„Gott sei Dank ist Dortmund noch eben verschont geblieben“ Vom Umgang mit Katastrophen und Risiken vor Ort

„Gott sei Dank ist Dortmund noch eben verschont geblieben“ Vom Umgang mit Katastrophen und Risiken vor Ort

Organisatoren
Verein „Historikerinnen und Historiker vor Ort e.V.“
Ort
Witten-Bommern
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.01.2007 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Karin Hockamp, Sprockhövel

Der bundesweit tätige Verein, dessen Mitglieder sich einer modernen Stadtgeschichtsforschung verschrieben haben, lud nach Witten ein, wo noch bis zum 28. Januar 2007 die Ausstellung „Sprengstoff!“ an die Explosion der Wittener Roburit-Fabrik 1906 erinnerte.1

Knapp 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer fanden am Tag nach dem Orkan Kyrill den Weg zur Tagung nach Witten-Bommern, vorbei an umgestürzten Bäumen. Den Umgang mit „Katastrophen und Risiken vor Ort“, auch wenn diese vergleichsweise marginal waren, konnte die Tagungsleitung sogleich einüben, denn zwei Referenten waren neben einigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern wegen des Ausfalls der Bahn nicht erschienen.

Das Grußwort der Wittener Bürgermeisterin Sonja Leidemann stand unter dem Eindruck des heftigen Orkans, der allein in Witten zu mehr als 200 Feuerwehreinsätzen geführt hatte. Sie gab den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung ein Motto von Lessing mit auf den Weg, Geschichte sei nicht dazu da, die Erinnerung zu beschweren, sondern den Verstand zu erhellen.

Im ersten Beitrag führte Dr. Marie Luisa Allemeyer vom Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen, in die frühe Neuzeit: Zwischen „Fewersnoth“ und „Wassernoth“, über Stadtbrände und Sturmfluten als „normale Ausnahmefälle“.

Die einem religiösen Weltbild verhafteten Menschen deuteten Sturmfluten und andere Katastrophen als Strafmaßnahmen, die Gott über die sündigen und uneinsichtigen Menschen verhängte, um sie für ihr Fehlverhalten zu züchtigen. Im 17. Jahrhundert traten naturwissenschaftliche neben die metaphysischen Erklärungen und drängten diese allmählich in den Hintergrund. Nun konnten sich auch rationale Strategien zur Verhinderung von Katastrophen durchsetzen. Als Beispiel für diesen Trend „vom Beten zum Bauen“ nannte Allemeyer die Neuerung in der Deichbautechnik – das zur Seeseite flach abfallende Deichprofil, bekannt durch Storms Novelle vom „Schimmelreiter“.

Allemeyer schilderte und analysierte die Suche nach neuen Lösungsstrategien, mit denen die Menschen auf ihnen widerfahrenes Unglück und drohende Gefahren reagierten, am Beispiel des Stadtbrandes – für die Bewohner der frühneuzeitlichen Stadt eine allgegenwärtige Gefahr. Im Zusammenhang mit Stadtbränden entstanden Quellen, die die Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen wiedergeben und die Lebenswelten und Mentalitäten der Stadtgesellschaft aufzeigen.

Am Beispiel des Rostocker Stadtbrandes 1677, der innerhalb von zwei Tagen einen großen Teil der Stadt in Schutt und Asche legte, erläutert Allemeyer, wie die religiösen Deutungen und der weltlich-pragmatische Umgang mit der Feuersbrust nebeneinander bestanden und in den Brandordnungen Niederschlag fanden. Die gleichzeitige Verordnung und Anwendung von weltlichen und religiösen Feuerschutzmaßnahmen lassen einen „Methodeneklektizismus“ als doppelte Absicherungsstrategie erkennen, oftmals bei ein und demselben Autor. Die von uns heute empfundene Widersprüchlichkeit zwischen religiösen und weltlich-naturwissenschaftlichen Deutungs- und Handlungsweisen wurde von den Zeitgenossen offenbar nicht gesehen; sie galten als miteinander vereinbar.

