für ein schmackhaftes Gericht? Oder sollte man nicht vielmehr ein Einzelhandelsgeschäft aufsuchen, einen Schneider etwa, der dann das Vergleichsthema maßgeschneidert passgenau machte? (Franzinetti) Vielleicht am treffendsten schien die „IKEA-Variante“, bei der es mindestens ebenso sehr um diejenigen Teile geht, die das Aufzubauende zusammenhalten, wie um die Einzelteile selbst (Lamikiz). In jedem Fall veranschaulichte die Metapher eindrücklich die Vielzahl möglicher Anknüpfungspunkte für eine komparative europäische Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die den Balkan nicht länger ausschließt.
Auf der Folie von Todorovas Plädoyer für ein Konzept der „relativen Synchronität“, sowie dessen Ablehnung durch Sundhaussen wurden die Kategorien „(Süd)Osten“ und „Westen“ problematisiert. Es wurde gefordert, Mental Maps nicht länger entlang des Rückständigkeitsparadigmas zu pflegen, sondern dazu überzugehen, Transfermuster und Kommunikationsdynamiken durch empirische Forschungen sichtbar zu machen: Was und wie lernte der Balkan über Europa? (Mishkova) Insgesamt wurde deutlich, dass Mental Maps und Diskursanalysen am überzeugendsten sind, wenn sie an sozialgeschichtliche Parameter rückgebunden werden.

Es wurde bekräftigt, dass man Identitäten an sich nicht vergleichen könne, sondern Institutionen, Organisationen und Artikulationen bzw. Diskurse, durch die Identitätsbildungsprozesse sichtbar gemacht werden könnten (Welskopp). Dies stellte in gewisser Weise die thematische Einteilung der Panels, die ja in zwei Fällen die Identitäten im Titel trugen, in Frage, und in der Tat erwiesen sich die Anknüpfungspunkte zwischen den Sektionen als mindestens ebenso ertragreich wie innerhalb der Panels selbst.

Einer der wichtigsten sich herauskristallisierenden Fragen war die, wie sich ethnische oder nationale Zugehörigkeiten mit anderen Loyalitäten verbanden bzw. wie verschiedene Identitäten und Loyalitätsebenen in Konflikt zueinander standen. Welche „Tasten“ müssen in einem gegebenen sozialen Kontext gedrückt werden, um Identitätsformationen und Mental Maps wirksam werden zu lassen (Breuilly)? Hier wurden einerseits empirische Vergleiche im Sinne des „Peasants into...“-Paradigmas angemahnt. Analog zu Webers Peasants into Frenchmen stehe, ungeachtet Hrochs vier Jahrzehnte alten und nach wie vor maßgeblichen Drei-Phasen-Modells, eine Untersuchung der Rolle der „Massen“ in südosteuropäischen Nationsbildungsprozessen noch aus, etwa in Griechenland und Serbien (Sundhaussen), unter den ethnischen Türken des osmanischen Reichs (Erdem), in Serbien (Aleksov), im Kosovo (Frantz), in der Türkei (Deren). Andererseits seien auch die Zusammenhänge zwischen Nationsbildungsprozessen und Modernisierungsbestrebungen weitgehend ungeklärt. Vermutlich sei das modernisierende Aufholen gegenüber dem Westen wichtiger gewesen als die südosteuropäische Nationalgeschichtsschreibung es wahrhaben mag. Am Beispiel der Schaffung einer modernisierten staatsbürgerlichen Identität in der kemalistischen Türkei wurde das Spannungsfeld zwischen ethnischen und muslimischen Zugehörigkeitskonstruktionen und der gleichzeitigen Abgrenzung von der islamisch-osmanischen Vergangenheit deutlich (Deren). Anhand des Bestrebens der Slowenen, alles zu schaffen, „was zu einer Nation dazugehört“, ohne dann in der Lage zu sein, beispielsweise das „Slowenische Philharmonische Orchester“ tatsächlich mit slowenischen Musikern zu besetzen, wurde deutlich, dass auch die Eliten mit Blick auf ihre Institutionen in nationaler Hinsicht „unterbesetzt“ waren (Pelikan).

