Multiethnische Großreiche im langen 19. Jahrhundert: Großbritannien, Habsburg, Rußland und Osmanisches Reich im Vergleich

Multiethnische Großreiche im langen 19. Jahrhundert: Großbritannien, Habsburg, Rußland und Osmanisches Reich im Vergleich

Organisatoren
Ulrike von Hirschhausen, Hamburg / Jörn Leonhard, Freiburg
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.01.2007 - 20.01.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Ricarda Vulpius, Berlin

Mitte Januar 2007 organisierten Ulrike von Hirschhausen und Jörn Leonhard eine erste Tagung zu ihrem von der Gerda-Henkel-Stiftung finanzierten und auf zwei bis drei Jahre angelegten Forschungsprojekt "Chancen und Krisen multiethnischer Großreiche: Großbritannien, Habsburg, Russland und Osmanisches Reich im 19. und frühen 20 Jahrhundert". Ziel der Tagung in der Hamburger Warburg-Bibliothek war es, anhand einer Mischung von vergleichend angelegten Beiträgen sowie Einzelstudien weiterführende Fragen und Kriterien für den systematischen Vergleich der vier Imperien herauszuarbeiten bzw. herauszufinden, wie tragfähig die bereits erarbeiteten Leitfragen für einen Vergleich sind. Nicht zuletzt diesem Charakter der Tagung als "work in progress" war es zu verdanken, dass sehr lebhafte und kontroverse Diskussionen die zwei Tage bestimmten, die immer wieder die Möglichkeiten und Grenzen des angestrebten Vergleichs ausloteten.

Ausgangspunkt des Projekts wie der Tagung war die Beobachtung, dass Imperien nicht länger nur unter dem Gesichtspunkt von "Rise and Fall" und damit unterschwellig mit der Frage zu betrachten sind, wann der Beginn ihres Niedergangs anzusetzen ist. Stattdessen sollten ihre Strukturen ins Zentrum des Interesses rücken, damit sie alle anhand der Frage untersucht werden können, die einst Paul Kennedy für das Britische Weltreich stellte: "Why did the British Empire last so long?"1 In diesem Sinne galt die Leitfrage der Tagung den Chancen und Grenzen des Integrationspotentials von Imperien angesichts der Herausforderung durch den Nationalstaat im langen 19. Jahrhundert. Die damit verbundene Gegenüberstellung von Imperium und Nationalstaat und die Frage nach den Kriterien ihrer Abgrenzung durchzog als roter Faden die ganze Tagung und löste bei den Teilnehmern immer wieder kontroverse Debatten aus.

In ihrer Einleitung zu Perspektiven und Erklärungsreichweite des Imperium-Vergleichs begründeten die Organisatoren die Auswahl ihrer vier Vergleichsobjekte mit dem Spektrum von Unterschiedlichkeit: Angefangen von den Herrschaftsformen über die jeweiligen Ausprägungen von Multiethnizität bis hin zu den verschiedenen Konfessionen und Religionen sowie deren Einsatz als Herrschafts- und Integrationsinstrumente böten Großbritannien, das Habsburger, das Russländische und das Osmanische Reich eine denkbar große Vielfalt. Ein zusätzlicher Reiz dieser Auswahl ergebe sich aus der Einbeziehung sowohl von See- und Landimperien als auch von west- und osteuropäischen Großreichen, die bisher kaum in einem systematischen Vergleich berücksichtigt wurden. Als „tertium comparationis“ definierten die Organisatoren die Multiethnizität dieser Reiche, die davon ausgehenden Integrationsprobleme sowie die mit diesen Problemen verbundenen Auseinandersetzungen mit dem Modell des Nationalstaats.

Die erste Sektion, die der Erschließung des imperialen Raums gewidmet war, eröffnete Frithjof Benjamin Schenk (München/St. Petersburg) mit Reflexionen über die Frage, inwieweit die Eisenbahn im Zarenreich als Instrument politischer Herrschaftssicherung diente. Schenk verwies auf die sehr ambivalenten Auswirkungen des Eisenbahnbaus. Einerseits habe die Regierung etwa das Schienennetz zum Transport von Truppen und Gefangenen nutzen können. Andererseits habe der Bau von Eisenbahnen das Russländische Reich mit Gefahren und Herausforderungen konfrontiert, die das Land eher destabilisierten. Dazu zählte Schenk die weitgehend vom Staat getragenen überbordenden Kosten, die angesichts der schieren Größe des Schienennetzes überforderte Administration, die Eisenbahn und die Gruppe der Eisenbahner als Kommunikationsmittel von Oppositionellen sowie Schienen und Eisenbahnzüge als Ziel terroristischer Anschläge. Schenk hinterfragte die Bedeutung des imperialen Charakters des Russländischen Reiches für Verkehrsplaner und –politiker und wies darauf hin, dass für die Suche nach Vorbildern oder für die Verortung internationaler Konkurrenz andere Kriterien eine wichtigere Rolle spielten.