Dr. Frank Ahland, freiberuflicher Historiker in Witten und Vorsitzender der Historikerinnen und Historiker vor Ort, referierte über die Auswirkungen der Explosion der Wittener Roburit-Fabrik 1906, der 41 Menschenleben zum Opfer fielen, die zahlreiche Menschen verletzte und obdachlos machte. Schwerpunkt seines Vortrages waren „Solidarität und Konflikt in der Katastrophe“.

An den Hilfsaktionen waren die städtische und konfessionelle Armenfürsorge, Rotes Kreuz, Feuerwehr und Freiwillige beteiligt. Dem Hilfskomitee gehörten auch Stadtverordnete und die Geistlichkeit an, die die Sammlung und Verteilung der Spenden organisierten. Arbeiter gehörten dem Komitee nicht an, nur Vertreterinnen und Vertreter des Bürgertums mit Ausnahme von Industriellen. Den Frauen wurden lediglich karitative Tätigkeiten zugewiesen; der „Damenkommission“ wurden Pfarrer an die Seite gestellt. Ziel der Bemühungen war es auch, den Wiederaufbau der Fabrik zu verhindern.

Dass die Versicherung nicht an die Opfer der Katastrophe, sondern nur an die Fabrik zahlte, machte auch den Betroffenen – zumeist bürgerlichen Hausbesitzern – klar, dass – anders als beispielsweise bei Grubenunglücken – auch sie um Gesundheit und Besitz fürchten mussten, falls derartige Fabrikationen weiterhin in der Nähe der Siedlungen verblieben.

Der Vergleich mit dem Komitee im ebenfalls betroffenen kleinstädtischen Annen bietet sich an: Auch hier gehörten keine Arbeiter dem Komitee an. Hier funktionierte die Zusammenarbeit der verschiedenen Schichten besser als in Witten. Ahland führte dies unter anderem auf die geringere sozialräumliche Segregation und die stärkere Einbeziehung von Ehrenamtlichen in die Hilfsmaßnahmen zurück. Wenigstens vier Annener Bürger waren später in der Kommunalpolitik tätig, darunter die aus einer Honoratiorenfamilie stammende Martha Dönhoff, die später für die Linksliberalen im Reichstag saß. Für die Sozialdemokraten brachte die Explosion keine Stimmengewinne bei den Kommunalwahlen, obwohl ihr Reichstagsabgeordneter Otto Hue sich im Reichtstag für eine Entschädigung der Opfer eingesetzt hatte.

Für Ahland war die Roburit-Katastrophe ein Katalysator politischer Prozesse und ein Ereignis, das vor allem das Bürgertum verunsicherte, allen voran den Mittelstand. Die Gründung des Wittener Haus- und Grundbesitzervereins als Interessenvertretung der geschädigten Hausbesitzer war eine unmittelbare Folge des Unglücks. Die Erkenntnis, dass solche Betriebsunfälle nicht nur die dort beschäftigten Arbeiter, sondern jeden treffen konnten, erschütterte das Vertrauen der Bürger in den Staat nachhaltig und erzeugte Angst und Ohnmachtsgefühle. Inwieweit diese allgemeine Erfahrung im Zusammenhang mit dem Versagen des Bürgertums in Hinsicht auf die Akzeptanz der republikanisch-demokratischen Staatsform in den 1920er Jahren zu sehen ist, stellte Ahland als Frage in den Raum.

Der Berliner Kulturwissenschaftler Jens Wietschorke untersuchte die Presseberichterstattung über das Roburit-Unglück: „Die Katastrophe als Sensation“.

Die Berichterstattung in der regionalen und überregionalen Presse gab nicht nur Auskunft über Verlauf und Bewältigung des Unglücks, sondern auch über die Strukturen der Öffentlichkeit, die die Reaktionen wesentlich mitbestimmten. Die Berichterstatter waren ausgesprochen schnell, ihre Meldungen waren packend und gaben präzise die Beobachtungen wieder. Viele Reporter waren in den Trümmern der Roburitfabik unterwegs und hielten ausdrucksstarke Momente fest; das Ereignis wurde zur Sensation im wahrsten Sine des Wortes, zum sinnlich wahrnehmbaren Geschehen. Der Journalist war nicht mehr wie noch im 19. Jahrhundert der distanzierte Experte, sondern bereits der moderne Reporter, der die Emotionen des Publikums vorwegnahm.

