Tübingen in Lehre und Forschung um 1500 - Zur Geschichte der Eberhard-Karls-Universität

Tübingen in Lehre und Forschung um 1500 - Zur Geschichte der Eberhard-Karls-Universität

Organisatoren
Institut für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften der Universität Tübingen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Ort
Weingarten
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.03.2006 - 19.03.2006
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Von
Stefan Kötz, Institut für Geschichtliche Landeskunde und HHW, Universität Tübingen

Getragen vom Institut für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften der Universität Tübingen und von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart fand vom 17. bis 19. März 2006 in deren Tagungshaus Weingarten unter der Leitung von Institutsdirektor Prof. Dr. Sönke Lorenz, Akademiereferent Dieter R. Bauer und Dr. Oliver Auge (Greifswald) die wissenschaftliche Fachtagung „Tübingen in Lehre und Forschung um 1500. Zur Geschichte der Eberhard-Karls-Universität“ statt. 529 Jahre nach deren Begründung sollten hier – eingebettet in die zentraleuropäische Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte – sowohl der Fachwelt als auch der interessierten Öffentlichkeit in bewusst interdisziplinärem Zugriff erstmals neue Forschungsergebnisse zum bislang eher vernachlässigten Tübinger Wissenschaftsbetrieb an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert vorgestellt werden. In seinen einleitenden Bemerkungen betonte Prof. Dr. Sönke Lorenz (Tübingen) zunächst die lange Tradition universitätsgeschichtlicher Forschung in Tübingen – zuvorderst am Institut für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften –, verwies jedoch zugleich auf die prinzipiell schlechte Finanz- und Personalsituation, die in Zeiten fiskalischer Restriktion durch Streichung wissenschaftsgeschichtlicher Lehrstühle bei den Nachbardisziplinen zu einer enormen Verarmung der universitären Forschungslandschaft führt. Gerade auch aus legitimatorischer Sicht gegenüber Universität und Politik erscheint somit ein breitangelegtes Forschungsprojekt an genanntem Institut von besonderer Bedeutung, hat es sich doch die Erstellung eines sogenannten ‚Catalogus professorum Tubingensium’ für die Zeit von der Universitätsgründung bis in die Gegenwart zum Ziel gesetzt. Als Teilergebnis konnte inzwischen Bd. 1,1 mit einer Edition der im Universitätsarchiv Tübingen verwahrten Bakkalars- und Magistermatrikel der Artistenfakultät vorgelegt werden – damit der spezifischen Verfassung vorreformatorischer Universitäten Rechnung tragend, wo regelrechte Professoren zunächst nur an den drei oberen Fakultäten existierten, die Artistenfakultät mit ihrer Regenzverfassung hingegen sämtliche promovierte Magister zur Teilhabe an der universitären Lehre verpflichtete. Die Edition erfasst diesen durchaus beachtlichen Personenkreis zumindest ansatzweise auch prosopographisch und entlastet so Bd. 1,2 des Professorenkatalogs, der als bio-bibliographisches Handbuch von 1477 bis zur Reformation 1535/36 nach einleitenden Kapiteln zur Geschichte der vier Fakultäten dann sowohl die besoldeten Theologie-, Rechts- und Medizinprofessoren als auch diejenigen Magister der Artistenfakultät enthalten soll, die in einschlägigen Quellen als Funktionsträger der Universität und deren Organe in Erscheinung treten. Die Tagung – als erste einer voraussichtlich im Zweijahresrhythmus das Gesamtprojekt begleitenden Reihe – diente insofern der konkreten Vorbereitung dieses Bands im Sinn dessen wissenschaftlicher Grundlegung und forschungsmäßiger Verortung.