Die Frage nach der Bedeutung imperialer Denkmuster beschäftigte auch Ulrike von Hirschhausen in ihrem Beitrag zum habsburgischen Projekt einer Sandschakbahn in Südosteuropa. Sie machte in ihren Quellen weniger "Verkehrsimperialismus" aus als vielmehr wirtschaftliche und militärische Motive, die vor allem das Ziel gehabt hätten, die Verteidigung des Habsburgerreiches zu stärken. Anhand von sechs Kriterien zum Vergleich infrastruktureller Raumerschließung arbeitete sie die Gründe heraus, warum der Bau der Transsibirischen Eisenbahn im Rußländischen Reich glückte, jener der Sandschakbahn im Habsburger Reich hingegen scheiterte. Den Hauptgrund für den Misserfolg des Habsburger Projekts sah von Hirschhausen darin, dass hier kein Staat, sondern ein komplexer Staatenverband der Initiator war. Hinzugekommen sei die Überlagerung politischer Interessen in dem zu erschließenden Raum, die im russischen Fall so nicht gegeben gewesen sei. Im Unterschied zum Russländischen Reich könne insofern für das Habsburger Reich festgehalten werden, dass bei den wenigen Projekten, denen imperiale Motive zu Grund gelegen hätten, "imperiales Wollen" nicht dem "imperialen Können" entsprochen habe.

In ihrem Vortrag über den Suez-Kanal als imperialem Verkehrsknotenpunkt stellte sich Valeska Huber (Konstanz/Harvard) die Frage, inwieweit es Großbritannien gelang, den Kanal als Verbindung zwischen Europa und Asien zu dominieren und diese Stellung gegen die Konkurrenz anderer Imperien zu behaupten. Sie kam zu dem Schluss, dass trotz der Inbesitznahme des Suez-Kanals als einem Ort auf der mentalen britischen Landkarte die britische Verfügungsmacht über den Kanal gewissen Einschränkungen unterworfen war. Zwar waren über zwei Drittel der kanalbefahrenden Fahrzeuge britische Schiffe, doch mussten auch die Briten den Regeln der internationalen Suezkanalgesellschaft nachkommen. Ähnlich wie zuvor Schenk in seinem Beitrag zum Eisenbahnbau im Zarenreich wies auch Huber auf die Ambivalenz von Infrastrukturen hin, die Herrschaftsverhältnisse sichern sollen. So zeigte sie mit Blick auf die Funktionstüchtigkeit und die Nutzungsformen des Kanals, wie leicht dieser "Highway of Empire" etwa durch Sabotage der Kohlelader gefährdet werden konnte.

Mehmet Hacisalihoglu (Istanbul) thematisierte den Eisenbahnbau im Osmanischen Reich und vervollständigte damit die Fallstudien zu den ähnlichen Projekten der drei Kontinentalreiche. Hacisalihoglu zeigte zum einen, welch großen Einfluss im Gegensatz zum russländischen Fall ausländische Mächte (Großbritannien, Frankreich) und Financiers (besonders die Deutsche Bank) bei der Planung des Eisenbahnbaus im Osmanischen Reich ausübten. Zum anderen wies er darauf hin, welch unterschiedliche Motive den Eisenbahnbau vorantrieben. So hätten Truppenlieferungen, Getreidetransporte und nicht zuletzt der Transport muslimischer Pilger nach Mekka eine maßgebliche Rolle gespielt. Damit habe sich der Sultan als Diener der heiligen Stätten präsentieren sowie gleichzeitig politisches Interesse an der Durchdringung des arabischen Raumes geltend machen können.

