Deutsch-polnische Nachbarschaft im Jahrhundert der Diktaturen

Deutsch-polnische Nachbarschaft im Jahrhundert der Diktaturen

Organisatoren
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (Dresden) in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Zentrum im Schloss Fürstenstein (Wałbrzych) und der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/Oder)
Ort
Wałbrzych
Land
Poland
Vom - Bis
16.02.2007 - 18.02.2007
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Von
Annett Zingler, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden; Daniela Heitzmann, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden

Die deutsch-polnische Nachbarschaft im Jahrhundert der Diktaturen ist als schwieriges und zugleich vielschichtiges Verhältnis zu beschreiben. So wie die Staaten selbst mehrfach dem Wandel unterlagen, so wechselten sich Phasen des Miteinanders und Phasen des Gegeneinanders ab, die Spaltung Deutschlands führte gar zu „zwei“ deutsch-polnischen Nachbarschaften. Wo lagen die Probleme und Chancen der Beziehungen zwischen Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert? Spiegelten sich die politischen Richtungswechsel auf der gesellschaftlichen Ebene wider? Wie wurde die deutsche Minderheit in Polen und die Polonia in Deutschland davon berührt?
Zur Erörterung und Diskussion solcher und weiterer Fragen fand vom 16. bis 18. Februar 2007 der Workshop „Deutsch-polnische Nachbarschaft im Jahrhundert der Diktaturen“ auf Schloss Fürstenstein bei Wałbrzych (Polen) statt. Der Workshop wurde vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (Dresden) in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Zentrum im Schloss Fürstenstein (Wałbrzych) und der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/Oder) veranstaltet. Es nahmen Vertreter der deutschen und französischen Minderheiten aus Wałbrzych teil.

Im ersten Panel wurde die Frage nach dem möglichen Miteinander in der Zwischenkriegszeit gestellt. Mit der Wiedergründung des polnischen Staates und den deutschen Gebietsabtretungen an Polen ergaben sich neue Belastungen, gleichzeitig aber auch neue Herausforderungen, da sich (anders als nach 1945) noch keine reinen Nationalstaaten gegenüberstanden. Torsten Lorenz (Frankfurt/Oder) eröffnete mit seinem Vortrag „Kompromiss und Konflikt. Die Nachbarschaft von Deutschen und Polen in Großpolen zwischen Demokratie und Autoritarismus“ den Workshop. Lorenz veranschaulichte am Beispiel der Kommunalpolitik der Kleinstadt Międzychód / Birnbaum den Übergang von der Demokratie zur Diktatur in Großpolen. Mit dem Versailler Vertrag waren gut 125 Jahre preußische Herrschaft über Birnbaum zu Ende gegangen. In der Republik Polen hatte man der Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen relativ freien Lauf gelassen. Unter dem Piłsudski-Regime hingegen, das die Gleichschaltung der lokalen Selbstverwaltungen veranlasst hatte, war die deutsche Minderheit zunehmend auf das Wohlwollen der Polen angewiesen. Im Kontrast dazu referierte Johannes Frackowiak (Frankfurt/Oder) zu „Deutsche und/oder Polen? Zur Persistenz polnischer Ethnizität in Deutschland 1919-1945“. An den in den 1920er-Jahren im mitteldeutschen Bitterfelder Kreis lebenden Polen arbeitete Frackowiak exemplarisch deren „situative Ethnizität“ heraus, die durch eine Gleichzeitigkeit von Geschlossenheit und Offenheit gekennzeichnet war. Die Lage der polnischen Minderheit im „Dritten Reich“ verdeutlichte einmal mehr den rassistischen und bürokratischen Charakter des Nazi-Regimes. In seinem Vortrag über „Die Hypothek von 1918/19: Das neue Polen und das geschrumpfte Reich“ analysierte Gerhard Besier (Dresden) einen wichtigen Bestandteil polnischer Erinnerungskultur und Geschichtspolitik: Polen sah für sich selbst stets eine zentrale Rolle in Europa vor. Jedoch flossen diese – für die Zwischenkriegszeit in Europa nicht untypischen – Gedankenspiele unheilvoll in den so genannten Piłsudski-Kult ein, der immer auch ein antideutscher Kult ist und damit eine Gefahr für die europäische Integration in sich birgt.