Wegen des krankheitsbedingten Ausfalls von Prof. Dr. Rainer C. Schwinges (Bern) und dessen als allgemeine Einführung gedachten Vortrags „Über deutsche und europäische Universitätsgeschichte um 1500“ oblag es nunmehr Prof. Dr. Georg Wieland (Tübingen), mit seinem Referat zu „Via antiqua – via moderna. Schulen und Schulbildung im späteren Mittelalter“ vermittels eines freilich weitaus spezielleren, für das geistige Innenleben der Artistenfakultäten aber umso bedeutsameren Themas in die Tagung einzusteigen. Zu Beginn skizzierte Wieland diese Gegenüberstellung von ‚via antiqua’ bzw. Realismus und ‚via moderna’ bzw. Nominalismus generell als philosophisch-logische Debatte über die Funktion der Sprache in deren Allgemeinheit und das Verhältnis zur Wirklichkeit in deren Individualität, was die zwischen Sprach- und Wirklichkeitsebene trennenden Nominalisten mit ihrer Suppositionslehre bzw. die beides parallelisierenden Realisten mit ihrer Plurifizierungsthese auf je grundverschiedene Weise zu lösen trachteten. Die Anfänge eines solchen ‚Universalienstreits’ eruierte er schon in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, als – ausgehend von der Uneindeutigkeit der ‚Isagoge’ des Porphyrius Roscelin – von Compiègne (+ 1123/25) als Nominalist und Wilhelm von Champeaux (+ 1121) als Realist erstmals streitbar Stellung bezogen. Wieland machte jedoch sogleich deutlich, dass die Begrifflichkeit des 12. Jahrhunderts angesichts der spezifisch hochmittelalterlichen Unterrichtssituation noch keinerlei Hinweis auf feste ‚Schulen’ in Vertretung axiomatischer Lehrmeinungen bietet – entgegen den Gegebenheiten innerhalb des ‚Wegestreits’ des 15. Jahrhunderts – und auch inhaltlich kaum unreflektiert auf das 14. und 15. Jahrhundert übertragen werden darf. Das Hauptinteresse des Vortrags aber galt dem Aufkommen bzw. quellenmäßigen Aufscheinen eines solch institutionalisierten ‚Wegestreits’ während des Spätmittelalters und dem philosophischen Selbstverständnis beider ‚Wege’, was Wieland anhand des ‚Pariser Nominalistenmemorandums’ vom November 1474 und der einschlägigen Entwicklungen an der Kölner Artistenfakultät zu Beginn des 15. Jahrhunderts nachzuzeichnen beabsichtigte. In ersterem nämlich äußerten sich ungenannte Nominalisten der Pariser Fakultät zu einem Verbot des Nominalismus seitens Ludwigs XI. vom März 1474, indem sie bezüglich der vorgebrachten Heterodoxievorwürfe zunächst vielmehr auf ihre eigene Orthodoxie und die Heterodoxie der Realisten innerhalb dreier Themenbereiche verwiesen. Bestandteil der Verteidigungsstrategie war indes auch eine Geschichte des Nominalismus als Abfolge von dessen vier Verfolgungen: 1) Verbot des Ockhamismus in Paris 1339/40 und durch die Päpste Johannes XXII. und Benedikt XII., 2) Vertreibung der Nominalisten aus Paris 1407 infolge der Ermordung Herzog Ludwigs von Orléans und des Vordringens des dortigen Realismus, 3) Vertreibung der Nominalisten aus Prag 1409 durch tschechische realistische Häretiker, 4) Verbot des Nominalismus in Paris und ganz Frankreich 1474 als Rache der Realisten für die Niederlage bei debattorischen Auseinandersetzungen in Löwen. Kritisch betonte Wieland die mangelnde Historizität derartiger Verfolgungen – sowie gerade deren philosophisch-ideologischer Begründung – und erarbeitete die spezifisch kirchenpolitische oder nationale Bedingtheit der jeweiligen Ereignisse, die dann auf nominalistischer Seite rückblickend heterodox ideologisiert wurden. Scheidet demnach das ‚Pariser Nominalistenmemorandum’ als Beleg für einen regelrechten ‚Wegestreit’ schon in der Frühzeit weitestgehend aus, so lassen sich in Köln unmissverständliche Spuren tatsächlich immerhin bis ins erste Viertel des 15. Jahrhunderts zurückverfolgen, als vor dem Hintergrund des aufkommenden Realismus ein Dokument der Artistenfakultät von 1414 zwar noch nicht dezidierte ‚viae’, jedoch bereits zwei ‚modi legendi’ – neben dem traditionellen Nominalismus den Pariser Realismus – unterscheidet. Ein kurfürstlicher Brief vom November 1425 nennt angelegentlich des Vorwurfs, die Universität habe die ursprüngliche ‚via’ aufgegeben und durch eine andere ersetzt, dann allerdings explizit konkurrierende ‚Wege’ und empfiehlt aus inhaltlichen Gründen eine Rückkehr zum althergebrachten Nominalismus, dem die Universität im Dezember 1425 mit Verweis auf eine prinzipielle Gleichberechtigung beider ‚Wege’ und die Zulässigkeit auch realistischen Gedankenguts freilich energisch widersprach. Realiter finden sich für ein solch beidseitiges Daseinsrecht hingegen zunächst kaum Belege, da von den vier Kölner Hauptbursen je zwei thomistisch und zwei albertistisch waren und Wieland auch die universitären Streitschriften – etwa das ‚Promptuarium argumentorum dialogice ordinatorum’ von 1492 – lediglich als innerrealistische Dispute gelten lassen mochte. Insgesamt zeigen die Kölner Vorgänge dennoch eindeutig die Existenz eines institutionalisierten ‚Wegestreits’ zu Beginn des 15. Jahrhunderts, was letztlich auch in einer Ausrichtung nahezu aller zentraleuropäischer Universitäten bzw. deren Artistenfakultäten an je einem oder paritätisch selbst an beiden ‚Wegen’ zum Ausdruck kommen sollte.

Im Anschluss an diese Einführung in eine der wichtigsten philosophisch-logischen Debatten des Spätmittelalters und deren universitäre Institutionalisierung widmete sich Prof. Dr. Sönke Lorenz (Tübingen) speziell der Tübinger Artistenfakultät und fragte nach Spuren, Ausprägungen und Entwicklungen der „Logik im Tübinger Curriculum“. Als Kontext diente Lorenz zunächst die weitgehende Ausrichtung der spätmittelalterlichen Artistenfakultät am philosophischen Gesamtwerk des Aristoteles, das unter Absorption der ‚septem artes liberales’ dann im 14. Jahrhundert die Grundlage eines europaweit einheitlichen und zumal verbindlichen Lehrkanons der ‚libri ordinarie legendi’ bilden sollte. Eine zentrale Rolle quasi als propädeutische Disziplin spielte dabei die ganz dem aristotelischen ‚Organon’ verpflichtete Logik, zu deren Aneignung in Form der ‚Tractatus Petri Hispani’ – auch ‚Summulae logicales’ genannt – ein Lehrbuch zur Verfügung stand, das sich sowohl der ‚logica antiquorum’ des ‚Organon’ als auch der ‚logica modernorum’ als Lehre von den ‚proprietates terminorum’ und deren Suppositionstheorie verschrieben hatte, welch letztere seit dem 14. Jahrhundert indes vermehrt durch neue Werke – die ‚parva logicalia’ – ersetzt wurde. Genau hier verortete Lorenz die geistige Auseinandersetzung zwischen Realismus und Nominalismus im 14. und 15. Jahrhundert, die sich aber erst zu Beginn des 15. Jahrhunderts freilich zu einem institutionalisierten ‚Wegestreit’ verdichten und mit Burszwang und Lehrplananpassung schließlich auch direkt auf das inneruniversitäre Leben wirken sollte. Der zweite und jetzt Tübingen verpflichtete Abschnitt unterstrich sodann zunächst den maßgeblichen Anteil von Johannes Vergenhans alias Naukler (+ 1510) und Johannes Heynlin (+ 1496) an der von Anbeginn paritätischen Verfassung der Artistenfakultät, wo die einschlägigen Richtungen von skotistischem bzw. thomistischem Realismus Paris-Kölner Prägung und Nominalismus Wien-Erfurter Prägung auch insgesamt recht gut vertreten waren. Statutengemäß sahen beide ‚Wege’ Vorlesungen und Übungen zum ‚Organon’ sowie Übungen zu den ‚Tractatus Petri Hispani’ und den ‚parva logicalia’ vor, doch betonte Lorenz angesichts des Fehlens aussagekräftiger Quellen die nur schwere Überprüfbarkeit solcher Vorgaben in der Lehr- und Lernpraxis, konnte anhand zweier Belegscheine eine Umsetzung aber immerhin wahrscheinlich machen. Rückschlüsse gelangen zumindest indirekt auch vermittels Vorlesungsmitschriften bzw. -ausarbeitungen: So existieren vom Realisten Konrad Vessler (+ nach 1504) ein Kommentar zu den ‚Tractatus Petri Hispani’ und ein Suppositionstraktat aus Basler Zeit, vom Nominalisten Hermann Vetter (+ nach ca. 1500) aus dessen Ulmer Rektorentätigkeit ein Kommentar zum Suppositionstraktat Thomas Manlevelts (+ nach ca. 1350), vom Nominalisten Gabriel Biel (+ 1495) noch Kommentare zu Marsilius ab Inghen (+ 1396) aus Heidelberg bzw. Erfurt. Wirkliche Belege boten jedoch erst Frühdrucke von Bearbeitungen der ‚parva logicalia’, wenn etwa 1486 die Realisten um Konrad Summenhart (+ 1502) mit dem Ingolstädter Nikolaus Tinktoris (+ 1495) – in Anlehnung an Johannes de Magistris (+ nach 1487) – und 1487 die Nominalisten um Johannes Hiller (+ 1501) mit dem Wiener Johannes de Werdea (+ 1475) – in Anlehnung an Marsilius ab Inghen – ihr je eigenes Lehrbuch publizierten. Dass in der Praxis dieses Nebeneinander wohl weitestgehend spannungsfrei verlief, zeigte Lorenz am Beispiel des zwar stark vom Tübinger Realismus geprägten Johannes Eck (+ 1543), der seine ‚Bursa pavonis’ 1507 aber als dezidiert nominalistischen Kommentar zu den ‚parva logicalia’ und einen anderen 1514 zu den ‚Tractatus Petri Hispani’ drucken ließ. Angesichts der freilich raschen Bedeutungslosigkeit des Eckschen Werks galt ein letzter Blick noch den vielschichtigen Veränderungen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als zwischen Scholastik und Humanismus nicht nur die artistische Regenzverfassung, sondern auch das scholastische System der ‚libri ordinarie legendi’ nahezu kampflos humanistischer Reformprogrammatik und deren Lehrbuchliteratur zum Opfer fiel. Trotz mancher Ansätze bereits in den 1520er-Jahren durch Abwertung der ‚parva logicalia’ zugunsten unkommentierter Logik und Dialektik erfolgte allerdings wohl erst im Zuge einer breiten Universitätsreform nach 1535/36 die Beseitigung auch der ‚Wegetrennung’ und der verschiedenen Logiken, deren frühere Bedeutsamkeit damit beinahe bis heute in andauernde Vergessenheit geraten sollte.

