Methoden der Bildanalyse in den Sozial- und Geschichtswissenschaften

Methoden der Bildanalyse in den Sozial- und Geschichtswissenschaften

Organisatoren
SFB 485 der Universität Konstanz
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.01.2007 - 21.01.2007
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Von
Christiane Winkler, Centre for European Studies, University College London

Der Konstanzer Sonderforschungsbereich Norm und Symbol beschäftigt sich unter anderem mit der symbolischen Dimension sozialer und politischer Integration. Die Eigenlogik von Bildern und deren Möglichkeit der Sinnproduktion werden dabei als zentrale Aspekte in den Blick genommen und die Prägekraft von Bildern unter verschiedenen Fragestellungen untersucht. Drei Teilprojekte1 des SFB luden im Januar zu einem Workshop über Methoden der Bildanalyse in den Sozial- und Geschichtswissenschaften ein, mit dem Ziel, im interdisziplinären Austausch die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Bildanalyse auszuloten.

Im Einführungsvortrag wies Sven Reichardt (Konstanz) auf die Methodenvielfalt hin, die die Bildanalyse in den Sozial- und Geschichtswissenschaften kennzeichnet.2 Die große Chance der Untersuchung von Bildern und visuellen Medien sieht er insbesondere darin, das Spektrum der Erkenntnisse und Disziplinen um die gestaltende Kraft und die Wirkmächtigkeit von Bildern in Geschichte und Gesellschaft erweitern zu können. Sven Reichardts Überblick über unterschiedliche Herangehensweisen und methodische Annäherungen an Bilder verdeutlichte bereits, dass sich durch diese Blickfelderweiterung vielfältige methodische und forschungspraktische Fragen ergeben.

Zunächst stand die Fotografie im Zentrum des Workshops. Der Vortrag Andres Zervigóns (Rutgers University) führte in die 1920er Jahre und die Weimarer Fotografiekunst. Er stellte anhand verschiedener konkurrierender Künstler und Kunstrichtungen das Leitmotiv der Sichtbarmachung des Unsichtbaren durch die Fotografie und die Fotomontage dar. Zervigón interpretierte diese künstlerischen Ansätze und die Konkurrenz zwischen Vertretern des neuen Sehens (z.B. László Moholy-Nagy) und linker Kunstrichtungen vor dem Hintergrund eines wachsenden Mißtrauens gegenüber Bildern, die er als generelle Krise der Fotografie in der Weimarer Zeit verstand. Zu den linken Kunstrichtungen zählte er die Arbeiterfotografie der Zwischenkriegszeit oder die Arbeiten des linksradikalen John Heartfield, der in seinen Fotomontagen die Manipulationskraft von Fotografien und deren Nutzung für politische Zwecke aufdecken wollte. Zervigón bezeichnete seinen methodischen Zugang der Kontextualisierung von zeitgenössischer Fotografie bzw. Fotomontage mit den spezifischen historischen und politischen Hintergründen und Erfahrungswelten als Neo-Formalismus, mit dessen Hilfe er die Strukturen von Bildern, ihre Sinnstiftung und Semantik herauszuarbeiten sucht.

Jens Jäger (Köln) präsentierte in seinem Vortrag über Fotografiegeschichte(n) sowohl einen Problemaufriss der historischen Analyse von Fotografien als auch mögliche Lösungsstrategien. Nach einem Überblick über den Forschungsstand wandte sich Jäger der neuen Fotografiegeschichte zu, die hin- und hergerissen ist zwischen unterschiedlichen methodischen Ansätzen und einem breiten Theorieangebot. Methodische Schwierigkeiten ergeben sich beispielsweise daraus, dass Bildforschung oftmals nur als Oberbegriff dafür dient, das bereits vorhandene Wissen auf die zu untersuchende Fotografie zu übertragen und Bilder nur als Illustration bereits bestehender Thesen heranzuziehen. Dabei werden oft entweder die ästhetische Form und die Struktur oder der Kontext vernachlässigt. Im Vordergrund steht zudem meist die historische Analyse des Bildgegenstands, wohingegen das Medium selbst nicht als historischer Gegenstand thematisiert wird. Als Lösungsmöglichkeiten schlug Jäger vor, die Fotografie als Dispositiv zu verstehen, also nach Praktiken und Regeln der Nutzung einer Fotografie zu suchen, die Erwartungen an ein Bild und dessen Verarbeitung in der Gesellschaft zu analysieren und die Umstände zu betrachten, in denen ein Foto bestimmte Bedürfnisse bedient. Die Fotografie sollte zudem als Objekt behandelt, also in ihrer Materialität ernst genommen werden. Schließlich forderte Jäger dazu auf, ein größeres Augenmerk auf die soziale Rolle der Fotografie zu legen sowie herauszuarbeiten, welchen Stellenwert ein Bildmedium zu einer bestimmten Zeit hatte.