Die Erforschung von Erinnerungspraktiken und -politik und/oder die Konstruktion der „Geschichte der Gegenwart“ bieten ein weiteres Feld für gesamteuropäische Annäherungen. Die Notwendigkeit etwa, in Mostar auf die Figur Bruce Lees als Identifikationsfigur zu rekurrieren und selbst diesen noch vor möglichen Vereinnahmungen der bosniakischen oder kroatischen Seite schützen zu müssen (D’Alessio/Gobetti), schien symptomatisch für die besonders schwierige, wenn nicht unmögliche Aushandlung von gemeinsamer Erinnerung und Identität in Nachkriegs- und Konfliktsituationen. Auf die Gefahr wurde hingewiesen, erneut eine „Rückständigkeitsfalle“ zu konstruieren, und für die Suche nach dem gemeinsamen Nenner europäischer Erinnerung plädiert. Jedenfalls sollte die scheinbar „logisch“ suggerierte Trennlinie des Kalten Krieges bzw. des Kommunismus gar nicht erst gezogen werden. Es sollte vermieden werden, a priori zu erwarten, im post-kommunistischen Osten passiere nun erinnerungsdynamisch etwas, das im Westen längst passiert sei (Karge). Weiter stellte sich die Frage nach Erinnerungsfiguren, die von verschiedenen Nationen angeeignet wurden und auch Nationalstaatsgrenzen transzendierten, wie die Heiligen Kyrill und Method, die ihren Beitrag zu Loyalitäts- und Identitätsformierungen auf mindestens fünf Ebenen (panslawisch, orthodox-slawisch, jugoslawisch, habsburgisch-südslawisch, transreligiös orthodox-katholisch) leisteten (Rohdewald). Verordnete bzw. tabuisierte Erinnerungspraxis wurde als gesamteuropäische Erfahrung diktatorischer bzw. autoritärer Gesellschaften evident: In Jugoslawien (Karge) und in Spanien (Lamikiz) wurde die erwartete monolithische Erinnerungspraxis durch sehr vielfältige und kontroverse Diskurse in der Umsetzung und Umgehung von Direktiven, Verboten und Tabus konterkariert; in beiden Fällen wird gleichzeitig eine Diskrepanz zwischen öffentlich kommunizierbarer und privat vermittelter Erinnerung offensichtlich.

Saids Orientalismus und Todorovas Balkanismus, aber auch jeder pauschal angesetzte Okzidentalismus seien angesichts einer Vielzahl unterschiedlicher existierender Transfermuster und Kommunikationskanäle einer kritischen Stellungnahme zu unterziehen. Durch deren empirische Sichtbarmachung könne die Kontroverse um Mental Maps und historische Region überwunden werden (Mishkova). Mit dem Hinweis auf die „Ulsters of Eastern Europe“ (Franzinetti) richtete sich das Augenmerk auf die Tatsache, dass mit „Westen“ meist nur Frankreich und England gemeint sind, und dass in diesem Sinne etwa das Baskenland, Irland, usw. eben nicht zum Westen gehören (Stadtland). Eine weitere Ebene der West-Ost-Dichotomie wurde eingebracht, wenn betont wurde, dass die kemalistisch-türkische Identität, unter Einbeziehung des Islam, in ihrer Ablehnung der osmanischen Vergangenheit als „Verwestlichungsbestreben“ zu deuten sei (Deren). Dekonstruktivistische Überlegungen begleiteten auch den Diktaturenvergleich zwischen Franco-Spanien und Papadopulos-Griechenland: Gehört das Baskenland zum „osteuropäischen Muster“? Ist andererseits das Nachkriegsgriechenland nicht sowieso eher zum „Westen“ zu zählen? Oder geht es schlicht um einen totalitären bzw. autoritären Gesellschaftsvergleich jenseits von Ost und West? (Groppo, Lamikiz, Kornetis)

Um die „IKEA-Metapher“ aufzugreifen: Im Folgenden seien noch einige der Verbindungsstücke genannt, die sich im Zuge der Diskussionen als konzeptuell förderlich für eine stärkere und gleichwertige Einbindung Südosteuropas in die europäische Geschichte erwiesen:

- Vergleichende Gewaltforschung kann dazu beitragen, bestehende, durch Begriffe wie „Türkengefahr“ oder „Pulverfass Balkan“ beherrschte mentale Parameter zu problematisieren und mit Empirie zu füttern (Helmedach, Frantz, Petrungaro, Van Meurs).

- Kriege und Krisen sind besonders dienlich, um Identitätsbildungsprozesse sichtbar zu machen (d’Alessio/Gobetti, Deren, Frantz, Klabjan, Pingel, Šuber). Hingewiesen wurde darauf, dass die Idee der „Nation als Container“ im Kriegsfall funktionierte: Religiöse Affinitäten beispielsweise hinderten Katholiken nicht daran, gegen die Katholiken einer anderen Nation in den Krieg zu ziehen (Breuilly, Stadtland).

- Substantieller Mangel herrscht an akteursbezogener Forschung zu Südosteuropa, in Form von Netzwerkanalysen oder Milieustudien, in jedem Fall aber geprägt von der Suche nach dem „Eigensinn“ der Protagonisten. Gleichzeitig besteht enormes brachliegendes Quellenmaterial, um diesen „Eigensinn“ auch an sozialgeschichtlich-strukturelle Fragen rückzubinden (Hierauf verwies eine Mehrzahl der Teilnehmer und Teilnehmerinnen).