Den zweiten Tagungstag eröffnete Prof. Dr. Dieter Mertens (Freiburg i.Br.) mit einem Referat zu „Heiko A. Oberman und der ‚Mythos des Tübinger Humanismus’“ – so der Titel eines knappen Kapitels in dessen Werk „Werden und Wertung der Reformation“ zum 500. Jubiläum der Universitätsgründung 1977. Tübingens Beitrag zum europäischen Geistesleben zwischen spätmittelalterlicher Philosophie, Theologie bzw. Frömmigkeitsbewegung und Reformation herauszuarbeiten, hatte sich dieser anhand dreier Aspekte – Wirksamkeit der akademischen ‚via moderna’, Verbindung von ‚via moderna’ und ‚devotio moderna’, Kooperation beider ‚Wege’ bei der Diskussion aktueller theologischer Fragen – vorgenommen. Zu Renaissance und Humanismus aber äußerte sich Oberman lediglich bezüglich einer angeblichen ‚catena aurea’ des Tübinger Humanismus seitens des Hirsauer Mönchs Nikolaus Basellius (+ 1529) und sah entgegen diesem den Humanismus gerade nicht als frühes Tübinger Charakteristikum, da die Exponenten Heinrich Bebel (+ 1518) und Philipp Melanchthon (+ 1560) entweder zu wirkungslos gewesen seien oder mit ihrer scholastisch-nominalistischen Vorprägung sich humanistisch hätten kaum entfalten können. Angesichts solch apodiktischer ‚Vorentscheidungen’ ging es Mertens also um kritische Neubewertung des Wirkens Bebels, dessen Schülerkreises und Melanchthons, doch definierte er zunächst den Humanismus nach P.O. Kristeller als Kanon der ‚studia humanitatis’ zur Ermöglichung synchroner und diachroner gesellschaftlicher Kommunikation. Deren Rüstzeug bildete jetzt freilich nicht mehr die spätmittelalterliche Sprachlogik, sondern die humanistische Rhetorik als Werkzeug von Antikenrezeption und schöpferischer Textproduktion, womit letztlich die Rückbeziehung aller Wissenschaftsdisziplinen auf antike Grundlagen und dem Menschen individuelle Weltorientierung, sozialer Aufstieg und kulturelles Leistungsbewusstsein ermöglicht wurden. Konkret fragte Mertens mit Blick auf Freiburger und Tübinger Lehrpläne dann nach der institutionellen Positionierung dieser humanistischen Fächer innerhalb einer Vier-Fakultäten-Universität an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert und kennzeichnete diese dezidiert als ‚fünftes Rad am Wagen’, da etwa Bebel – Inhaber der Humanistenlektur von 1496 bis 1518 – als Mitglied keiner und auch nicht der Artistenfakultät stets außerhalb deren geschlossenen Lehr- und Graduierungssystems stand. Als ‚Einzelkämpfer’ ohne akademische Rechte unterlag er natürlich ebenso keinerlei Verpflichtungen bei den Lehrinhalten, so dass er mit seinen Vorlesungen über antike Autoren und eigene Werke einen praktisch-humanistischen Gegenpol zum theoretisch-scholastischen Artistenprogramm setzen konnte, der durch öffentliche Aktivitäten auch auf die Gesamtuniversität zu wirken vermochte. Anhand der profilierten und zumal kontinuierlichen Publizistik Bebels – programmatische Einleitungen sowie grammatisch-rhetorische und poetologische Lehrschriften – betreffs die Wiedergewinnung einer authentischen Latinität und die Rekonstruktion der römerzeitlichen Vergangenheit Schwabens und ganz Deutschlands erarbeitete Mertens anschließend das spezifische Erscheinungsbild eines Tübinger Humanismus. Dazu diente ihm der Bebel-Schüler Michael Köchlin (+ 1512), der wie Melanchthon – von 1512 bis 1518 in Tübingen – zwar in das strenge Korsett der Artistenfakultät und deren ‚libri ordinarie legendi’ eingebunden war, darüber hinaus jedoch humanistische Vorlesungen hielt und sich nach Abbruch seiner Universitätskarriere im diplomatischen Dienst des kaisertreuen Veit von Fürst (+ 1515) zudem mit einem kleinen, aber innovativen Werk hervortat. Dessen vielfache Schriften zum Reichsrecht und zur Geschichte der oberitalienischen Kriege wertete Mertens als Beispiel für das grundsätzlich auch politisch-historische und nicht mehr nur literarisch-moralische Interesse gerade des oberdeutschen Humanismus, akzentuierte also explizit die Existenz eines wirklichen Tübinger Humanismus mit Anschluss und sogar Beteiligung an der humanistischen Gesamtentwicklung. Klar relativiert erscheint somit dessen nachhaltige Deklassierung seitens Obermans, geboren aus einer fehlenden Humanismuskonzeption und schlicht falschen Erwartungen an dessen Relevanz für seine Vorstellung ‚Vom Wegestreit zum Glaubenskampf’, denn trotz des Anspruchs einer ganzheitlichen Verbindung von Spätmittelalter, Renaissance und Reformation spielten Renaissance und Humanismus gegenüber Reform und Reformation im Gedankenkomplex des Theologen Oberman kaum eine Rolle.