Der Medizinhistoriker Philipp Osten (Robert Bosch Institut für Geschichte der Medizin, Stuttgart) zeigte zunächst, welchen Stellenwert Bilder in der Medizingeschichte spielen. Er erklärte, dass sich die Geschichte der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte als eine Geschichte des Glaubens an Bilder deuten lässt. Am Beispiel einer Sammlung von teilweise publizierten Fotografien körperbehinderter Kinder des Berliner Oskar-Helene-Heimes verdeutlichte er deren Prägekraft für die Vorstellungen über körperbehinderte Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.3 Die Bearbeitung einer ganzen Sammlung erfordert verschiedene methodische Herangehensweisen. Über die Erfassung und quantitative Auswertung der Fotografien mit Hilfe einer Datenbank war es Philipp Osten beispielsweise möglich, bestimmte Zusammenhänge und Besonderheiten der einzelnen Fotografien zu erschließen. Die Bilder müssen jedoch nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ untersucht und kontextualisiert werden. Anhand einer Bildserie von drei gesund aussehenden und drei körperlich behinderten Kindern vollzog Philipp Osten den Weg einer Fotografie aus der Anstalt hinaus in die Öffentlichkeit. Im Kontext einer Ausstellung des Dresdner Hygienemuseums wurden diese Bilder als Anklage gegen die Versailler Verträge inszeniert. Damit konnte Philipp Osten aufzeigen, dass die von ihm analysierten Fotografien wenig über die abgebildeten Menschen, als vielmehr darüber etwas aussagen, welches Bild die jeweiligen Produzenten der Fotografien ihren Objekten zuwiesen.

Über Bilder der Gewalt sprach der Kunsthistoriker Godehard Janzing (Deutsches Historisches Museum, Berlin), wobei er die politische Ikonologie als methodischen Ansatz der Bildanalyse vorstellte.4 Anhand des visuellen Motivs des Fenstersturzes untersuchte er, in welcher Form und mit welchen Auswirkungen die Gewalt in den Bereich des Sichtbaren gerückt werden kann. Dem Fenstersturz maß Janzing insofern eine bedeutende Rolle bei, als er einerseits einen Akt der Delegitimierung bzw. Depersonifizierung darstellt und andererseits das offene Fenster einen bekannten Topos für Bildlichkeit, Sichtbarmachung und Schauen repräsentiert.5 Die Regeln und Muster der Sichtbarmachung von Gewalt demonstrierte er beispielhaft an verschiedenen Fotografien und Gemälden.6 Durch den diachronen Vergleich dieser Bilder und ihrer Kontexte zeigte er auf, wie die verschiedenen Funktionen der visuellen Präsentation und Repräsentation von Gewaltakten als Vermittler, Transformator und Akteur des Kriegsgeschehens fassbar werden. Problematisch erschien manchen Teilnehmern der Ansatz, aus den präsentierten Bildern eine ikonografische Reihe zu (re-)konstruieren, mit der die einzelnen Darstellungen des Sturzes trotz der Unterschiedlichkeit der ihnen jeweils zugrunde liegenden Gewaltakte zusammengeführt wurden.

Valentin Rauer (Konstanz) lenkte in seinem Vortrag zur piktorialen Entgrenzung die Aufmerksamkeit auf Grafiken, Schaubilder, Isotypen und Diagramme als Quellen, die er auf die symbolische Darstellung der statistischen Entwicklung der AIDS-Epidemie seit den 1980er Jahren hin untersuchte. Anhand der Analyse von im Spiegel und im Time Magazine_veröffentlichten Artikeln stellte er eine soziologische Methode vor, die inhaltsanalytisch quantifizierende Kategorisierungen mit einer seriellen Interpretation kombiniert. Ein wichtiges Strukturmerkmal der untersuchten Darstellungen der AIDS-Statistiken beschreibt er als zunehmende _Entgrenzung der Grafiken, die die alle Grenzen des Fassbaren sprengende Dramatik der Epidemie in ihrer zeitlichen und geografischen Verbreitung suggerieren. Ikonologisch sieht Rauer hierin den bildlichen Reflex der Entwicklung einer Meistererzählung, die sich von zeitlichen Epistemen hin zur Metapher der Globalisierung bewegt. Aus seiner inhaltsanalytisch-seriellen Interpretation erschloss er zudem die Funktionsweise einer – von ihm so bezeichneten – isotypischen Differenz7, die mittels rational statistischer Daten eine imaginäre Sinnstiftung über die abwesende Zeit und/oder den abwesenden Ort zu erzeugen vermag.

