Recht, Religion und Lebenslaufperspektiven. Unterschiedliche Strategien im Umgang mit Armut im frühneuzeitlichen Europa

Recht, Religion und Lebenslaufperspektiven. Unterschiedliche Strategien im Umgang mit Armut im frühneuzeitlichen Europa

Organisatoren
Teilprojekt B3 "Katholische und protestantische Armenfürsorge in der Frühen Neuzeit zwischen kirchlicher, staatlicher und kommunaler Zuständigkeit" im SFB 600 "Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Spätantike bis zur Gegenwart"
Ort
Trier
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.10.2006 - 21.10.2006
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Von
Christina Hoor, Universität Trier

Im Zentrum der Tagung, veranstaltet vom interdisziplinären Teilprojekt B3 "Katholische und protestantische Armenfürsorge in der Frühen Neuzeit" des DFG-Sonderforschungsbereichs 600 "Fremdheit und Armut" stand das Problemfeld von Recht, Konfession und Armenfürsorge bzw. Bettelbekämpfung aus rechtshistorischer und geschichts¬wissenschaftlicher Perspektive. Frühneuzeitliche Armenfürsorgekonzepte, Armutskarrieren, Kriminalitätsmuster und damit verbundene Exklusions-, bzw. Inklusionsmodi bildeten die zentralen Aspekte, deren Zusammenhänge, Wechselwirkungen und Deutungsansätze die Tagungsteilnehmer im Rahmen des zweitägigen Zusammentreffens in Trier in den Blick nahmen.

Weisen aktuelle Untersuchungen aus der Rechtsgeschichte eine zunehmende Kriminalisierung armutsbedingter und armutsbezogener Handlungen in den Polizei- und Bettelordnungen der Frühen Neuzeit nach, werfen diese Forschungsergebnisse gleichzeitig die Frage auf, inwieweit die vor allem im 18. Jahrhundert fortschreitende Exklusionspolitik die Kriminalisierung bestimmter Armer vorangetrieben und somit zu einer Verfestigung von Armutskarrieren beigetragen hat. Im Blickfeld der Tagung stand daher besonders, wie die Armen mit den ihnen angebotenen Hilfsleistungen umgingen und welche alternativen Überlebensstrategien sie daneben entwickelten. In welchen Lebensphasen waren Personen besonders von Armut betroffen und wie bewerteten sie jeweils ihre Situation? Wie gingen Arme und Bettler dabei mit der drohenden Kriminalisierung bzw. Strafverfolgung der von ihnen gewählten Maßnahmen und Strategien um? Konnten mikrohistorische Studien vor allem zur konkreten Ausgestaltung der Armenfürsorge auf der Ebene der einzelnen Institutionen neue Ergebnisse liefern, so wollte die Tagung in Umkehrung der Perspektive Erklärungsmodelle dazu entwerfen, welche Auswirkungen die unterschiedlichen Fürsorgekonzepte und ihre institutionelle Umsetzung auf die Betroffenen und ihre Lebenslaufperspektiven hatten.

Interdisziplinäre Berührungspunkte von Rechtsgeschichte und Geschichte der Armenfürsorge bildeten den Schwerpunkt der Sektion 1, indem besonders die Diskursebene um Armut, Devianz und Delinquenz behandelt wurde. Hierbei ging es in erster Linie um die Wechselwirkungen und Auswirkungen der juristischen Auseinandersetzung mit Armut einerseits und den Lebenswirklichkeiten Betroffener und den von ihnen gewählten Strategien andererseits.