Danach folgte Dr. Gerhard Betsch (Tübingen) mit einem die Referate zur Artistenfakultät abschließenden Vortrag betreffend „Die Anfänge der mathematischen Wissenschaften an der Universität Tübingen“ und rückte darin die beiden Mathematiker der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Johannes Stöffler (+ 1531) und Philipp Imser (+ 1557), in den Blickpunkt. Zunächst jedoch kennzeichnete Betsch die anfangs nur periphere Stellung des mathematischen Quadriviums innerhalb der stets auf das philosophische Trivium ausgerichteten Artistenfakultät, das für die Mehrzahl der lehrverpflichteten Magister – beschäftigte es sich doch u.a. mit Planetenbewegungen, Kalenderwesen, Messkunst und Instrumentenbau – wohl einfach zu komplex gewesen sein dürfte und letztlich Speziallekturen im Sinn humanistischer Reformprogrammatik erforderte. Wohl bereits auf eine solche wurde auf Betreiben Herzog Ulrichs von Württemberg (+ 1550) 1507 Johannes Stöffler berufen, der als Privatgelehrter in seiner Justinger Pfarrei sich innerhalb von dreißig Jahren schon hohes Ansehen erworben hatte und als ‚mathematicus’ vermutlich noch für das gesamte Quadrivium verantwortlich zeichnete, obwohl er auch speziell als ‚ordinarius astronomie’ genannt wird. Diese Tübinger Entwicklung stellte Betsch freilich keineswegs als Sonderfall heraus, sondern ordnete sie der Errichtung mathematischer Lehrstühle auch an weiteren zentraleuropäischen Universitäten – Ingolstadt (1492), Wien (1501), Wittenberg (1525/36) – ein und erklärte dies mit dem weitreichenden Impetus humanistischer Bildungstendenzen auf das überkommene spätmittelalterliche Lehr- und Wissenschaftssystem. Indem nun endlich Volltexte der Klassiker wie Euklid und Ptolemäus in lateinischer Übersetzung vorlagen, bot deren Erschließung, Kommentierung und besonders Veröffentlichung jetzt ein überaus breites Betätigungsfeld, und so schrieb auch Stöffler Kommentare etwa zu Proklus, trat jedoch vor allem mit astronomischen Kalendern und Tafelwerken hervor oder betätigte sich ganz als astrologischer Astronom als Horoskopeschreiber für Geistliche. Und obwohl unklar bleibt, ob Stöffler selbst auch observatorisch tätig war, konstruierte er Himmelsgloben und Instrumente – unter anderem die astronomische Uhr am Tübinger Rathaus von 1511 –, was sein ab 1531 amtierender Nachfolger Philipp Imser mit dem Bau zahlreicher Kunstuhren und der Entwicklung eines Verfahrens zur Papieraufbringung auf Globen konsequent weiterführte. Abschließend kennzeichnete Betsch Stöffler als überragende Persönlichkeit, der als Privatgelehrter und Universitätsprofessor in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts das mathematische Wissen der Zeit stupend repräsentierte und neben einem Beitrag zur Kalenderreform insbesondere mit seinen astronomischen Arbeiten der kopernikanischen Reform entscheidend den Boden bereitete.

Sein Augenmerk richtete Prof. Dr. Ulrich Köpf (Tübingen) sodann auf die vornehmste der vier mittelalterlichen Fakultäten und berichtete „Aus den Anfängen der Tübinger Theologischen Fakultät“, wollte jedoch statt eines allgemeinen Überblicks vielmehr gezielt Einblicke in die Beziehungen der Fakultätsmitglieder zur Kirche, die Richtungsbildung innerhalb der Fakultät und die Lehrtätigkeit derer Professoren bieten. Den generell engen Konnex zwischen Universität und Kirche verdeutlichte Köpf mit der anfänglichen Kopplung besoldeter Lekturen an eine Klerikerpfründe der Tübinger Stiftskirche und besonders mit der Personalunion von Universitätskanzler und Stiftspropst, wie ohnehin sämtliche Theologieprofessoren als Geistliche in kirchlichen Funktionen anzusprechen sind. Als Beispiel können die Tübinger Franziskaner und Augustinereremiten mit ihren jeweiligen Partikularstudien gelten, von denen gerade letztere mit ihren Lektoren Johannes von Staupitz (+ 1524), Johannes Bruheim (+ um 1510) und Johannes Nathin (+ 1529) auch im Fakultätslehrkörper saßen, wohingegen erstere mit ihrem Lektor Paulus Scriptoris (+ 1505) und dessen theologischen Vorlesungen immerhin auch Universitätsangehörige in ihren klösterlichen Hörsaal zogen. Und auch die Tübinger Brüder vom Gemeinsamen Leben waren zwar ebenfalls kaum institutionell – das seit 1481/82 bestehende Schlossstift diente als Studienkolleg nur Mitgliedern –, aber doch personell mit der theologischen Fakultät verquickt, wenn vor allem im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts Gabriel Biel (+ 1495), Wendelin Steinbach (+ 1519) und Peter Brun (+ 1553) nacheinander als Professoren lehrten. Gegenüber einer von der älteren Forschung um H. Hermelink und noch H.A. Oberman vertretenen Richtungsbildung an der theologischen Fakultät im Kontext des ‚Wegestreits’ des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts äußerte Köpf freilich gewichtige Bedenken, da sich – von manchen offenbar paritätischen Einstellungsvorgängen abgesehen – eine wirkliche Scheidung von theologischer ‚via antiqua’ bzw. ‚via moderna’ nicht begründen lässt. Statt institutionell mochte Köpf diese nämlich lediglich im Sinn der Ausrichtung einzelner Professoren an einer philosophisch einem bestimmten ‚Weg’ zuzuordnenden Autorität – dies nicht zuletzt wegen der artistischen Vorbildung der Professoren – verstanden wissen, so dass inhaltlich bezüglich Exegese und Dogmatik keineswegs von einer realistischen bzw. nominalistischen Theologie als eigentlich genuin artistischem Konstrukt gesprochen werden kann. Abschließend relativierte Köpf mit Blick auf die Lehrtätigkeit Tübinger Theologen noch das auffällige Schweigen normativer Quellen zur Bibelexegese, die neben explizit genannten Vorlesungen zu den ‚Sententiae Petri Lombardi’ jedoch wie selbstverständlich als Hauptanliegen theologischer Lehre betrachtet werden sollte, und benannte als vordringliche Forschungsaufgabe den Abgleich solch normativer Vorgaben mit der konkreten Hinterlassenschaft einzelner Professoren, um etwaige Übereinstimmungen oder Diskrepanzen zwischen Norm und Praxis herauszuarbeiten.