Während des Jahrzehnts der Trennung von 1939 bis 1949 war die deutsch-polnische Nachbarschaft vor allem ein Gegeneinander, wie das zweite Panel zeigen sollte. Es wurde von Jochen Böhler (Warszawa) mit „Hitlers Vernichtungskrieg in Polen und die Zerstörung der Nachbarschaft“ eröffnet. Der Zweite Weltkrieg, den die Wehrmacht am 1. September und zwei Wochen später die Rote Armee in Polen begannen, endete vor allem mit der Zerstörung der Städte und Dörfer und mit der Vernichtung von Menschen. So wurde – vor allem von deutscher Seite – jegliches nachbarschaftliches Miteinander beendet. Unter der Gewalt zweier Regime wurde die polnische Gesellschaft gleichsam atomisiert – jeder versuchte für sich zu überleben. Die Beziehungen zu Deutschland und Russland wurden langfristig ge- bzw. zerstört. Im Anschluss daran hatte Mike Schmeitzner (Dresden) „Breslau im Blick: Deutsche Nazi-Gegner zwischen Vertreibung und Neuansiedlung“. Die Breslauer Widerständler sahen sich als „doppelte“ Opfer: Vor 1945 wurden sie von den Nazis als politische Gegner verfolgt, nach 1945 wurden sie als Deutsche aus Polen vertrieben. Anhand der Auswertung von Briefen, die die vertriebenen Widerständler in den Jahren 1945/46 verfassten, zeichnete Schmeitzner ein Bild der Haft- und Vertreibungserfahrungen während des Krieges einerseits und den Vertreibungs- und Ansiedlungserfahrungen nach dem Krieg andererseits. Dabei schreckten einige Briefpartner nicht davor zurück, Vergleiche zwischen nationalsozialistischen Verfolgungs- und polnischen Vertreibungsmethoden zu ziehen. Andere wiederum stellten sich offen gegen einen solchen Aufrechnungsdiskurs, was in der deutschen Nachkriegsdiskussion eher untypisch war.

Das dritte Panel, in dessen Zentrum die Frage nach der Neuordnung der Nachbarschaft im Kalten Krieg und während der Détente stand, eröffnete Katarzyna Stokłosa (Dresden) mit dem Vortrag „VR Polen und DDR: die Nachbarschaft oder das Spannungsverhältnis?“ Ihre Analyse konzentrierte sich auf die 1970er- und 1980er-Jahre. Auffallend ist die Diskrepanz zwischen den offiziellen und den gesellschaftlichen Darstellungen. Während Stokłosa die offizielle Seite als „Theater“ charakterisierte, das immer an die politische Situation angepasst war, konstatierte sie für die gesellschaftliche Ebene eine weitaus differenziertere Entwicklung. Die Zeit der offenen Grenze bot, trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage, eine erste Chance für den Aufbau einer Nachbarschaft. Jedoch wogen ökonomische Aspekte immer schwer – so stellten sich beispielsweise die Einkäufe im jeweiligen Nachbarland als stereotypverstärkend heraus. In ihrem Beitrag „Zwischen Eiszeit und Versöhnungsanspruch. Die staatlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der VR Polen“ gab Wanda Jarząbek (Warszawa) einen Überblick über die Geschichte der „anderen“ deutsch-polnischen Nachbarschaft. In der Zeit des Kalten Krieges war der Aufbau bilateraler Beziehungen nur bedingt möglich. So blieb es in den 1950er- und 1960er-Jahren vorrangig bei Handelskontakten. Erst ab 1975 kam es zur Entspannung in den deutsch-polnischen Beziehungen. Auf staatlicher Ebene hatte man das erreicht, was unter den weltpolitischen Gegebenheiten möglich war. Da die Verbesserung der Beziehungen vor allem auf Symbolen beruhte, konnte diese kaum in die Gesellschaft eindringen. Eine Vertiefung erfuhr die Problematik mit dem Beitrag von Dominik Pick (Frankfurt/Oder) über „Die Alltagsbeziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik der 70er und 80er Jahre“. Zur Analyse der alltäglichen Kontakte wertete Pick das Reiseverhalten, die Kulturbeziehungen, die Städtepartnerschaften und die jeweiligen innen- sowie außenpolitischen Strategien aus. Trotz der Bemühungen der polnischen Politik, spontane und unkontrollierte Kontakte zu verhindern, entwickelten sich die Beziehungen in den 1970er-Jahren sehr positiv. Der Kriegszustand bedeutete einen Einbruch im Verhältnis. Zwar gab es danach Bemühungen, die Beziehungen wieder aufzunehmen, jedoch manifestierte sich bei den Deutschen vor allem der Eindruck der schlechten wirtschaftlichen Lage in Polen.