Skepsis über die gewinnbringende Nutzung von Bildern in den Sozial- und Geschichtswissenschaften äußerte Christian Janecke (Offenbach) zu Beginn seines Vortrags über pittoreskes Handeln. Handeln wird in einem Bild zumeist als retardiertes Handeln dargestellt, also an die Anforderungen des Mediums angepasst und damit um seine Zeitlichkeit und Zielorientiertheit gebracht. Ausgehend von diesem Befund fragte Janecke, ob es neben der bildlichen Darstellung von (retardiertem) Handeln eine Bildlichkeit des Handelns selbst gibt. Die Bildhaftigkeit des Handelns versuchte er über den Begriff der Ansichtsseitigkeit zu erfassen. Handelnde Menschen bieten sich für ihn immer auch als Bild dar, sie treten als optional Ansichtsseitige in Erscheinung.8 Auf Basis der Thesen Helmuth Plessners argumentierte Janecke für die Bildhaftigkeit von Handeln insofern, als der Handelnde als jemand gedacht wird, der einem ihm vorauslaufenden Bildentwurf von Handeln folgt und diesen Vorausentwurf durch sein Handeln wieder einholt. Handeln ist demnach in sich selbst bereits bildgeleitet und bildvorauswerfend. Seine Ausführungen verstand Janecke als Anregung für Historiker und Soziologen, sich zum einen bewusst zu machen, dass sie in Bildern meist handlungsretardierte Momente und kein konkretes Handeln vorfinden und zum anderen, dass neben Bildern, die Handeln begleiten, dem Handeln selbst ebenso Bildlichkeit zukommen kann.

Wenke Nitz (Konstanz) referierte über Porträts politischer Machthaber in deutschen Illustrierten und stellte erste, im Rahmen ihres Dissertationsprojektes gewonnene Erkenntnisse vor. Pressefotografien sind für Nitz dabei ein Instrument der politischen Inszenierung. Der von ihr angewandte methodische Ansatz gliedert sich in zwei Teile; zunächst geht es darum, das Bildmaterial durch das Aufstellen von Serien und die Untersuchung visueller Muster zu klassifizieren und die in den Bildern angesprochenen Themen zu kategorisieren. Daran schließt sich die Einbettung der Bilder in ihren diskursiven, institutionellen und kulturhistorischen Hintergrund an, um hier Indizien und Ikonotexte für die Interpretation zu finden. So sollen Fragen der Produktionsbedingungen der Bilder und des Verhältnisses von Bildern und Bildunterschriften beantwortet werden. Erkenntnisziel dieser Methode ist es, eine fotografische Kultur aufzuspüren, innerhalb derer Fotografien eine wesentliche Vermittlungsrolle für politische Inszenierungen einnehmen. Als konkretes Ergebnis ihrer bisherigen Forschung stellte Nitz heraus, dass die von ihr untersuchten Porträts deutliche gestalterische Traditionslinien über den Bruch von 1945 hinweg erkennen lassen. Der entscheidende Wandel der Politikinszenierungen findet erst – so die These – im Laufe der 1960er Jahre statt. In der Diskussion wurde angeregt, die von Nitz herausgearbeiteten Muster auch unter Rekurs auf andere Topoi und Modelle, beispielsweise aus der Malerei, zu interpretieren.

Den Abschluss des Workshops bildete der Vortrag des Soziologen Thomas Loer (Dortmund/Witten-Herdecke), in dem er ein Gemälde des lettischen Malers Eduard Kalninš beispielhaft analysierte.9 Gemäß Loers Bildverständis sind Bilder visuelles Ausdrucksmaterial oder Texte für den Sehsinn. Die Analyse eines Bildes und einzelner Bildelemente bedarf daher einer Würdigung ikonischer Prinzipien und Regeln, um Strukturmerkmale und Elemente des Bildes aufzuspüren. Die von Loer auf die Bildanalyse angewandte Methode ist die objektive Hermeneutik10, die durch Aufstellung einer Fallstrukturhypothese und den Versuchen einer Falsifikation dieser Hypothese einen Text zu erschließen sucht. Eine derartige Falsifikation kann beispielsweise durch die Kontrastierung eines gegebenen Bildtextes mit Variationen erfolgen, um so Eindrücke zu prüfen und falsifizierbar zu machen. Loers hermeneutische Methode, die dem kunsthistorischen (Vor-)Wissen des Betrachters sowie dem Wissen über den Produzenten des Bildes keine Bedeutung für die Bildanalyse zuschreibt, war bei den Teilnehmern des Workshops umstritten. Da in dem Vortrag der methodische Ansatz und die konkrete Vorgehensweise am Bild im Vordergrund standen, blieben Fragen über die Aussagekraft der präsentierten Bildanalyse bestehen.

