Die ungarische Revolution 1956: Kontext - Wirkung - Mythos

Die ungarische Revolution 1956: Kontext - Wirkung - Mythos

Organisatoren
Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF), Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Collegium Hungaricum Berlin, Bipolar deutsch-ungarische Kulturprojekte
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.10.2006 - 06.10.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Carsten Dippel, Potsdam

Im Morgengrauen des 4. November 1956 rollten sowjetische Panzer zum zweiten Mal nach Budapest. Dreizehn Tage lang hatten die ungarischen Revolutionäre siegestrunken von einer besseren Zukunft geträumt, bis ihre Hoffnung auf Freiheit durch Moskaus harte Hand jäh zerstört wurde. Tausende verloren ihr Leben, Hunderttausende emigrierten und eine massive Repressionswelle erfasste unter dem Kádár-Regime das ganze Land. Die ungarische Revolution von 1956 zählt zu den einschneidendsten Ereignissen im Nachkriegseuropa und reiht sich ein in die Geschichte der gewaltsam niedergeschlagenen Massenproteste im Ostblock, die vom 17. Juni 1953, über den Prager Frühling 1968 bis zu den Unruhen nach der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc in Polen 1980/81 reichten und die erst 1989/90 mit dem Zusammenbruch des Kommunismus einen Erfolg davontrugen. Bis heute führt die Frage nach dem Stellenwert des Ungarn-Aufstandes in der europäischen Erinnerungskultur zu heftigen Kontroversen.

Die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Aufstandes wurden von zahlreichen Veranstaltungen und Tagungen begleitet. Zur zentralen internationalen wissenschaftlichen Konferenz luden vom 4.–6. Oktober 2006 das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) gemeinsam mit der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und dem Collegium Hungaricum Berlin sowie in Kooperation mit Bipolar deutsch-ungarische Kulturprojekte ein internationales Fachpublikum nach Berlin ein.

Eröffnet wurde die Konferenz mit einer abendlichen Podiumsdiskussion in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Zur visuellen Einstimmung wurden Ausschnitte eines US-amerikanischen Dokumentarfilms aus dem Jahre 1958 gezeigt, der in dramatischen Bildern die Tragödie zu fassen suchte und mit seiner Botschaft vom heroisch kämpfenden, doch tragisch gescheiterten Volk der Ungarn selbst ein beredtes Zeitdokument darstellte. Martin Sabrow, als Direktor des ZZF zugleich Gastgeber der Konferenz, steckte in seiner Eröffnungsrede entlang des Mottos „Kontext – Wirkung – Mythen“ den konzeptionellen Rahmen für die wissenschaftliche Tagung ab, bei der die politikgeschichtliche Perspektive auf die Ereignisse durch sozial- und kulturwissenschaftliche Ansätze erweitert werden sollte. Neben dem aktuellen Stand der Forschung wollte man neue Ergebnisse zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Aufstandes vorstellen. Dazu galt es auch, den Kontext der Revolution und die Wechselwirkungen der verschiedenen Krisensituationen im Ostblock auszuleuchten. Entscheidend sei nicht zuletzt die Frage, welchen Platz der Aufstand in der europäischen Erinnerungslandschaft einnehme.

Über die „Schwierigkeiten Revolutionen zu erinnern“ diskutierten anschließend, moderiert von der Feuilletonredakteurin der Süddeutschen Zeitung, Franziska Augstein, der Publizist Gerd Koenen, der nach dem Aufstand nach Frankreich emigrierte Journalist und Soziologe Péter Kende sowie der Polityka-Redakteur und Publizist Adam Krzeminski, zugleich Vorsitzender der deutsch-polnischen Gesellschaft. Kende wies auf die Gespaltenheit der ungarischen Gesellschaft hin, die bis in die heutige Zeit anhalte, wie die jüngsten Ereignisse in Budapest eindrücklich dokumentierten. Doch schon in den Tagen des Aufstandes habe es keine einheitliche, identische Ziele verfolgende Volksbewegung gegeben. „Es waren“, erinnerte sich der Augenzeuge Kende, „so viele Revolutionen wie Leute auf der Straße“. Krzeminski unterstrich aus polnischer Perspektive die enge Beziehung zwischen den Ereignissen in Posen und Budapest. Polen habe Signalwirkung besessen, weil man dort gezeigt habe, dass – nach der Abrechnung Chruschtschows mit Stalin – Veränderungen möglich sind. Die Aufstandsbewegungen im Kommunismus sieht Krzeminski daher in Form einer mehrfach gerissenen Kette miteinander verknüpft. Für die westliche Linke sei der Aufstand in Ungarn hingegen eine „gespaltene Geschichte“ gewesen, bemerkte Koenen. Für manche ein Schock, für andere ein Grund, sich vom grauen Ostblock ab- und der ‚Sonne der Revolution’ in China und Cuba zuzuwenden. Im Grunde habe sich die Haltung der Linken nicht wesentlich von der der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft unterschieden, die zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen sei, als dass sie viel Sympathie für Aufständische hinter dem Eisernen Vorhang hätte hegen können.