Weil Fotografien in der Tagespresse damals nur sehr selten verwendet werden konnten (lediglich Zeichnungen wurden veröffentlicht), mussten die Schilderungen stattdessen umso anschaulicher sein. Wietschorke konstatierte ein um 1900 enorm gesteigertes Bedürfnis nach Spannung, Unterhaltung und Sensation bei noch geltender technischer Beschränkung auf das gedruckte Wort.

Die Berichterstattung über das Roburit-Unglück spiegelt insgesamt eine sich verändernde Presselandschaft in Deutschland um 1900. Zahl und Gesamtauflage der deutschen Zeitungen und Zeitschriften erreichten in diesen Jahren einen Höhepunkt, der heute nicht mehr erreicht wird. Dabei waren die Generalanzeiger die ersten Massenmedien im eigentlichen Sinne und führten zum Entstehen einer neuen „Integrationskultur“ (Habermas), die elastisch genug war, Elemente der Werbung zu assimilieren und die als Medium politischer und ökonomischer Beeinflussung eingesetzt wurde.

Die Generalanzeiger der damaligen Zeit mussten lesbar, spannend und unterhaltend sein. Wietschorke zitierte den Pressehistoriker Rudolf Stöber, der drei Neuerungen der Generalanzeigerpresse jener Jahre aufzeigte: veränderte Vertriebsbedingungen, ein revolutioniertes Anzeigenwesen und neue Methoden der Leser-Blatt-Bindung, und die Deklaration politischer Neutralität (im Gegensatz zur Parteipresse).

All diese Neuerungen lassen sich in der Berichterstattung über die Wittener Roburitkatastrophe leicht wieder finden: emotionaler Bezug zwischen Leser und Ereignis, appellhafter Charakter der Berichte mit Mitleid erregenden Schilderungen.

Der von Wietschorke zitierte Kai Lückemeier zeigte auf, dass die Formen der Massenpresse seit den 1870er Jahren die deutsche öffentliche Meinung des Jahres 1914 strukturell vorbereitete. Der Wandel der gesellschaftlichen Funktion des Journalismus im Zeichen einer konsensfähigen Erzählung bedeutete laut Lückemeier das Ende der bürgerlichen Publizistik und des aufklärerischen Journalismus. Die kollektive Kriegsstimmung von 1914 beruhte wesentlich auf einer publizistischen Verbindung der Bereiche Politik, Information, Unterhaltung, Lebenshilfe und Werbung, war also Teil der „Integrationskultur“.

Wietschorke fasste zusammen: Die Katastrophenberichterstattung richtete sich nicht mehr an den gebildeten mitdenkenden Bürger, sondern an den mitfühlenden Leser und ließ damit eine wichtige emotionale Basis für die Nation entstehen. Die massenhafte Reproduktion verringerte die Distanzen und machte die lokale Katastrophe zum reichsweiten Ereignis. Solidarität konnte auf einer neuen Ebene stattfinden: Nicht mehr die Familie war primäres Subjekt der Unterstützung im Katastrophenfall, sondern die mit Hilfe der Presse geformte "Schicksalsgemeinschaft". Die Tageszeitung integrierte die verschiedenen Alltagsbereiche und wurde zu einem Spiegel des Alltagslebens. Die Presse „sendet auf allen Kanälen“.

Abschließend stellte Wietschorke fest, dass die über die Presse massenhaft entwickelten katastrophalen Ereignisse Modelle lieferte für kollektive Erschütterungen und kollektives Handeln, auf die wenige Jahre später auch die Kriegspropaganda zurückgreifen konnte. Die Geschichte von Sensation und Solidarität lässt sich, so Wietschorke, auch als Teil eines Nationalisierungsprozesses erzählen, der 1918 sein vorläufiges Ende fand.

Der Castrop-Rauxeler Historiker Andreas Göbel referierte über den „Protest nach der Katastrophe“ der Anwohner gegen die Sicherheitssprengstofffabrik 1907 in Castrop.