Einleitend behandelte Franz DORN (Trier) in seinem Vortrag "'Not kennt kein Gebot' - Diebstahl aus Hungersnot in der Rechtsdogmatik der frühen Neuzeit" die Auffassungen zum Notdiebstahl in der frühmodernen Jurisprudenz. Zunächst wurden die Entwicklung hin zu den Artt. 166 und 175 in der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. von 1532 und dabei besonders definitorische Unklarheiten und Offenheiten der 'Carolina' bezüglich des Notdiebstahls herausgestellt. Ob dieser Sonderfall von Eigentumskriminalität einer ganz eigenen Behandlung bedurfte, ob er überhaupt bestraft werden sollte, und wie man festlegen konnte, ob ein Fall von höchster Not und damit der Notdiebstahl überhaupt vorlag, in all diesen Fragen gingen die Beurteilungen der Juristen auseinander, wie an den Theorien aus der frühen gemeinrechtlichen Strafrechtswissenschaft über die Naturrechtslehre bis zur Dogmatik im 18. Jh. deutlich gemacht werden konnte. Von herausgehobener Bedeutung sind für den Rechtshistoriker die Debatten zur Reichweite der gesetzlichen Regelung, so etwa zur Frage, ob jene sich nur auf Nahrungsmittel bezog oder auch auf Geld oder anderes Gut, das zur Beschaffung von Nahrungsmitteln benutzt wurde, des Weiteren zur Frage, zu wessen Gunsten der Täter einen Notdiebstahl begehen durfte, oder bezüglich des Problems, wie es zu bewerten war, wenn der Betroffene die Notlage selbst verursacht hatte. Der abschließende Blick in die Praxis verdeutlicht, dass sich Täter zwar nicht selten auf den Tatbestand des Notdiebstahls beriefen, die Gerichte aber von einer Verurteilung in aller Regel nicht absahen, sondern allenfalls eine Strafmilderung aussprachen.

"Strategien im Umgang mit Armut und Bettelei in Normtexten damals und heute" stellte Alexander WAGNER (Trier) zur Diskussion, indem er am Beispiel der staatlichen Regelungen zum Betteln aufzeigte, wie Erkenntnisse aus der rechtshistorischen Beschäftigung zum Verständnis auch aktueller Rechtsprobleme beitragen können. Weist schon ein erster Vergleich von Argumentationen des spanischen Philosophen Juan Luis Vives und des hessischen Ministerpräsidenten Koch auf Analogien in der Bewertung der Arbeitsbereitschaft von Bedürftigen hin, so erschließt vor allem ein Überblick über die Entwicklung der rechtlichen Bestimmungen ausgehend von der frühneuzeitlichen kurtrierischen Verordnung bis hin zu heutigen kommunalen "Bettelverordnungen" interessante Perspektiven. Parallelen werden vor allem hinsichtlich der Verdächtigung des Bettelns als Bettelbetrug oder der Bewertung des Bettelns als Störung der öffentlichen Ordnung - aber auch in der häufigen Neufassung und Wiederholung der Gesetze deutlich. Gewisse Ähnlichkeiten sind daneben zwischen einer Nichtinanspruchnahme sozialer Leistungen durch Angehörige des heutigen "Prekariats" und dem frühneuzeitlichen Typus des "verschämten Armen" zu konstatieren.

Gerhard AMMERER (Salzburg) behandelte in seinem Beitrag verschiedene Formen der Bestrafung als "deviant" bezeichneter Personen unter dem Aspekt, wie diese Sanktionen Funktionen von sozialer Selektion und Exklusion erfüllten. Anhand von Quellen aus dem Habsburgerreich und Salzburg aus den letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts stellte er heraus, dass Schandstrafen, die Landesverweisung und das Relegationszeichen soziale und geographische Netzwerke zerstören und damit Armutskarrieren erzwingen und verlängern konnten. Auch wenn sich zur tatsächlichen ehrmindernden Wirkung durch eine öffentliche Ausstellung am Pranger oder Prechl, begründet durch die Quellenlage, nur schwer eindeutige Aussagen treffen lassen, so kann doch vor allem bei der Landesverweisung und der damit oft verbundenen Einbrennung eines Relegationszeichens von einem Verlust des "symbolischen Kapitals" der Ehre ausgegangen werden. Dass die Problematik einer dadurch miterzeugten Verlängerung der Delinquenzkarriere durch die Begründung eines "Teufelskreises" auch von Zeitgenossen vielfach wahrgenommen und diese Strafen als dem eigentlich angestrebten Haupteffekt der Generalprävention gegenläufig kritisiert wurden, belegen die angeführten Beispiele aus aufklärerischen Publikationen von Autoren, Juristen und Journalisten.

