Der Urmensch in der Wissenschaftskultur (II) Die Perspektive eines Teilnehmers.

Der Urmensch in der Wissenschaftskultur (II) Die Perspektive eines Teilnehmers.

Organisatoren
Sonderforschungsbereich 511 "Literatur und Anthropologie", Kulturwissenschaftliches Forschungskolleg "Norm und Symbol" an der Universität Konstanz
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.11.2002 -
Von
Jörg Wettlaufer, Kiel

Die Perspektive eines Teilnehmers

Die interdisziplinäre Tagung "Urmensch und Wissenschaftskultur. Konzeptionen und Funktionen des Urmenschen in den modernen Wissenschaften", die Fabio Crivellari, Bernhard Kleeberg und Tilmann Walter anläßlich des 70sten Geburtstags von Dieter Groh, des Konstanzer Emeritus für neuere Geschichte, vom 14. bis 17. November 2002 in Konstanz organisierten, war als eine Art "Sozialexperiment" geplant. Die Versuchspersonen, 21 Vortragende sowie eine Reihe von Gästen, waren aufgefordert, den schwierigen Dialog zwischen Geistes- und Naturwissenschaften wieder zu beleben, gegenseitig ihre Standpunkte auszutauschen und die teilweise recht unversöhnlichen Gräben, die sich zwischen den philosophisch orientierten Geisteswissenschaften und etwa der Humansoziobiologie auftun, im Dialog aufzuzeigen und vielleicht auch an der einen oder anderen Stelle zu überbrücken. Dabei fehlten aber auf der Gästeliste die eigentlichen "Hardliner" dieser beiden Pole, so daß die Diskussion nicht nur von allgemein gegenseitigem guten Willen, sondern auch von Rücksichtnahme und Verständnis für die Andersartigkeit des "Anderen" in besonderer Weise gekennzeichnet war. Man wollte sich nicht "weh tun", hörte teilweise staunend von den neuen Ergebnissen der Molekularbiologie und der diskursanalytisch geprägten Literaturwissenschaft und wunderte sich eigentlich permanent über die Wissenschaftskultur der jeweils "Anderen". Doch es gab auch viele verbindende Elemente zu entdecken.

Paläoanthropologen und Genetiker bemühten sich, gleich vorweg die ihrem Fach immanente Konstruktion von Vergangenem oder Gegenwärtigem zu betonen, während die Literaturwissenschaftler, Historiker und Soziologen sich mit Bekenntnissen zur Relevanz von naturwissenschaftlicher Methodik für ihre Arbeit zwar zurückhielten, aber doch an neuen naturwissenschaftlichen Ergebnissen sehr interessiert waren. Prinzipiell befinden sich, so der Eindruck, die Geisteswissenschaften im deutschsprachigen Raum immer noch im Kampf gegen Edward O. Wilsons feindlich-arroganten Übernahmeversuch, den man inzwischen de facto erfolgreich abgewehrt glaubt. Es geht dabei auch um das Abstecken der Claims. Welcher Bereich gehört wem - z.B. in der Forschungsförderung. Das Angebot der Naturwissenschaften an die Geisteswissenschaften - eine umgekehrte Bewegung existiert praktisch nicht - war und ist weiterhin ungebeten und endlich auch unerwünscht. Und dieses Angebot war sicher auch nicht selbstlos. Daß es bis zu einer "Einheit der Wissenschaftskulturen" - die keiner wirklich will, oder zumindest bis zum interdisziplinären Diskurs noch ein weiter Weg wäre, war in Konstanz deshalb allenthalben zu bemerken. Und doch gab dies dem "Sozialexperiment" vielleicht seinen besonderen Reiz.