Im weiteren Verlauf des wegen des krankheitsbedingten Ausfalls von Miriam Eberlein M.A. (Heilbronn) und deren Darstellung zu „Lehre und Gelehrte an der Medizinischen Fakultät Tübingen, 1477–1500“ leicht verschobenen Tagungsprogramms sprach Dr. Klaus Graf (Freiburg i.Br.) über „Thomas Finck – Arzt, Benediktiner, Kartäuser“ und damit über einen der wohl bedeutendsten, zugleich aber auch unbekanntesten volkssprachigen Schriftsteller Südwestdeutschlands am Ende des 15. Jahrhunderts. Die Rekonstruktion der Lebensstationen und des beachtlichen Oeuvres Fincks ist freilich erst kürzlich gelungen, wie Graf anhand eines Forschungsreferats um Namen wie W. Stammler, K. Ruh, H. Kraume, J. Brecht, W. Fechter und Chr. Fasbender eindringlich zeigen konnte. Ihm selbst glückte jüngst die Identifizierung eines Tübinger Mediziners Thomas Finck mit einem gleichnamigen Blaubeurer Benediktiner, der sich 1471 in Basel immatrikulierte, seit ca. 1473/74 in Tübingen Medizin studierte, nach langjähriger Tätigkeit als Arzt 1485/86 in Blaubeuren eintrat, dort als Übersetzer, Redaktor und Verfasser theologischer Schriften wirkte, später sich in der Kartause Güterstein findet und 1523/24 starb. In Würdigung der bisher komplett unedierten Werke Fincks kennzeichnete Graf diesen als von großer Bedeutung für die theologische Ausstrahlung der Tübinger Universität, trug er durch seine Kontakte zu Gabriel Biel (+ 1495) – aber auch zu Konrad Summenhart (+ 1502) und Johannes May (+ 1481) – doch maßgeblich zur Rezeption deren ‚Frömmigkeitstheologie’ im monastischen Bereich bei. Angesichts solch genuin universitärer Sozialisation warnte Graf indes vor einer allzu leichtfertigen Etikettierung des erst spät zum Benediktiner konvertierten Finck im bloßen Kontext von Ordensreform bzw. ‚Melker Reform’, als monastischen Übersetzer freilich sah er ihn zwischen dem Salzburger Benediktiner Wolfgang Walcher (+ 1518) und dem Basler Kartäuser Ludwig Moser (+ 1510). Denn ebenso wie diese war auch Finck stark von der monastischen Theologie des 15. Jahrhunderts um ‚devotio moderna’ und kartäusische Spiritualität geprägt, was sicher nicht zuletzt der breiten Wirkung seiner volkssprachigen Schriften Vorschub leistete und ihn durchaus einem Johannes Trithemius (+ 1516) oder Geiler von Kaisersberg (+ 1510) vergleichbar werden lässt. Insofern plädierte Graf für eine Aufnahme Fincks in die vorderste Reihe der an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert in Südwestdeutschland wirkenden Autoren, forderte aber zunächst die eingehende theologische Aufarbeitung dessen Gesamtwerks, die allerdings ihrerseits eine Volledition oder zumindest die digitalisierte Zugänglichkeit der wichtigsten Handschriften zur Voraussetzung hätte.

Aus studentischer Perspektive näherte sich dem Tagungsthema im Anschluss Gudrun Emberger (Gotha) und fragte in ihrem Vortrag „Zwischen ‚Küchenlatein’ und gelehrtem Disput. Das Collegium Sanctorum Georgii et Martini und andere Tübinger Stipendien“ vor dem Hintergrund Tübinger Studienförderung zwischen 1477 und 1535/36 nach den Anfängen dieses wichtigsten und zumal einzig kontinuierlichen Tübinger Stipendiums. Nach einem knappen Forschungsüberblick zur insgesamt nur unbefriedigend bearbeiteten Stipendiengeschichte spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Universitäten – und auch Tübingens – kennzeichnete Emberger die vorreformatorischen Tübinger Verhältnisse als nicht gerade ausgeprägt und die zehn bekannten Stiftungen von 1479 bis 1522 als ausschließlich privaten Charakters. Davon sind neun lediglich als Geldzuteilung für gleichzeitig niemals mehr als vier Personen anzusprechen, die ganz überwiegend Kleriker für Theologiestudenten aufgerichtet hatten und – neben fünf ortsgebundenen und drei gemischten – gerade einmal bei nur einer die Bedürftigkeit und Würdigkeit ihrer Kandidaten forderten, genuine Armenstipendien also ebenso wie geschlossene Familienstiftungen gänzlich fehlten. Das im April 1509 seitens zweier Tübinger Professoren, des Stuttgarter Stiftsklerikers Georg Hartsesser (+ 1518) und des Tübinger Stadtpfarrers Martin Plantsch (+ 1533), errichtete und dann zum Wintersemester 1518/19 öffnende ‚Collegium Sanctorum Georgii et Martini’ unterlag dagegen keinerlei Beschränkungen hinsichtlich Familien-, Orts- und Fachgebundenheit, sondern wurde dezidiert als ‚Collegium pauperum’ – als zeitlich befristeter Lebens- und Lernort zahlreicher bedürftiger Studenten aller Semester – bestimmt. Dem Universitätssenat als Oberaufsicht unterstellt und von vier Superintendenten aller Fakultäten als Stiftsverwaltern und einem gewählten Hausmeister geführt, zeichnete besonders in der Anfangsphase Plantsch in solchem Maß für den institutionellen Ausbau verantwortlich, dass das zuerst nach beiden Stiftern benannte ‚Collegium’ alsbald mit ‚Martinianum’ nur noch den Namen seines Hauptorganisators trug. Im Folgenden widmete sich Emberger der konkreten Lern- und Lebenssituation der Stipendiaten und erarbeitete aus den ersten Statuten vom April 1528 Aufnahmekriterien und Ausbildungsbestimmungen, die eine angemessene Vorbildung, ein Studium an der Artistenfakultät mit Erwerb beider Grade – paritätisch für beide ‚Wege’ – und ein höheres Studium in Theologie, Recht oder Medizin vorsahen. Darüber hinaus rekonstruierte sie den stets gemeinschaftlichen Tagesablauf von Universitätsbesuch, Repetition und Essenslesung, stellte als Besonderheit jedoch ausgiebige Hausarbeiten wie Fegen, Heizen, Wasserholen, Einkaufen und vor allem Kochen heraus, die neben dem ‚gelehrten Disput’ eines selbstverständlich lateinischsprachigen Unterrichts quasi als ‚Küchenlatein’ und somit teils öffentliche (Knechts-)Arbeit auch als Makel eines angehenden Gelehrten hätten verstanden werden können, angesichts so zahlreicher Absolventen diesen aber letztlich nicht geschadet haben. Abschließend betonte Emberger die Einzigartigkeit des ‚Martinianum’ innerhalb der Tübinger Stipendienlandschaft, dessen enges Lehr- und Lernsystem aus älteren und jüngeren Schülern gerade mit diesem Tutorenkonzept – folglich ohne Zwang zur Anstellung von Privatpräzeptoren – und einer umfangreichen Bibliothek doch überaus günstige Arbeitsbedingungen in dieser freilich auch von Gehorsam und eben Hilfsdiensten geprägten (Lebens-)Gemeinschaft bot.