Die lebhaften und auch in den Pausen weitergeführten Diskussionen der Vorträge zeigten, dass der Bedarf an interdisziplinärem Austausch durch den Workshop noch lange nicht gedeckt werden konnte. Gerade die unterschiedlichen Herangehensweisen und Erkenntnisinteressen machten den Workshop jedoch zu einer höchst anregenden Plattform, die den Referenten weiterführende Ideen für die eigene Forschung mit auf den Weg gegeben hat. Die einzelnen Beiträge und Methodenangebote haben gezeigt, dass insbesondere in der Kombination verschiedener Ansätze – seien es die politische Ikonologie, die historische Kontextualisierung, die Rekonstruktion ikonografischer Reihen, der Vergleich, die quantitative Erfassung, die objektive Hermeneutik oder die Kategorisierung und Codierung von Bildern – neue und interessante Denkanstöße liegen können. Auf dem Workshop wurde mehr als deutlich, dass die Analyse von Bildern in all ihrer methodischen Vielseitigkeit ein neues hermeneutisches Feld eröffnet, das die Möglichkeiten der Bedeutung und Interpretation zeitgenössischer Sinngebung erweitert und vertieft. Bedingt durch das Forschungsinteresse der Veranstalter blieb der thematische Fokus des Workshops – von einigen Querverweisen abgesehen – weitgehend auf die Zeitgeschichte beschränkt. Für den weiteren methodischen Austausch wäre es interessant, auch Historiker anderer Epochen und deren Umgang mit Bildquellen in die Diskussion einzubeziehen. Künftige Workshops zur Zeitgeschichtsforschung könnten dagegen durch die Hereinnahme weiterer Bildquellen wie z.B. Filme (bewegte Bilder) und der mit ihnen verbundenen Methoden profitieren. Dies gilt sicherlich auch für den Sonderfall des methodischen Umgangs mit manipulierten (Propaganda-)Bildern und dem weiten Feld der Bildfälschung.

Anmerkungen:
1 Es handelte sich dabei um die Teilprojekte Reichardt/Nitz Transformation von politischen Bildprogrammen in Diktatur und Demokratie, Giesen/Rauer Die rituelle Fassung des Unfassbaren sowie Soeffner/Müller/Sonnenmoser Serielle Produktion von Individualität. Siehe hierzu auch den Internetauftritt des SFB unter <www.uni-konstanz.de/FuF/sfb485/>.
2 Dazu und für einen Überblick über den Gebrauch von Bildern in den Geschichtswissenschaften siehe das Einführungskapitel von Gerhard Paul in: Gerhard Paul (Hrsg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006.
3 Der Vortrag von Philipp Osten basiert auf seiner Dissertation, die er im Rahmen des DFG-Projekts Patientenbilder anfertigte.
4 Godehard Janzing ist Mitarbeiter der am 26. Januar 2007 eröffneten Ausstellung Kunst und Propaganda im Deutschen Historischen Museum .
5 Das Motiv der finestra aperta wurde erstmals von Leon Battista Alberti beschrieben.
6 Seine Beispiele reichten von Kupferstichen zur Bartholomäusnacht über Pablo Picassos Gemälde Guernica bis hin zu einem fotografierten Fenstersturz in Ramallah im Jahr 2000 und einem Foto eines aus dem World Trade Center fallenden Menschen.
7 Dieser Begriff setzt sich zusammen aus Gottfried Boehms ikonischer Differenz und dem von Otto Neurath geprägten Begriff der Isotype.
8 Das Gegenteil von optional anssichtsseitig wäre eine triviale oder zwangsläufige Ansichtsseitigkeit, beispielsweise eines Schaufensters, eines Gemäldes oder auch einer Pizza.
9 Es handelt sich um das 1973 entstandene Gemälde Pie juras (By the Sea).
10 Siehe hierzu beispielsweise Oevermann, Ulrich; Allert, Tillmann; Konau, Elisabeth; Krambeck, Jürgen, Die Methodologie einer objektiven Hermeneutik und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften, in: Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.), Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Stuttgart, S. 352-433.


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