Die Castroper Sicherheitssprengstoff-Aktiengesellschaft Dortmund produzierte von 1892 bis 1909 im heutigen Castrop-Rauxel Spezialsprengstoffe für den Bergbau. Die Fabrik befand sich auf der Bergkuppe der Kottenbergschlucht, in der Nähe der Zeche Graf Schwerin, 200 Meter entfernt von Kirche, Schule und Wohnbebauung. Das Genehmigungsverfahren war begleitet von Einsprüchen besorgter Bürger, die der Regierungspräsident Arnsberg jedoch nicht berücksichtigt hatte. Ein Brand auf dem Fabrikgelände 1896 fand in den städtischen Akten kaum Erwähnung. Ab 1906 allerdings werden die Akten über die Fabrik dicker.

Unter dem Eindruck der Explosion der Roburit-Fabrik in Witten erhielt der Protest der Gegner der Castroper Anlage starken Auftrieb. Die Gewerkschaft der Zeche Graf Schwerin klagte in Arnsberg auf Schließung, ihr schlossen sich andere Betriebe an, und der Bürgermeister forderte schärfere Sicherheitsmaßnahmen. Die Betreiber der Sprengstofffabrik, die eine Gefährdung nach wie vor ausschlossen, forderten eine Entschädigung für die Schließung. Die Dortmunder Gewerbeaufsicht erließ schärfere Auflagen, darunter die Beschränkung auf zwei Sprengstoffe ohne Nitroglyzerin. 1908 erfolgte eine Änderung der Konzessionsbedingungen und die Reduzierung der Produktion, wogegen die Fabrik mit Erfolg klagte. Die öffentliche Bekanntmachung dieser Revision führte zu vermehrten Bürgerprotesten, die jedoch in der Castroper Zeitung keinen Widerhall fanden. Neben 19 Einsprüchen der Anwohner legen auch die Zechen Schwerin und Erin Einsprüche ein.

„Heimlich, still und leise“ stellte die Sprengstofffabrik im Mai 1909 ihren Betrieb ein und verlagerte die Produktion in das ländliche Rummenohl bei Hagen. Die Schließung der Fabrik wäre, so das Fazit Göbels, ohne die vorangegangene Roburitexplosion in Witten nicht erfolgt.

In der anschließenden Diskussion konnte festgestellt werden, dass durch die Katastrophe von Witten eine grundsätzliche Infragestellung der Industriegesellschaft mit ihren Gefahren nicht erfolgte, lediglich die Gefährdung durch diese spezielle Anlage wurde thematisiert. Träger des Protestes waren bürgerliche Schichten und die anliegenden Betriebe, die im Falle einer Explosion ihre Produktionsmittel verloren hätten. Der grundsätzlich technikskeptische Teil der heutigen Bevölkerung war damals nicht vorhanden; negative Reaktionen aus der Arbeiterschaft wurden nicht bekannt. Im Gegenteil wurde eher die Verlagerung der Fabrik aus Castrop für die Arbeiter als Bedrohung empfunden; sie war mit dem Verlust der Arbeitsplätze verbunden. Grundsätzlich war der Sicherheitssprengstoff in der Anwendung sicher und wurde von den Bergleuten als segensreich empfunden.

Das subjektive Gefühl der Bedrohung ihrer Sicherheit empfanden die Arbeiter eben nicht als neu: So arbeiteten Bergleute unter ständiger Lebensgefahr. Für sie bedeuteten Sicherheitssprengstoffe einen erheblichen technischen Fortschritt, Rummenohl, der neue Standort der Castroper Fabrik, war Teil eines alten vorindustriellen Gewerberaums mit der Tradition zahlreicher Pulvermühlen. Hier nahm die Bevölkerung die Gefahr nicht mehr als besondere Bedrohung wahr. Sie war schon lange Teil ihres Alltags.

Nach der Mittagspause führten Stefan Nies und Frank Ahland durch die Ausstellung „Sprengstoff! Die Explosion der Wittener Roburit-Fabrik 1906“. Mit Ingrid Telsemeyer vom Gast gebenden Museum konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer das Besucherbergwerk Nachtigallstollen besichtigen.