Im nachfolgenden Vortrag konzentrierte sich Dr. Oliver Auge (Greifswald) auf die Geschichte der Tübinger Buchbestände als Grundlage jedweder Forschung und Lehre und referierte über „Wissenschaft im Buch. Die Tübinger Bibliothekslandschaft bis zur Reformation“, dehnte dies in einem zweiten Abschnitt jedoch auf die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts aus, als mit vermehrtem und zumal aussagekräftigerem Quellenfluss erstmals gesicherte Angaben auch zur Ausstattung Tübinger Bibliotheken möglich wurden. Im ersten Teil skizzierte Auge vorab mit den Tübinger Franziskanern und Augustinereremiten, den Stadtkirchen St. Georg und St. Jakob sowie dem Gericht und der Lateinschule eine zwar vielfältige, insgesamt aber kaum sehr umfangreiche oder gar öffentliche Bibliothekssituation im Umfeld der Universitätsgründung 1477, wovon sich freilich ebenso wie von den ab 1481/82 vor Ort präsenten Brüdern vom Gemeinsamen Leben oder dem 1476 größtenteils nach Tübingen transferierten Sindelfinger Chorherrenstift nur wenig erhalten hat. Dieses weitgehende Fehlen einer leistungsfähigen Bibliothek wollte der ohnehin bibliophile Eberhard im Bart (+ 1496) offensichtlich bereits von Anfang an kompensiert wissen, wenn er unmittelbar den Aufbau von Bibliotheken und vielleicht gleich einer zentralen Universitätsbibliothek etwa nach Heidelberger Vorbild – ein Sonderfall verglichen mit den Fakultätsbibliotheken deutscher Universitäten des 14. und 15. Jahrhunderts – vorsah. Zuwächse erhielten diese Bibliotheken allerdings kaum durch geregelten Erwerb, sondern durch private Stiftungen wie die der Büchersammlung Johannes Stöfflers (+ 1531), während für die insgesamt doch gute Literaturversorgung der noch jungen Universität maßgeblich auch die Bibliothek des ‚Martinianum’ mit Buchbeständen Georg Hartsessers (+ 1518) und Martin Plantschs (+ 1533), die Sammlungen Wendelin Steinbachs (+ 1519) und Benedikt Farners (+ 1538) oder die der öffentlichen Burse sorgten. Die nachreformatorische Zeit beurteilte Auge infolge eines Brands von Sapienzhaus samt Bibliothek 1534 zwar als ernüchternd, doch gingen gerade von der Reformation mit Büchern aufgelöster Klöster neue Impulse aus, die indes trotz des zusätzlichen Ankaufs von Privatbibliotheken – 1539 Konrad Hagers (+ 1541), 1569 Johann Hiltebrands (+ 1568), 1571 Johann Scheubels (+ 1570) – noch erhebliche Anlaufschwierigkeiten zeigten. Erscheint nämlich die Existenz einer regelrechten Universitätsbibliothek noch für das dritte Viertel des 16. Jahrhunderts fraglich und hatte selbst die Artistenfakultät keine Bibliothek, so markierte 1583 die gewaltige Stiftung des Ludwig Grempp von Freudenstein (+ 1583) mit ca. 2.600 Bänden endlich einen Neubeginn, der 1591 mit Georg Burckhart (+ 1607) sogar zur Anstellung eines eigenen Bibliothekars samt Bibliotheksordnung führte. Nach Konkurrenz oder Kongruenz der Bibliotheken fragte Auge in einem letzten Abschnitt und hob speziell auf die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gegründeten Bibliotheken des Evangelischen Stifts und des fürstlichen Schlosses ab, denen sich am Ende des 16. Jahrhunderts noch die des ‚Collegium illustre’ beigesellte, die zudem Rücksicht jetzt auch auf die Bedürfnisse der Universität nahm. Den grundsätzlich nur rudimentären Organisations- und Institutionalisierungsgrad erklärte Auge schließlich mit den geringen Ansprüchen des 16. Jahrhunderts an eine Universitätsbibliothek, die lediglich zur Ergänzung professoraler Privatbibliotheken diente, während diese trotz ihrer heute problematischen Überlieferung doch als wesentlicher Baustein universitärer Bibliothekslandschaften anzusprechen sind und hervorragende Arbeitsbedingungen noch bis ins 18. Jahrhundert boten.