Die Vorträge der Sektion 2 richteten ihren Blick auf die biografischen Aspekte, die von den 'kleinen Leuten' in bestimmten Lebensphasen ergriffenen Strategien und die sich daraus ergebenden Überlebenschancen, beschränkt oder stark bedingt durch die spezifischen institutionellen Bedingungen.

"Fürsorgemaßnahmen, Lebenschancen und Armutskarrieren im Vergleich. Strategien im Umgang mit Armut in den geistlichen Kurfürstentümern" standen im Mittelpunkt des Vortrags von Sebastian SCHMIDT (Trier). Er führte dabei aus, in welchem Lebensalter und in welchen Lebenssituationen Personen besonders von Armut bedroht waren und welche institutionellen Hilfsmaßnahmen und Selbsthilfestrategien dafür bereit standen bzw. genutzt wurden. Bot neben der Bettelei für Kinder - der neben Alten am stärksten von Armut betroffenen Altersgruppe - hauptsächlich die Arbeit in Spinn- und Arbeitshäusern einen Weg, das Überleben zu sichern, stellte diese Beschäftigung dennoch nur geringe Hungerlöhne und kaum soziale Aufstiegsmöglichkeiten in Aussicht. Die Aufnahme in Waisenhäuser war daneben eher ein Privileg, das zumindest eine Ausbildung und damit Perspektiven ermöglichte. Fungierten die Hospitalsstiftungen für die Versorgung erwachsener Armer eher als Kreditgeber, war die Bedeutung der Klöster und Bruderschaften in der Almosenausspendung größer - was sich in wiederholten Versuchen zur landesherrlichen Einflussnahme darauf äußert. Daneben trifft man auch in den hier untersuchten Quellen auf die obrigkeitliche Unterstellung vielfältiger Formen von Betrugsbettelei, doch selbst bei Mehrfachbezug von Almosen reichte dies kaum zum Überleben aus. Boten sich somit gerade in den geistlichen Kurfürstentümern immer noch Möglichkeiten des Bettelns und der Almosenausgabe, war die institutionelle Umsetzung der Armenversorgung und -erziehung dennoch so unzureichend, dass ein Ausweg aus der Armut kaum möglich war und kriminelles Verhalten zur Beschaffung des Lebensnotwendigen zur Folge hatte.

Rita VOLTMER (Trier) beleuchtete in ihrem Vortrag die "Überlebensstrategien 'kleiner Leute' im Spiegel von Strafgerichtsakten" und wandte sich anhand ausgewählter Fallbeispiele der äußerst heterogenen Gruppe der von einer prekären Lebenssituation Betroffenen zu, die sie mit den Kategorisierungen "Unterschichten", "Randgruppen" und "Außenseiter" in der Forschung immer noch unzureichend definiert sieht. Verschiedene Maßnahmen wurden von den "kleinen Leuten" im Verlauf ihrer Armutskarriere ergriffen, um sich das Überleben zu ermöglichen, wie sich an den Beispielen aus dem Großraum des frühneuzeitlichen Kurtrier anschaulich belegen lässt. Die Bandbreite der Delikte aus den Strafgerichtsakten, deren Entstehungskontext aufgrund ihres Quellencharakters bei einer Analyse besonders berücksichtigt werden muss, vom Mundraub bis zur Brandschatzung, von der Bigamie bis zur Prostitution zeigt auf, dass sich die Betroffenen in der Auswahl ihrer Strategien als kreativ, flexibel und anpassungsfähig erwiesen. Verlief der Übergang von gerade noch legalem zu kriminellem Verhalten ohnehin häufig fließend, erhöhte die zunehmende Kriminalisierung vorher geduldeter Praktiken seitens der Justiz für die "kleinen Leute" die Gefahr, weiter an den Rand der Gesellschaft und tiefer in die Kriminalitätskarriere abzurutschen.