Da die Referenten Matthias Hofmann aus München und Dr. Stefan Poser aus Berlin wegen des Orkans nicht hatten anreisen können, mussten zwei wichtige Beiträge ausfallen. Der „Chemieunfall von Seveso“ konnte ebenso wenig behandelt werden wie die „Inszenierten Katastrophen – Technische Risiken und Katastrophen als Ausstellungsthema“. Für den Nachmittag verblieben dann noch zwei Vorträge.

Zunächst berichtete Jan Bron, Stadtteilmanager Nord der Stadt Enschede von der Bewältigung der Katastrophe im niederländischen Enschede, wo am 13. Mai 2000 die Fabrik SE Fireworks explodierte.

Als Feuerwehr und Polizei nach dem ersten Alarm in der Fabrik anrückten, hatten sie zunächst keine Ahnung, in welcher Gefahr sie und die Stadt sich befanden. Es entstand der Eindruck, dass das Feuer unter Kontrolle sei, als 30 Minuten nach dem ersten Alarm die erste große Explosion der Feuerwerksfabrik erfolgte, in deren Folge 23 Menschen zu Tode kamen und 947 verletzt wurden. Schließlich wurde eine Fläche von 42,5 Hektar zerstört. Geschädigt waren schließlich 11 500 Menschen in Enschede, insgesamt betroffen waren 30 000. 400 Menschen gelten als lebenslang traumatisiert.

Ziel des Wiederaufbaus war es, einen neuen Stadtteil für die Zurückkehrenden zu schaffen. Der Wiederaufbau wurde kommunal entwickelt; die Gemeinde war Eigentümerin der Grundstücke. Wohnen und Kultur wurden miteinander kombiniert. Grundgedanke war dabei der Sozialwohnungsbau. 50 % der ursprünglichen Einwohner sind zurückgekehrt; sie zahlen weniger Miete als die neu zugezogenen. Dort, wo die Fabrik stand, wurde nach einem internationalen Wettbewerb ein Denkmal errichtet; für die Kinder wurde ein besonderes Denkmal gebaut. Die alte Fabrik Rosendahl wird derzeit in ein Kulturzentrum umgewandelt, in das viele Vereine, unter anderem auch ein marokkanischer und ein türkischer, einziehen werden. Ebenso entsteht ein „Haus der Geschichte“, das im April dieses Jahres fertig sein wird, und es werden drei Schulen neu errichtet. Insgesamt werden 62 Hektar neu bebaut; mit der Fertigstellung wird in sechs Jahren gerechnet.

Als Verantwortliche an der Katastrophe wurden zunächst die Direktoren der Feuerwerksfabrik verurteilt; der Betrieb ging in Konkurs. Als Mitverantwortliche hatten sich auch die Gemeinde und der Staat zu verantworten, die ihrer Kontrollpflicht nicht genügt hatten. Die Katastrophe von Enschede hat in den Niederlanden zu einem Mentalitätswechsel geführt, so dass die Kontrollen erheblich verschärft wurden. Vor dem Unglück befanden sich in den Niederlanden mehr als zehn Feuerwerksfabriken, heute sind es noch zwei bis drei, bei denen ein großer Abstand zu den Wohngebäuden vorhanden sein muss.

Als Folge der Katastrophe wird ein Austausch mit französischen, spanischen und anderen Städten mit ähnlichen Erfahrungen gepflegt. Die Versicherungen haben sehr schnell und großzügig gezahlt. Hinzu kamen erhebliche Summen vom Staat, von der Provinz, der Gemeinde und von Stiftungen.

Ein Zeitraum von knapp 100 Jahren liegt zwischen der Explosion der Roburit-Fabrik in Witten und der Katastrophe von Enschede. Zwischen der Art und Weise der Bewältigung dieser Unglücke scheinen jedoch Welten zu liegen.

Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung blieb das Erstaunen über eine offenbar gelungene Schadensbewältigung, wie sie vielleicht nur unsere von mehr Bürgersinn und Ausgleichsbereitschaft geprägten niederländischen Nachbarn umsetzen können.