Die beiden Eröffnungsvorträge hielten Friedemann Schrenk (Frankfurt) und Albrecht Koschorke (Konstanz). Der eine inszenierte den erkenntnistheoretisch offenen, didaktisch versierten Naturwissenschaftler, der auch einem Nicht-Fachpublikum seine Sicht der stammesgeschichtlichen Entwicklung vor allem der Australopithecinen ansprechend und mit den modernen multimedialen Mitteln präsentieren kann (Adams Eltern - neue Funde, Forschungen, Fragen). Der andere mimte dagegen den "klassischen Literaturwissenschaftler", der gar nicht auf die Idee verfallen könnte, Rousseau als Thema seines Vortrags für die Zuhörer historisch zu verorten, weil es schließlich zur Grundausstattung jedes irgendwie gebildeten Menschen gehören sollte, dessen ideengeschichtliche und historische Relevanz zu kennen (Vor der Gesellschaft. Das Anfangsproblem der Anthropologie). Koschorke konnte sich also gleich den Details zuwenden, ganz so, als ob der in Afrika knochensammelnde Paläoanthropologe oder der sequenzierende Molekularbiologe immer seinen Rousseau dabei hat, wenn er nach dem Urmenschen sucht. Größer hätte der "Clash of Cultures" zum Auftakt kaum sein können. Und er war ja auch beabsichtigt. Es war von den Veranstaltern geplant, durch eine solche paarweise Gegenüberstellung und gemeinsame Diskussion der inhaltlich aufeinander bezogenen oder verwandten Beiträge die interdisziplinäre Diskussion anzustoßen, zu provozieren. Dies gelang zwar nicht in allen Fällen, aber doch zumindest im Ansatz. Während sich die "Anderen" in den Diskussionsrunden nach den Vorträgen mit offener Kritik zurückhielten, wurde in den Pausen deutlicher gesprochen und auch manches Mißverständnis oder Vorurteil beseitigt, derer die gegenseitige Perzeption der Wissenschaftskulturen so reich ist.