- Die wünschenswerte Forcierung von Konversionsstudien (‚conversion studies’) wurde in der Religionssektion konkretisiert, wobei die Wichtigkeit derartiger Studien auch für das Feld der Nationalismusforschung unterstrichen wurde (Breuilly). Wie wurden ethnische zu nationalen Identitäten? Wie wurde ein Bauer zum Franzosen, Serben, Albaner, Türken (Frantz, Erdem)? Wie konvertierte man von einer Nationalität zu einer anderen und warum? Welche Rolle spielte der Staat bei solchen Konversionen? (Frantz, Klabjan, Aleksov, Sincan) Des weiteren wurden Fragen nach der „langen Dauer“ ethnischen Bewusstseins aufgeworfen, bis hin zur Hinterfragung von Begriffen wie „Proto-Nationalismus“ oder „vornational“. Es wurde beispielsweise auf in den Quellen fassbares türkisches bzw. griechisches Bewusstsein lange vor dem Zeitalter des Nationalismus verwiesen (Erdem, Kechriotis).

- Faschismus und Kommunismus als europäische Erfahrung des 20. Jahrhunderts bergen immenses Vergleichspotential, wie im einzigen tatsächlich komparatistisch angelegten Panel drei (Van Meurs, Sasu, Drapac, Troha), aber auch darüber hinaus (Lamikiz, Kornetis, Karge, Sincan) deutlich wurde. Faschismen und Kommunismen sollten dabei als soziale Bewegungen analysiert werden; als zentral für ihr Verständnis wurde unter anderem die Auseinandersetzung zwischen faschistischen und kommunistischen Bewegungen erachtet (Van Meurs). Gleichzeitig wurde angemahnt, die Sozialgeschichte der Faschismen zu forcieren, anstatt sich ohne ausreichende vergleichende Empirie in Typologien und Definitionen zu versuchen (Klinkhammer). Überkommene und politisch instrumentalisierte Begriffe wie Kollaboration und Widerstand müssten erst noch empirisch unterfüttert bzw. historisiert werden. Gleichzeitig wurde auf die Besonderheit der jugoslawischen Erfahrung – religiös und national variabel konnotierte Widerstands- und Kollaborationsformen – hingewiesen, die längst nicht ausreichend erklärt sei (Drapac).
- Wiederholt wurde auf das auch im Tagungsprogramm vollständig fehlende Feld der Arbeitergeschichte verwiesen (Franzinetti, Groppo). Trotz der immensen marxistisch geprägten Literatur zum Thema, deren Wert nicht zu unterschätzen sei, stehe eine akteursbezogene Sozialgeschichte der Arbeit für Südosteuropa aus.
- Ähnliches gilt für das Feld der Geschlechtergeschichte, die zwar in einigen Beiträgen thematisiert wurde (Drapac, Haupt, Helmedach), der aber ein wichtigerer Platz gebührte als ihr in der Tagung zukam.

Als konzeptuell Gewinn bringend erwies sich, den Moderatoren inhaltlich eine ähnlich gewichtige Bedeutung beizumessen wie den Kommentatoren. Insbesondere angesichts der breiten thematischen Anlage der Tagung, die stellenweise in engagierten, aber dem gesetzten Ziel entgegen laufenden Einzelfall- bzw. Detaildiskussionen zu zerfasern drohte, hielt die engagierte Moderation in manchen Momenten die Sektionen zusammen. Positiv ist auch zu bewerten, dass die osmanischen/türkischen Themen in verschiedenen Sektionen thematisch-methodisch gruppiert waren. Die Verflochtenheit der osmanischen und türkischen mit der europäischen Geschichte wurde hierdurch sehr anschaulich.

Als Fazit sei festgehalten, dass das „Experiment“ einer Fachdiskussion zwischen west- und südosteuropäisch sozialisierten HistorikerInnen, PolitologInnen und SoziologInnen gelungen ist, und die zutage geförderten Verbindungslinien zwischen Fragen, Problemen und Forschungsergebnissen intensiv und vielfältig waren. Nun gilt es, diese Vielfalt stimmig zu bündeln und zu kontextualisieren, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und den begonnenen Kommunikationsprozess zu perpetuieren. Auf den geplanten Sammelband, der Grundlagen und Forschungsdesiderata für eine um den südosteuropäischen Raum erweiterte europäische Geschichte zusammenfassen soll, darf man gespannt sein.

Anmerkung:
1 Todorova, Maria, The Trap of Backwardness: Modernity, Temporality, and the Study of Eastern European Nationalism, in: Slavic Review 64 (2005), 1, S. 140-164.

Kontakt

Dr. Sabine Rutar, Institut für soziale Bewegungen, Bochum. sabine.rutar@ruhr-uni-bochum.de


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