Zum Abschluss stellte Stefan Nies von der Dortmunder Geschichtsagentur Dudde und Nies die Frage „Was bleibt? Risiko und Katastrophe in der Geschichtsarbeit vor Ort“.

Der Umgang mit technischen Risiken ist nach wie vor durch das Prinzip „trial and error“ geprägt. Erst in der Katastrophe erweist sich, was richtig oder falsch ist, entwickelt sich sozusagen ein „negatives Gütesiegel“, so der Soziologe und Katastrophenforscher Wolf Dombroswky. Nies zog daraus den Schluss: Wir können nicht nur aus Katastrophen lernen, wir müssen es. Zunächst bedeutet natürlich die Katastrophe großes Leid für die betroffenen Menschen, für Historiker bietet sie jedoch zahlreiche Ansatzpunkte für neue Erkenntnisse. Sie ist wie ein Blick durch die Lupe auf die gesellschaftlichen und mentalen Zustände ihres Umfeldes. Katastrophen sind als Thema für die lokale oder auch regionale Geschichtsforschung geradezu ideal, weil fast alle Akteure vor Ort ansässig sind und weil die Folgen geografisch eingegrenzt werden können.

Katastrophen können Katalysatoren politischer Emanzipationsprozesse sein, sie geben Einblicke in das Risikobewußtsein ihrer Zeit, auf Verwaltung, politische Strukturen und auf die Akteure an diesem einen Ort, woraus sich Rückschlüsse auf allgemeine Zustände und auf den Zustand der Gesellschaft ziehen lassen.

Katastrophen sind Ausgangspunkte für Klärungs- und Handlungsbedarf; sie produzieren zahlreiche Quellen: Es entstehen dauerhaft aufbewahrte (Prozess-)Akten und Gutachten, es werden die Modalitäten der Fürsorge und der technische Kenntnisstand sichtbar. Bei dieser Gelegenheit betonte Nies die große Bedeutung des Stadtarchivs für die Aufbewahrung und Erschließung gerade dieser Quellen. Natürlich müssen bei der Behandlung der Roburitkatastrophe auch aktuelle Bezüge wie die Frage nach der Beherrschbarkeit technischer Risiken hergestellt werden.

Nies, der zusammen mit Ahland die Ausstellung „Sprengstoff!“ erarbeitet hatte, stellte abschließend das Ausstellungskonzept vor. Wichtig war, nicht nur „Flachware“ zu präsentieren. Über einen Presseaufruf gelangte das Ausstellungsteam auch an private Dokumente und Artefakte, und es konnten über die Kontakte zu Nachfahren der Betroffenen auch persönliche Bezüge hergestellt werden. In der Ausstellung und ihrem Begleitprogramm wird der Bogen zur Gegenwart gespannt: „Katastrophen und Brandschutz heute“ sowie „Schaulust und Risikobereitschaft“ – ganz aktuell.

Das frühere Ende der Tagung bot den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Möglichkeit eines entspannten informellen Austausches. Mit der neuen Homepage (http://www.historiker-vor-ort.de) und dem Internet-Forum hat der 1993 gegründete Verein „Historikerinnen und Historiker vor Ort“ eine Chance ergriffen, nicht nur neue Mitglieder zu werben, sondern auch den fachlichen Austausch zu beleben und zu verbessern. Ein unregelmäßig stattfindender Stammtisch ist auch für Interessenten offen, die bei den „HvOs“ mal „schnuppern“ wollen. Nächster Termin: Freitag, 2. März 2007, in „Leo’s Casa“, Essen, im Europahaus am Kennedyplatz.

Anmerkung:
1 Zum Thema ist ein Begleitband erschienen: Ahland, Frank; Nies, Stefan; Telsemeyer, Ingrid (Hrsg.), Sprengstoff! Die Explosion der Wittener Roburit-Fabrik 1906. Im Auftrag des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe/Westfälisches Industriemuseum in Kooperation mit dem Stadtarchiv Witten, Essen 2006 (3-89861-705-X, 112 Seiten, 9,90 Euro).


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