Mit einem Beitrag zur Bildung in der Habsburgermonarchie und im Zarenreich widmete sich Joachim von Puttkamer (Jena) einer anderen, aber nicht weniger bedeutsamen Form von Infrastruktur. Die Analyse des Schulwesens und die Suche nach dessen imperialen Integrationspotentialen- und grenzen ließen von Puttkamer einige grundlegende Prämissen der Tagungskonzeption in Frage stellen. Vor allem plädierte er dafür, Gesellschaft und Staat weniger dichotomisch zu sehen. Sowohl am Beispiel Ungarns und Cisleithaniens wie auch Russlands sei zu beobachten, dass gesellschaftliche Selbstorganisation nicht nur als Alternative zu staatlichen Integrationsimpulsen eines imperialen Zentrums zu verstehen sei. Vielmehr hätten die Regierungen beim Schulwesen den institutionellen Rahmen für Aktivitäten 'von unten' bereitgestellt. Innerhalb dieses Rahmens spielten sich im Habsburger Reich lokale Elitenkonflikte entlang nationaler Linien ab. Auch im Russländischen Reich wurde Schulpolitik seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend aus der Warte nationalstaatlicher Integration betrieben. Daher versprach sich von Puttkamer mit Blick auf das Schulwesen auch geringen analytischen Nutzen davon, Imperium und Nationalstaat voneinander abzugrenzen. Vielmehr sei es um die Frage nach Wegen in die moderne, durchstrukturierte Staatlichkeit gegangen.

Auch Stefan Berger (Manchester), der mit seinen konzeptionellen Überlegungen zu Imperien, Nationen und Regionen die zweite Sektion (Konstruktion imperialer Selbstbilder) einleitete, kritisierte die Gegenüberstellung von Imperium und Nationalstaat bzw. die landläufige Annahme, Imperien hätten sich gegen die Nationalstaatsbildungen gewehrt. Statt eines Gegensatzes seien weiche Grenzen zwischen beiden Phänomenen zu ziehen und der Blick für die miteinander konkurrierenden Prozesse zu schärfen, in denen Imperien sich nationalisiert hätten oder Nationalstaaten imperial geworden seien. Als analytisch fruchtbaren Rahmen für vergleichende Studien zwischen Imperien, Nationen und Regionen schlug Berger erstens die Ebene des "mental mapping" (kognitive Landkarten), zweitens jene der Elitenbildung und der Interaktion von Eliten, drittens des Transportes und der Kommunikation sowie viertens die Ebene sozio-ökonomischer Strukturen einschließlich der Migration vor.

Peter Haslinger (München) machte in seinem Beitrag zu State-building, dynastischer Repräsentation und nationalen Deutungsmustern in der Habsburgermonarchie deutlich, dass die Habsburger Monarchen zwar bis zum Ende des Reiches an einem imperialen Selbstverständnis festhielten, das sich vor allem in der Repräsentation niederschlug. Zugleich hätten jedoch weniger Aspekte imperialer Staatlichkeit im Vordergrund gestanden, als vielmehr ein Staatsaufbau ohne nationalen Anspruch. Das spätfeudale Repräsentationsrepertoire habe zudem zunehmend im Widerspruch zur Erweiterung und Ausdifferenzierung des politischen Raumes gestanden, in dem nationale Denkmuster und Selbstorganisationsformen immer stärker politische und sozio-ökonomische Realitäten bestimmt hätten. Im Einklang mit den Ausführungen von Puttkamers schloss Haslinger mit der These, dass das Habsburger Reich zwar im 18. Jahrhundert noch mit voller Berechtigung als Imperium zu bezeichnen sei, diese Charakteristik im 19. Jahrhundert jedoch nur mehr partiell zugetroffen habe.

Fikret Adanir (Bochum) setzte sich in seinem Vortrag mit der Frage auseinander, welche Rolle im Osmanischen Reich das Kalifat für das Sultanat spielte. Adanir wies darauf hin, dass die Überbetonung des islamischen Charakters des osmanischen Staatswesens zunächst vor allem der Orientvorstellung Westeuropas entsprang. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versuchten einige Sultane, das Kalifat sowohl als Instrument der innenpolitischen Integration zu nutzen als auch außenpolitisch die Verhandlungsposition gegenüber Ländern wie Großbritannien und Frankreich zu stärken, die mittlerweile Gebiete mit großen muslimischen Minderheiten annektiert und Angst vor der Ausrufung eines "Heiligen Islamischen Krieges" (Dschihad) hatten. Für das Osmanische Imperium wirkte die Instrumentalisierung des Kalifentitels des Sultans jedoch eher zersetzend. Die Araber im Reich konnten beispielsweise nicht akzeptieren, dass ein Nicht-Araber als Kalif fungieren sollte. Zudem musste sich der Islamismus als inkompatibel mit einem Imperium erweisen, in dem auch das Christentum eine große Rolle spielte.