Einen besonderen Fall von Armutskriminalität stellte Martin UHRMACHER (Luxemburg) den Tagungsteilnehmern mit seinem Bericht über die Aktivität der sogenannten "Großen Siechenbande" am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert im Rheinland vor. Anhand der Strafgerichtsakten (1710 bis 1712), denen eine hohe Glaubwürdigkeit attestiert werden kann, wird deutlich, dass im Rahmen der kriminellen Tätigkeit eine organisatorische und kommunikative Vernetzung der Insassen von Siechenhäusern (Leprosorien) stattgefunden hat, in der man durchaus eine frühneuzeitliche Form organisierter Kriminalität erkennen kann. Den Mitgliedern der Bande konnten insgesamt 18 Morde und Mordversuche sowie eine Vielzahl weiterer Verbrechen nachgewiesen werden, die zwischen 1698 und 1710 verübt worden waren. Außerordentliche Professionalität bewiesen die Betreffenden als Leprasimulanten und in der Fälschung von Siechenbriefen, um sich die dauerhafte Aufnahme in ein Leprosorium zu erschleichen. Da es zu dieser Zeit - von einzelnen Ausnahmen abgesehen - bereits keine Lepraerkrankungen mehr gab, wurden viele Einrichtungen schließlich nur noch von den Familien der Bandenmitglieder bewohnt. So konnte sich unbemerkt von der Justiz ein Netzwerk von Leprosorien ausbilden, die als Rückzugs- und Schutzraum für die kriminell operierenden Banden dienten. In Folge des Prozesses gegen die "Große Siechenbande" kam es in vielen rheinischen Territorien zur Schließung und zum Abriss der Leprosorien.

Da Kinder eine der am häufigsten von Armut betroffene Altersgruppe darstellten, und Kinderreichtum, sowie das Fehlen eines Elternteils gleichzeitig Faktoren bildeten, die die Ausprägung von Armutskarrieren deutlich beeinflussten, widmeten sich die Vorträge in Sektion 3 besonders den Überlebensstrategien armer Eltern und Kinder. Dabei wurde vor allem nach den spezifischen Gründen, Auslösern und den sozialen Hintergründen der Täter, sowie nach den Reaktionen der zuständigen Behörden gefragt.

Helga SCHNABEL-SCHÜLE (Trier) reflektierte in ihrem Vortrag die Zusammenhänge von "Armut und Kindstötung in den Strafgerichtsakten der Frühen Neuzeit". Zum Ende des 18. Jahrhunderts fand eine stärkere theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema Kindstötung statt, die allerdings nicht mit einem realen Anstieg der Häufigkeit des Delikts in Verbindung stand, denn trotz steigenden Bevölkerungswachstums wuchs die Anzahl der Fälle nicht überproportional an. Die Kindstötung - ein Delikt, das per definitionem nur von der Mutter begangen werden konnte - wurde meist härter bestraft als Mord und war das am häufigsten mit dem Tod bestrafte frühneuzeitliche Verbrechen. In der Ermittlung gegen die Verdächtigen, die insgesamt eine heterogene Gruppe bildeten, die in den Quellen meist als "niedrigste Schicht" bezeichnet wurde und einen sehr hohen Anteil an armen Dienstmägden aufwies, spielte die Folter aufgrund der Heimlichkeit der Tat und des Fehlens von Augenzeugen eine außerordentlich große Rolle. Als wichtigster deliktvermeidender Faktor muss die frühneuzeitliche Familie als zentrale "Fürsorgeinstitution" für in Notlagen geratene Mitglieder herausgehoben werden.