Den zweiten Tagungstag beschloss Prof. Dr. Dr. h.c. Knut Wolfgang Nörr (Tübingen) und handelte über „‚Ein Muster damaliger Gelehrsamkeit’. Kanonistische Bemerkungen zu zwei Abhandlungen Konrad Summenharts [+ 1502] zum Thema der Simonie“, bezog neben dem Simonietraktat dieses bedeutenden Tübinger Theologen und dessen pragmatischem ‚Consilium’ von 1496 zur Vermeidung simonistischen Verhaltens bei der Aufnahme von Novizen aber auch eine Tübinger – vielleicht von Johannes Vergenhans alias Naukler (+ 1510) stammende – Stellungnahme aus kanonistischer Sicht mit ein. Anfangs blickte Nörr jedoch allgemein auf die simonistische Lehre seit Gratian, die als Thema bereits der gregorianischen Reform dann in der Dekretistik des 12. und 13. Jahrhunderts ausgebildet worden war und sich zwar nicht aus kirchenpolitisch-reformorientierter, wohl aber aus professionell-kanonistischer Sicht inzwischen kaum geändert hatte, der letzterer Strömung zugehörige Summenhart Originalität also keineswegs beanspruchen konnte. Dessen Lehrtraktat behandelt neben Einzelfällen simonistischen Verhaltens freilich auch grundsätzlichere Fragen, deren Beantwortung Nörr angesichts einer intentionalen Simoniedefinition und achtfachen -distinktion mit dreierlei Gegenleistungsarten und der Einordnung als Todsünde bzw. Häresie als durchweg dem dekretistischen Erbe verpflichtet kennzeichnete, was ebenso für das schon von Gratian und alsbald auch der konziliaren und päpstlichen Gesetzgebung fokussierte Problem der simonistischen Aufnahme ins Kloster gelten kann. Das ‚Consilium’ Summenharts sodann – mit dem Verzicht auf kanonistische Quellenbelege eine gewisse Distanz zum positiven Kirchenrecht zugunsten des göttlich-natürlichen erkennen lassend – befasst sich bezüglich Begehungsweisen und -bedingungen der Simonie samt Vermeidungsstrategien sowohl mit deren Voraussetzungen als auch Konsequenzen für Vermögenswerte und Beteiligte. Von der üblichen Unterscheidung ausgehend, ob ein Kloster zur Versorgung von Bewerbern genügend begütert sei oder nicht, erörterte Summenhart anschließend die Zulässigkeit von Verträgen mit materiellen Aufnahmebestimmungen und verfocht gemäß göttlichem, nicht aber päpstlichem Recht die Möglichkeit straffreier Vermögenszuwendung bei nur ungenügend ausgestatteten Institutionen, gab seiner sanktimonialen Auftraggeberin indes zugleich auch Formulierungsvorschläge im Fall einer Verhandlung nach Kirchenrecht. Nach Sachverhalten zweifelhaft simonistischen Handelns konzentrierte sich Nörr mit Summenhart im Folgenden besonders auf dessen vermögensrechtliche Konsequenzen und den Grundsatz, dass Vermögenswerte trotz Simonieverdachts des Einzelnen dem Kloster dennoch verbleiben könnten – dies Ausdruck eines Institutionalisierungsprozesses im Sinn der Trennung von Person und Einrichtung, bei Summenhart angesichts juristischer Spitzfindigkeiten im Detail allerdings noch längst nicht abgeschlossen. Die kanonistische Stellungnahme schließlich widmet sich wieder den Voraussetzungen der Simonie und betont die prinzipielle Differenzierung zwischen vertraglicher Verpflichtung und freiwilliger Gabe eines Lebensunterhalts, sieht entgegen Summenhart aber keinerlei Bedenken hinsichtlich selbst regelrechter Verträge bei bedürftigen Klöstern. Ganz im Stile eines Juristen vermittels restriktiver Interpretation und schlichten Ignorierens dabei zwei päpstliche Gesetze zum Simonietatbestand jeglicher Verträge missachtend, zeigt dies nach Nörr zumal das schwierige Verhältnis kanonistischer Wissenschaft zur nicht eo ipso allgemeinverbindlichen päpstlichen Rechtsetzung. Die Frage, welche Vorgehensweise letztlich mehr gebracht hätte, beantwortete Nörr zugunsten des Kanonisten und nicht des Theologen, welch letzterer seine Nonnen durch Allegation eben dieser Texte ohne Zwang in Skrupel verstrickte, während ersterer mit kanonistischer Raffinesse auf die häufig nur ungenügende Promulgation päpstlicher Konstitutionen in kleineren Einrichtungen verwies und die Nonnen somit gerade diese unverschuldete Rechtsunkenntnis als Entschuldigung etwaiger Simonie hätten vorbringen können.