In der dritten Sektion der Tagung, die ganz dem Thema Wehrpflicht und Dienst in den Armeen aller vier Großreiche gewidmet war, wies Jörn Leonhard auf die großen Unterschiede im Verhältnis der einzelnen Imperien zum Militär vor 1914 hin. Während der Wehrdienst und die multiethnische Armee im Habsburger Reich vom Anspruch her als wesentliche Klammer der Integration und des Zusammenhalts gedient habe, sei das nationalstaatliche Wehrpflichtmodell in Großbritannien erst 1916 eingeführt worden. Wo sich in der Habsburgermonarchie vor 1914 die zunehmende Kluft zwischen Integrationsanspruch und Wirklichkeit gezeigt habe, habe sich Großbritannien in erster Linie als "Naval Power" verstanden. Eine multiethnische Armee sei das britische Militär zunächst im Hinblick auf den traditionell hohen Anteil von Schotten und v.a. Iren gewesen. Erst der Burenkrieg habe in der Wahrnehmung der Beziehung zwischen Empire und Militär eine Wende eingeleitet und die Frage nach der Beteiligung indigener Völker neu aufgeworfen. Gleichzeitig machte Leonhard deutlich, dass die Vorstellung der „Nation in Waffen“ neben integrativer Wirkung auch desintegrative Folgen haben konnte. Diese hätten sich gerade in den Nationalstaaten Frankreich und Deutschland gezeigt, etwa in der Angst vor der Bewaffnung der Arbeiter durch die Einführung der Wehrpflicht.

Werner Benecke (Frankfurt/Oder) führte aus, dass die Integrationskraft der multiethnisch zusammengesetzten Armee im Russländischen Reich aus anderen Gründen nicht bedeutend gewesen sei. Die Dominanz ziviler Reforminteressen und vor allem die nach zivilen Kriterien erfolgende Auswahl der Wehrpflichtigen hätten dazu geführt, dass zu keinem Zeitpunkt mehr als 30 bis 35 % der demographischen Reserve tatsächlich mobilisiert worden seien. Zusätzlich zu den Faktoren des Familien- und Bildungsstandes, die maßgeblich die Frage klären sollten, wer einzuziehen sei, habe es zahlreiche Ausnahmemöglichkeiten gegeben, fähige und gesunde Männer des Reiches von der Armee fernzuhalten. Als Konsequenz sei die russische Armee 1914 die kränkste unter den europäischen Mächten gewesen. Aus diesem Grund sei die Integrationskraft der russländischen Armee eher gering ausgefallen, obgleich mit Ausnahme der Juden keine ethnische Gruppe diskriminiert worden sei.

Auch das Osmanische Reich, so Elke Hartmann (Berlin), habe in seinem Wehrgesetz von 1886 eine Reihe von Ausnahmen für die allgemeine Wehrpflicht vorgesehen, allerdings seien die ersten Jahrzehnte ohnehin nur Muslime eingezogen worden. Nicht-Muslime hätten bis zum neuen Wehrgesetz, das erst 1909/10 die Rekrutierung von Christen festgelegt habe, eine Wehrersatzsteuer zu zahlen gehabt. Die Einzugsquote habe zudem massiv unter dem fast nicht vorhandenen staatlichen Monopol in vielen Regionen Anatoliens gelitten. Der Zusammenhalt der Armee sei darüber hinaus aufgrund untereinander verfeindeter Gruppen im Offizierskorps und der Taktik des Sultans Abdul Hamid gering gewesen, diese Gruppen gegeneinander auszuspielen. Armenische Eliten hätten mit der Wehrpflicht ab 1909/10 die Hoffnung verbunden, ihre Loyalität gegenüber dem Osmanischen Reich beweisen sowie gleichzeitig das Recht erwerben zu können, bewaffnet und damit gegenüber Angriffen von Kurden gewappnet zu sein sowie durch gleiche Pflichten auch gleiche Rechte einfordern zu können. Diese Hoffnungen hätten sich bekanntermaßen nicht erfüllt.