Dem Thema "Weggelegte Kinder während der frühen Neuzeit" widmete sich Helmut BRÄUER (Leipzig), um dabei am Beispiel des regionalen Schwerpunkts Obersachsen insbesondere die noch nicht ausreichend geklärte Frage nach den Ursachen der Weglegung zu stellen. Es wurde anhand von zahlreichen Fällen - vor allem aus den städtischen Archiven - zunächst herausgearbeitet, dass Parallelen in der Auffindungssituation der Kinder zu beobachten sind: So handelte es sich bei den Findlingen größtenteils um Neugeborene, ausgestattet mit meist spärlicher "Überlebensvorsorge", die in einigen Fällen auch an Plätzen ausgesetzt wurden, die einen unmittelbaren Bezug zum Kindsvater herstellen ließen. Zur sozialen Hintergrundsituation für die Aussetzung sind vor allem Nichtehelichkeit, Verlassenheit, materielle Armut und Kriegsbedingungen als bestimmende, auch parallel auftretende Einflussfaktoren zu nennen. Zusätzlich kann man die unmittelbaren Auslöser für die Taten den komplexen Kategorien 1. materielle Drucksituationen der Eltern, 2. geschlechtsspezifische Problemlagen oder 3. nichtmaterielle Beweggründe wie Krankheiten zuordnen. Im ersten Kontakt der zuständigen Behörden mit den Findlingen sticht besonders die zentrale Bedeutung der Taufe hervor. Aufgrund einer lückenhaften Quellenlage gestaltet sich eine Nachverfolung des weiteren Lebenswegs der Kinder für den Historiker allerdings schwierig.

In der vierten und letzten Sektion wurden europäische Vergleichsperspektiven eröffnet, die die institutionellen Rahmenbedingungen für die Armenfürsorge, ihre Nutzung durch Bedürftige und die sich daraus ergebenden Lebenslaufperspektiven in ihrem jeweiligen geographischen Rahmen ins Zentrum der Betrachtung rückten.

Mit Inklusions- und Exklusionsprozessen in Bürgerspitälern des frühneuzeitlichen Niederösterreich beschäftigte sich der Beitrag von Martin SCHEUTZ (Wien). Am Beispiel der Organisation der Spitäler in den österreichischen Gemeinden Scheibbs und Zwettl und der an diese gerichteten Supplikationen, bzw. ihrer Bearbeitung konnte die in diesen Institutionen durchgeführte Aufnahme- und Abweisungspraxis verdeutlicht werden: Konfession und Bürger- bzw. Heimrecht galten als vorwiegende Entscheidungskriterien, daneben sicherlich auch das soziale Netz des Antragsstellers, was allerdings quellenbedingt kaum nachzuweisen ist. Die Aufnahmeregelungen in Zwettl im Verlauf des 17. Jahrhunderts verweisen darauf, dass das Bürgerspital immer stärker zur Versorgungsinstitution für Bürger wurde. Besonders wurde auf die Einflussnahme der Bürgergemeinde auf die Spitäler als bedeutende Wirtschafts- und Kapitalverwaltungsbetriebe der Kleinstädte hingewiesen: Mit dem Zugriff auf die Verteilungsmechanismen bezüglich der Spitals-Pfründe verfügte der jeweilige Stadtrat über ein differenziertes Herrschaftsmittel der Belohnung und Bestrafung, wodurch er seine Stellung wesentlich erhöhen konnte.

Norbert FRANZ (Trier) stellte in seinem Vortrag die "Anfänge städtischer Armenfürsorge in den südlichen Niederlanden am Beispiel der Stadt Luxemburg von der spanisch-habsburgischen Herrschaft bis zum Ende des Grand Empire" vor. Wie er betonte, kamen die wichtigsten Fürsorgeleistungen des Magistrats der Stadt, die in Form von Pflegschaften organisiert wurden, den Findel- und Waisenkindern zu, indem ihnen eine allgemeine und berufliche Ausbildung finanziert und gewährt wurde, was ihnen neue Lebenslaufperspektiven erschließen konnte. Dabei waren der Aufbau, die Ziele und die Dauer der schulischen Ausbildung den Bildungsidealen der Zeit entsprechend geschlechtsspezifisch verschieden gestaltet. Zum Ende des Ancien Régime vergrößerten sich die Zielgruppe und die aufgebrachten Aufwendungen für die städtische Armenversorgung zusehends: Wurden dabei Menschen mittleren Alters nach wie vor mit eher bescheidenen Unterstützungsmitteln bedacht, bezog die Luxemburger Stadtregierung in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts immer mehr Waisenkinder und auch alte Bedürftige in das Hilfssystem der Pflegschaften mit ein.