Das letzte Referat übernahm Prof. Dr. Sabine Holtz (Tübingen) und thematisierte nach Ausfall von HD Dr. Matthias Asche (Tübingen) über „Pädagogisch-didaktische Ideen im Wettstreit. Gemeinsamkeiten und Vielfalt humanistischer Bildungskonzeptionen an der Universität Tübingen bzw. im höheren Schulwesen des Herzogtums Württemberg in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts“ sodann „Die unerwünschte Reformation. Die Tübinger theologische Fakultät zwischen Auflehnung und Anpassung“. Um Gründe und Hintergründe des Widerstands der Universität Tübingen und zuvorderst deren theologischer Fakultät gegen die Reformation aufzuzeigen, skizzierte Holtz vorab die Reformation Württembergs 1534 durch Herzog Ulrich (+ 1550) als Ergebnis der Interessenskongruenz Frankreichs, des Papstes und Englands gegen Habsburg, doch sollte die in religiöser Hinsicht diffizile Ausgangslage bald zur Aufspaltung des Lands in einen mit Erhard Schnepf (+ 1558) lutherisch-nördlichen bzw. mit Ambrosius Blarer (+ 1564) schweizerisch-südlichen Landesteil inklusive Tübingens führen. In vorreformatorischer Zeit fungierte die Universität im Kontext erster konfessioneller Auseinandersetzungen als ‚Bollwerk des alten Glaubens’ und stand neben antireformatorischer Publizistik ganz im Dienst kirchlicher und habsburgischer Diplomatie, hatte mit ihrer Öffnung für den Humanismus und der Umsetzung von Reformen im Sinn einer Aufhebung der ‚Wegetrennung’ und in der Theologie besonders einer Konzentration auf biblische Exegese indes die Weichen für die Zukunft gestellt. Die Einführung der Reformation zeitigte folglich bzw. dennoch erhebliche Probleme, beabsichtigte Ulrich mit Hilfe seiner Reformatoren Blarer, Simon Grynäus (+ 1541) und Paul Phrygio (+ 1543), diese doch vorschnell per obrigkeitlichen Akt durchzusetzen, und verletzte dadurch nicht nur die universitäre Autonomie, sondern verhinderte auch jegliche Einbeziehung der Professoren etwa in Form einer Disputation über den neuen Glauben, so dass diese trotzig ‚business as usual’ machten. Zwar brachte trotzdem die Ordnung vom Januar 1535 die ‚unerwünschte Reformation’ samt einem tiefgreifenden Umbau des Lehrkörpers, doch versuchte sich die Universität ungeachtet herzoglicher Dekrete nunmehr im passiven Widerstand und lehnte vor allem Blarer und dessen bekehrende Predigten mit antiakademischer Polemik als unwürdig ab. Neben dieser zeitraubenden Auflehnung nicht wegen scholastischer Renitenz, sondern der obrigkeitlichen Missachtung des akademischen Selbstverständnisses der Professoren als geistiger Elite – letztlich ein Kommunikationsproblem zwischen Universität und Landesherr – machte Holtz auch eine mangelnde externe Unterstützung für solcherlei Schwierigkeiten verantwortlich, wenn etwa Wittenberg sich nicht bereit zeigte, ihren renommierten Universitätsreformer und Wissenschaftsorganisator Philipp Melanchthon (+ 1560) für längere Zeit nach Tübingen zu schicken, dieser aber im Oktober 1536 auf der ‚Nürtinger Konferenz’ gleichwohl einen tragenden Kompromiss zwischen Herzog und Universität erzielte. Zudem spielten nach Holtz auch theologische Orientierungsprobleme mit, die in Anbetracht einer zum Luthertum tendierenden Bevölkerung, des zusätzlich oberdeutsch-schweizerisch geprägten Herzogs und der rasch wechselnden und teils sogar zwinglianischen Reformatoren eine vertrauensbildende Zusammenarbeit kaum zuließen, insgesamt auch überhaupt die doppelte Stoßrichtung der Reformation den dogmatischen Feinheiten gegenüber aufgeschlossenen Professoren wohl schlicht nicht zu vermitteln war. Mit der Suspendierung Blarers 1536/38 stand nunmehr freilich einer allein lutherischen Orientierung und reformatorischen Konsolidierung der Universität trotz eines auch weiterhin spannungsreichen Verhältnisses zum Herzog nichts mehr im Weg, doch fand dies schon 1548 mit Schmalkaldischem Krieg und Interim ein jähes Ende, wobei Ulrich durch passiven Widerstand die diesbezüglich soliden Fundamente aber für Herzog Christoph (+ 1568) sichern konnte. Nach Aufhebung des Interims 1552 und dem Augsburger Religionsfrieden 1555 unterstellte dieser die Universität vermittels regelmäßiger Visitationen schließlich einer festen Organisation in landesherrlicher Kontrolle und führte mit Reformen in Verwaltung und Lehre durch Ordinationen vom Mai 1557 und September 1561 die Reformation faktisch zum Abschluss, was Holtz für einen letzten Blick auf den Landesherrn und ‚seine’ theologische Fakultät in Anpassung nutzte. Durch eine Kopplung deren drei ordentlicher Lekturen an die jetzt württembergischen Kirchenämter von Stiftspropst und zugleich Universitätskanzler, Stiftsdekan und Stadtpfarrer – mit Besetzungsrecht des Herzogs und Verantwortlichkeit gegenüber Stuttgart – konnte Christoph nämlich die Gesamtuniversität nun ganz nach seinen Vorstellungen lenken, mit allen Konsequenzen für die universitäre und fakultäre Autonomie. Mit den um 1561/62 berufenen Ordinarien Jakob Beuerlin (+ 1561) bzw. Jakob Andreae (+ 1590), Jakob Heerbrand (+ 1600), Dietrich Schnepf (+ 1586) und Johannes Brenz jun. (+ 1596) amtierte schließlich ein Kollegium, durch dessen konkordiale Publizistik die Tübinger Fakultät zu den führenden lutherischen Fakultäten im Reich aufschloss und darin vielleicht sogar die Führungsrolle übernahm – insofern der lutherischen Orthodoxie Tübinger Prägung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts endgültig zum Durchbruch verhelfend.

Prof. Dr. Martin Kintzinger (Münster) fasste die Tagung noch nach Art eines eigenständigen Vortrags zusammen, beabsichtigte jedoch nicht – wie der vorliegende Tagungsbericht – eine eher deskriptive Rekapitulation von Inhalt und Ergebnis der einzelnen Referate, sondern eine deutende Synthese aus klar mediävistischer Sicht, wobei sein Hauptaugenmerk vor dem Hintergrund zentraleuropäischer Geistes-, Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte dem Eigenen und Besonderen, aber ebenso Verbindenden Tübingens in Lehre und Forschung um 1500 galt. Gesondert erwähnenswert erscheinen Kintzingers Bezüge zu gegenwärtigen universitäts- und bildungspolitischen Entwicklungen, wenn staatlicher Zugriff sich zunehmend hinter Sachzwängen verschanzt und ohne strukturelle Perspektive – verkleidet als europäische Einheitsrhetorik und versteckt hinter der Fiktion unternehmerischer Freiheit – zum gezielten Abbau der universitären Autonomie führt. Angesichts dessen muss die Universität von heute sich auf die traditionelle Freiheit ihrer Ordnung, Forschung und Lehre besinnen sowie – gerade auch in Anbetracht des erheblichen Legitimationsdefizits der Geisteswissenschaften – ihr Profil und ihre Interessen nachhaltig gegenüber Politik und Öffentlichkeit vertreten, die Freiheit ihrer Wissenschaft aber auch vehement verteidigen, gegenüber staatlicher Disziplinierung durch Output-Finanzierung ebenso wie gegenüber Meinungsmachern, Trendsettern, Ökonomisierern und politischen Analysten. — Eine Publikation aller Beiträge dieser und auch der folgenden Tagungen ist in Beiheften zum ‚Catalogus professorum Tubingensium’ geplant, wo auch die krankheitsbedingt leider ausgefallenen Referate von Prof. Dr. Rainer C. Schwinges (Bern), Miriam Eberlein M.A. (Heilbronn) und HD Dr. Matthias Asche (Tübingen) vorgelegt werden sollen.


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