Die „Wende“ öffnete als historische Zäsur den Blick für das „neue“ Europa – und damit auch für ein neues Miteinander? Tytus Jaskułowski (Dresden) zeichnete in seinem Vortrag „Der Zusammenbruch des Realsozialismus in der DDR und der VR Polen aus der Sicht der polnischen und der DDR-Presse. Ein Beitrag zur deutsch-polnischen Verständigung?“ anhand der Auswertung deutscher und polnischer jeweils unabhängiger und offizieller Zeitungen ein differenziertes Bild der gegenseitigen Wahrnehmung und Beschreibung und dessen Einfluss auf die deutsch-polnische Verständigung. Während sich in der DDR-Presse von Januar bis September 1989 eine Entwicklung von der „zwangsverordneten Freundschaft“ hin zur „ehrlichen Feindschaft“ feststellen ließ, bewegte sich die Presse in den letzten Monaten des Jahres „zwischen Feindschaft und Objektivismus“. In Polen hingegen herrschte bis September 1989 „verordnetes Schweigen“. Dieses wurde zwar schließlich auf einem Schlag gebrochen, setzte jedoch bereits im Januar 1990 wieder ein, da jetzt für die polnische Seite das Hauptaugenmerk auf der Sicherung der Oder-Neiße-Grenze, und nicht mehr auf den inneren DDR-Verhältnissen lag. Infolgedessen berichteten die polnischen Medien nicht mehr über die Ereignisse auf ostdeutschem Boden. „Die aktuelle Situation der deutschen Minderheit in Polen“ war Gegenstand des Vortrags von Anna Tutaj und Jerzy Tutaj (Wałbrzych). Die Schätzungen über die Größe der deutschen Minderheit in Polen schwanken zwischen 400.000 und 800.000 Personen. Nach der Wende war zu beobachten, dass sich der deutschen Minderheit einerseits neue positive Möglichkeiten boten, sie sich aber andererseits zunehmend mit dem polnischen Staat identifizierte. So verfügt die deutsche Minderheit über gut entwickelte Organisationen, Institutionen und Schulen, über ein breites kulturelles Engagement und ist in Parlamenten und Selbstverwaltungen zahlreich vertreten. Themen wie doppelte Straßen- und Ortsnamen, die doppelte Staatsbürgerschaft, Wehrdienstverweigerung und Fragen finanzieller Art gelten als problematisch, und auch die „schlesische Identität“ wird weiterhin von der polnischen Regierung als eine Gefahr für die Integrität Polens betrachtet.

Im abschließenden Vortrag „Neue Mythen oder neue Wege? Zur aktuellen Debatte im deutsch-polnischen Verhältnis“ warf Gerhard Gnauck („Die Welt“, Warszawa) die Frage nach Geschichtspolitik als Balanceakt zwischen Sinnstiftung und Entmystifizierung auf. Einerseits markierte Gnauck die polnische Geschichtspolitik als mystifizierende statt kritisch aufarbeitende Geschichtsschreibung. Andererseits bescheinigte er Deutschland neben eindeutig positiven Entwicklungen erstens eine verstärkte Darstellung der Deutschen als Opfer, und zweitens das Bedürfnis nach guten Menschen/Deutschen in unmenschlichen Systemen. Als Anregung zur Diskussion gedacht, legte Gnauck mit Stefan Chwin, Andrzej Stasiuk und Lech Kaczyński gleichsam die „nackte polnische Seele“ offen, die von der Angst vor den Deutschen gekennzeichnet sei, da – so glaube zumindest die polnische Seele – die Deutschen die Polen schon immer verachteten.
Was bleibt? Es werden viele Stereotype (wieder) bedient, die als überwunden galten. Damit wird die deutsch-polnische Verständigung zu einer Bildungs- und Generationsfrage. Die Tendenzen in der polnischen Politik werden sehr kritisch und mit großer Sorge betrachtet – man hat das Gefühl, dass jede Seite die andere missverstehen möchte (Jochen Böhler). Die Vertreibungsproblematik – ein Zentrum gegen Vertreibungen in der deutschen Hauptstadt sowie die Nicht-Anerkennung der Vertreibungen durch die polnische Regierung –, oder ein geplanter Paragraph, der es unter Strafe stellt, Polen der Kollaboration mit diktatorischen Regimen zu bezichtigen – all dies zeichnet ein düsteres Bild der politischen Nachbarschaft. Fraglich bleibt, wie es sich auf die gesellschaftlichen und alltäglichen Ebenen niederschlägt. Es ist geplant, die überarbeiteten Beiträge in einem Sammelband zu publizieren.


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