Auf der Basis der Ergebnisse aus einer umfassenden Auswertung von Armenbriefen ging Thomas SOKOLL (Hagen) in seinem Vortrag auf die "Verhandelte Armut: Mobilität, Selbstbehauptung und Kontrolle im englischen Armenrecht, 1780-1840" ein. Als traditionelle Rechtsgrundlage galt dort das "old poor law", das den Anspruch auf Armenhilfe mit der Gemeindeberechtigung ('settlement') verknüpfte. Bildeten die 'settlement laws' grundsätzlich Steuerungsmöglichkeiten der Migration und Mobilität, indem Niederlassung und Aufenthalt in einer Gemeinde an rechtliche Voraussetzungen geknüpft wurden, konnte dennoch von dieser Praxis abgewichen werden: Die obligatorische Abschiebung Auswärtiger kam nicht zur Anwendung, wenn die Gastgemeinde fremde Lohnarbeiter als "Konjunkturpuffer" benötigte. So gewonnenen Gastarbeitern wurde im eingetretenen Bedarfsfall durchaus auswärtige Armenunterstützung gewährt, die einen großen Anteil an der institutionellen Armenhilfe insgesamt ausmachte. Bot das so gestaltete System die Grundlage für eine diversifizierte Anwendung - bei verschiedenen Vor- und Nachteilkombinationen für die Beteiligten (Heimatgemeinde, Gastgemeinde, Armer) - stellten die gesetzlichen Regelungen in England im Unterschied zu anderen europäischen Vergleichsfällen eher den Rahmen für ein "offenes Spiel" mit Handlungsoptionen.

Besonders zur Frage nach den Zusammenhängen von Lebensalter, Armut und verschiedenen getroffenen Überlebensmaßnahmen konnte die Tagung interessante Perspektiven eröffnen und Lösungsansätze vorstellen. Konnten die Beiträge und die Diskussionen bereits Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Umgang mit Armut, mit den kommunalen und kirchlichen Versorgungsinstanzen sowie den Kriminalisierungsmaßnahmen aufzeigen - etwa bezüglich des Heimatprinzips, eines daraus resultierenden Einstellungswandels zur Mobilität, den Kriminalisierungsmaßnahmen oder der fehlgeschlagenen Disziplinierungsinstitution der Arbeitshäuser - sind nach wie vor bei diesen spezifischen Problemlagen in der historischen Forschung mit einer Perspektive "von unten" noch Desiderate aufzuzeigen. Die Abschlussdiskussion zeigte auf, dass gerade im Bereich der regionalen und europäischen Vergleichsmöglichkeiten von Armutskarrieren und Lebenslaufperspektiven noch Forschungsbedarf besteht. Ein weiterer, darüber hinaus weisender Ansatz könnte daneben in einer ausgeweiteten Erforschung des Gegensatzpaares Reichtum/Armut, der darin enthaltenen Relationen und Gegensätze und einer Gegenüberstellung von spezifischen Lebenslaufmustern bestehen. Auch sahen die Anwesenden noch deutliche Lücken hinsichtlich der gerade für die Frühe Neuzeit so wichtigen konfessionsspezifischen Besonderheiten vor allem bezüglich der Wahrnehmung der Armen, die von der historischen Forschung insgesamt noch stärker in den Blick genommen werden müsse. Eine Publikation der Tagungsergebnisse ist in Vorbereitung.