Martin Zückert (München) entlarvte in seinem Beitrag die These, wonach die deutsch-österreichischen Soldaten im Ersten Weltkrieg von allen anderen Nationalitäten des Habsburger Reiches allein gelassen worden seien, als Legende der Erinnerungspolitik aus der Zeit nach 1918. Tatsächlich sei die Integrationskraft der habsburgischen Armee als eine alltagsprägende Kraft hoch gewesen, müsse jedoch mit Blick auf vor allem zwei Fragen differenziert betrachtet werden: das große Bindepotential der multiethnischen Armee bis 1914 sowie die fatale Auswirkung der Nationalitätenpolitik Wiens während des Ersten Weltkrieges auf den Armeezusammenhalt. Vor 1914 habe das Offizierskorps als "ethnisch blind" gegolten. Während des Weltkrieges habe die Armeeführung hingegen in Truppenorganisation und -verteilung ein permanentes Misstrauen gegenüber den Nationalitäten demonstriert und zusammen mit großen organisatorischen Defiziten zu Desintegrationstendenzen entscheidend selbst beigetragen. Auf diese Weise seien Zeichen nationaler Artikulation in der Armee häufig bloß eine Form des Protestes, nicht jedoch notwendigerweise mit weitreichenden nationalen Zielen verbunden gewesen.

In die Abschlussdiskussion brachten Jörn Leonhard und Ulrike von Hirschhausen vor allem zwei Erkenntnisse und Denkanstöße ein, die ihrer Ansicht nach aus den Diskussionen der Tagung resultierten. Sie erinnerten an ihre Ausgangsthese, wonach der erfolgreich homogenisierende Nationalstaat im langen 19. Jahrhundert handlungstreibende Kraft gewesen und als Gegensatz und Herausforderung für die Imperien aufzufassen sei. Die Tagung hätte jedoch zum einen deutlich gemacht, dass das Verhältnis zwischen Nationalstaat und Imperium weniger dichotomisch als vielmehr transfer- und beziehungsgeschichtlich gesehen werden müsse. So sei zwischen nationalisierenden Imperien und imperialisierenden Nationalstaaten zu unterscheiden. Zum anderen habe die Tagung die traditionelle Gegenüberstellung von Metropole und Peripherie sowie von "imperial" und "kolonial" in Frage gestellt. So mache das Beispiel der Ungarn deutlich, dass Vertreter dieser Ethnie sich einerseits gegenüber Wien als Objekt, andererseits gegenüber anderen Ethnien in der ungarischen Reichshälfte als imperiale Subjekte wahrgenommen hätten. Strukturell ähnliches ließe sich zu Irland sagen. Imperiale und koloniale Akteure seien daher nicht unbedingt als Gegensätze aufzufassen, vielmehr müsse das Spektrum situativer Selbsteinschätzung zwischen kolonialem und imperialem Handeln in den Blick genommen werden.

Die lebhafte Schlussdebatte griff vor allem die Frage auf, ob Nationalstaat und Imperium ausschließlich in ihrer Verflechtung und Überlagerung betrachtet werden sollten oder aber ob gewisse abgrenzende Kriterien für die Analyse unabdingbar sind. Stefan Berger betonte die Gefahr einer Typologisierung, bei der Grenzen in Aspekten aufrechterhalten würden, die gar keinen Sinn machten. Jörn Leonhard hingegen warnte vor einem völligen Verwischen der Unterschiede, verwies auf die Gefahr, dass sich andernfalls die Untersuchungsgegenstände verflüchtigten und plädierte entschieden dafür, komparative Differenzen mit relativ harten Kriterien aufrechtzuerhalten. Einig waren sich alle Teilnehmer in der Beobachtung, die Tagung habe gezeigt, dass man beim Versuch, die Imperien miteinander zu vergleichen, häufig auf Eigengesetzlichkeiten und damit die Notwendigkeit der Binnendifferenzierung gestoßen sei. Die Infrastrukturprojekte hätten sich insofern weniger für einen Vergleich der Imperien geeignet; bei der Wehrpflicht gab es mehr Ansätze, statistische Praktiken seien für einen Vergleich vielleicht besonders vielversprechend. Ohne dass ein Konsens in allen wichtigen Fragen erzielt worden wäre, verwies der Schluss der Tagung darauf, welche Wegstrecke zurückgelegt worden war: Fast alle zu Beginn geäußerten Prämissen waren im Verlauf modifiziert, Begriffe zumindest in ihrer Trennschärfe in Frage gestellt worden und neue fruchtbare und weiterführende Einschätzungen der Überlappung von imperialem und kolonialem Handeln entwickelt worden.

Anmerkung:
1 Kennedy, Paul, Why Did the British Empire Last so Long?, in: Ders.: Strategy and Diplomacy 1870-1945. Eight Studies, London 1983, S. 199-218.


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