Der Urmensch in der Wissenschaftskultur wurde in fünf Sektionen zerlegt, die sich ein wenig von den Naturwissenschaften hin zu den Kulturwissenschaften bewegten. Die Themen der Sektionen und die einzelnen Referate hat Bernhard Kleeberg vor einigen Tagen an dieser Stelle zusammengefaßt, so daß hier nicht auf jeden Beitrag erneut einzeln eingegangen werden soll. Besonders erwähnt sei hier nur der Beitrag des Züricher Ethnologen Jürg Helbing über Gewalt und vor allem "Krieg" in der Urgesellschaft anhand von ethnographischen Berichten über diese Phänomene in Wildbeutergesellschaften. Dabei kritisierte er soziobiologische und humanethologische Theorien über Gewalt und versuchte in Abgrenzung zu früheren Untersuchungen 1 ein differenzierteres Bild der Wahrscheinlichkeit kriegerischer Handlungen in frühen Gesellschaften zu zeichnen: Gewalt zwischen Individuen finde sich allerdings, so Helbing, in Wildbeutergesellschaften recht häufig. Wenn es zu kriegerischen Konflikten zwischen Gruppen komme, dann meist um Ressourcen. Typische Form von Konfliktlösung sei das Ausweichen, wenn genügend Platz hierfür vorhanden sei. In der anschließenden Diskussion verspürte Helbing allerdings selber eine gewisse argumentative Enge, die ihn zu der vielleicht deutlichsten Stellungsnahme der gesamten Tagung gegen die Erklärungsangebote einer evolutionär begründeten Verhaltensforschung bewegte - diese habe ihre Chance erhalten, aber keine brauchbaren Ergebnisse geliefert. Belege für diese Behauptung blieb Helbing allerdings schuldig. Der für diese Sektion ebenfalls geplante Vortrag des Primatologen Hartmut Rothe über "Machiavellistische Intelligenz bei Primaten: Sind die Sozialsysteme der Menschenaffen Modelle für die menschliche Urgesellschaft?" mußte leider entfallen; Winfried Henke, der Mainzer Paläoanthropologe und Schüler von Christian Vogel, dessen Ansätze einer evolutionären Anthropologie bis heute die deutschsprachige Humansoziobiologie prägen, übernahm jedoch kurzfristig das Referat und stellte einige Grundlinien des Sozialverhaltens der Primaten dar. Er diskutierte deren Beispielcharakter für Modelle des Verhaltens früher Menschen. Die besonders strittigen Fragen, z.B. bezüglich der Anwendbarkeit physiologischer Indikatoren für die Bestimmung eines "ursprünglichen" menschlichen Paarungssystems wurden jedoch weder im Ersatzvortrag, noch in der Diskussion thematisiert. Vielmehr verstärkte sich der, übrigens von allen Teilnehmern geteilte Eindruck der großen Plastizität menschlichen Sozialverhaltens, der auch für frühe Formen der Gattung homo postuliert werden muß. Den Abschluß der Tagung am Sonntag bildete die Verlesung des Referats von Martin Seel (Gießen) über den Nutzen und Nachteil einer evolutionären Ästhetik. Im Hintergrund dieses Beitrags stand ein, leider nicht bewilligtes, DFG-Projekt, das Seel zusammen mit dem derzeitigen Protagonisten der deutschen Humansoziobiologie, Eckart Voland (ebenfalls Gießen), zu eben dieser Frage durchführen wollte. Das Projekt sei allerdings mit der Begründung abgelehnt worden, Geisteswissenschaftler und Evolutionsbiologen hätten sich im Grunde nichts mehr zu sagen und ein solches gemeinsames Projekt sei daher von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Sowohl das Konstanzer Experiment als auch viele frühere Versuche eines Dialogs haben gezeigt, daß dem mitnichten so sein muß.2 Zwar zeigte auch die Diskussion um den Urmenschen in der Wissenschaftskultur mehr als deutlich, daß der Dialog alles andere als einfach zu führen ist und für alle Seiten erhebliche Anstrengungen und geistige Flexibilität erfordert, aber es liegt darin die Chance zur besseren Erkenntnis der menschlichen Kultur - und ihrer natürlichen Geschichte. Sebastian Linke meint in seinem Bericht der Konstanzer Tagung am Ende zu Recht, daß nur über Sozialexperimente wie in Konstanz das aneinander Vorbeireden abgelöst werden könne, welches bislang die Kommunikation zwischen Geistes- und Biowissenschaften allgemein zu kennzeichnen scheint.3 Es ist daher schon ein Fortschritt, dem Anderen zuzuhören, auch wenn es am Ende nicht leicht fällt, sich in die Weltsicht einer anderen Wissenschaftskultur hineinzuversetzen. Und es bedarf weiterer mutiger Experimente wie der Konstanzer Tagung, damit der Dialog wieder in Gang kommt und wir endlich klarer sehen, in welchem Maße menschliches Verhalten zwar plastisch, aber nicht beliebig ist.4 Für diesen Mut ist den Veranstaltern besonders zu danken.

Jörg Wettlaufer, Historisches Seminar der Univ. Kiel. JWettlaufer@email.uni-kiel.de

Anmerkungen:
1 Kelly, Raymond C., Warless societies and the origin of war, Ann Arbor 2000. Die Arbeiten von M. Daly & M. Wilson oder N. Chagnon wurden von Helbing direkt nicht erwähnt.
2 Vgl. Weingart, P. et al. (Hg.), Human by nature. Between Biology and the Social Sciences, Mahwah & London, 1997.
3 Linke, Sebastian, Interdisziplinäre Ursuppe. Die Tageszeitung, 06.12.2002, S. 14.
4 Siehe auch die Initiative "Menschliches Verhalten in evolutionärer Perspektive (MVE)", im Internet unter http://www.mve-liste.de zu erreichen.

Kontakt

Jörg Wettlaufer
<JWettlaufer@email.uni-kiel.de>

http://ikarus.pclab-phil.uni-kiel.de/daten/HistSem/resikom/RES IKOM.HTM