Am ersten Plenumstag in der Französischen Friedrichstadtkirche leuchteten zum Einstieg János M. Rainer, Direktor des Budapester 56er Instituts und Wolfgang Eichwede (Bremen) den Kontext der gescheiterten Revolution aus. Rainer zeichnete in seinem Beitrag zur Historiographie der Revolution nach 1989 ein leicht pessimistisches Bild. Die Erinnerung an 1956 habe zwar eine Schlüsselrolle im Systemwechsel von 1989 eingenommen und vor allem den Akteuren dieses Epochenumbruchs als Legitimationsgrundlage gedient. Der Streit um die Bewertung der Revolution spalte Ungarn jedoch bis heute. Rainer sieht die Hauptproblematik von 1956 in der Verortung des historischen Ereignisses selbst und stellt die zentrale Frage nach dem Wesen des Aufstandes. Obwohl er die „radikalste Rebellion gegen das Sowjet-System überhaupt“ gewesen sei, wäre auf längere Sicht der Radikalismus der ungarischen Gesellschaft demobilisiert worden. Letztlich habe das Kádár-Regime nicht nur die Idee der sozialistischen Utopie eines dritten Weges zerstört, sondern die „moralische Wiedergeburt der ungarischen Gesellschaft unter sich begraben“. Die „Ungarische Revolution blieb für immer“, so sein Fazit, „eine offene Geschichte, mit der jeder sein eigenes Weltbild rechtfertigen konnte“.

Wolfgang Eichwede fragte anschließend nach den Handlungsmotiven der beiden Supermächte im Herbst 1956, nicht zuletzt im Kontext des Suez-Krieges. Die amerikanische Position bringt für ihn die achselzuckende Frage Eisenhowers auf den Punkt: What can we do? Osteuropa sollte destabilisiert werden, aber ohne ein allzu großes Risiko einzugehen. Ohne Zweifel waren durch die Demontage Stalins auf dem XX. Parteitag der KPdSU gewaltige Veränderungen im Gang, doch auch das Konzept einer liberation policy stieß unter den Gegebenheiten des Kalten Krieges an seine Grenzen. Das „Herausbrechen“ eines Satelliten aus dem sowjetischen Machtblock schien kaum möglich. Die sowjetische Seite hätte insofern die amerikanische Haltung richtig eingeschätzt, als dass ihr Einschreiten in Ungarn im Angesicht der westlichen „Blamage“ im Suezkrieg zumindest toleriert würde. Bis heute nicht ganz geklärt ist in diesem Zusammenhang die Rolle von Radio Free Europe (RFE), die Richard Cummings (Düsseldorf), ehemaliger Director of Security des in München residierenden US-Senders, zu erhellen versuchte. Er machte deutlich, mit welchem Einsatz man, z.B. durch spektakuläre Ballonaktionen, Informationen nach Ungarn schleuste, Aktionen, deren Wirkung unter dem Dröhnen sowjetischer Panzer letztlich jedoch verpuffen mussten.

Medien spielten für die Dynamik dieser Revolution hinter dem Eisernen Vorhang eine wichtige Rolle. Burghard Ciesla (Berlin) zeigte am Beispiel von Lothar Loewe und Erich Lessing, welche Herausforderung der Aufstand von 1956 für die Medienberichterstattung darstellte. Die von ihm präsentierten Videosequenzen mit beiden Zeitzeugen riefen die oft abenteuerlichen Bedingungen in Erinnerung, unter denen die Journalisten 1956 in Budapest arbeiteten. Vielfach improvisiert, getragen vom Hören-Sagen und oft eher zufällig an die Brennpunkte des Geschehens gespült, entstanden Kommentare und Bilder, die der Welt jenes eindringliche Panorama vom Aufstand in Ungarn nahebrachten. Immer wieder diskutiert wird bis heute die Frage, in welchem Maße westliche Medien, v.a. RFE, den Ungarn Hilfe versprachen. Im Plenum wurde jedoch darauf verwiesen, dass es viel entscheidender sei, was die Zuhörer von RFE und anderen westlichen Medien verstehen wollten. Im übrigen habe die Legende von der „ausgebliebenen Hilfe“ letztlich auch einen Erklärungsansatz für die eigene Niederlage geboten.

Andreas Oplatka (Zürich) erinnerte schließlich daran, wie wichtig kleine Details für ein ausgewogenes Bild von historisch einschneidenden Ereignissen sind. Aus Ungarn stammend, zog er als außenpolitischer Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung 1989/90 durch Osteuropa und wurde so Augenzeuge jenes dramatischen Umbruchs. Diesen zu begreifen wäre ohne profundes historisches Wissen ebensowenig möglich, wie es der Historiker sich leisten könnte, auf die geschärften Augen und Ohren des Journalisten für seine Betrachtung von Geschichte zu verzichten.

Im dritten Schwerpunkt wurden Auswirkungen und Folgen der Revolution behandelt. Krisztián Ungváry (Budapest) berichtete davon, wie sich in den kommunistischen Narrativen der Aufstand als „faschistische Konterrevolution“ einordnete, in eine direkte Linie gestellt mit 1920 und 1944 und so ein Dogma entstand, welches die Gesellschaft bis heute vergifte. Tatsächlich, so Ungváry, waren in der 56er Revolution ehemalige Pfeilkreuzler oder Anhänger des Horthy-Regimes so gut wie nicht präsent, was das Kádár-Regime gleichwohl nicht davon abhielt, Beteiligte der Revolution unter den Generalverdacht faschistischer Aktivitäten zu stellen und abzuurteilen. Ungváry verwies dabei auch auf ein erhebliches Desiderat in der Forschung zur nachrevolutionären Repression unter Kádár. Lukasz Kaminski (Wroclaw) rief dazu noch einmal das zweite Revolutionsland von 1956 in Erinnerung, indem er auf die Reaktionen der polnischen Kommunisten auf die Krisen von 1956–1980 in ihrem Land einging. Dass Frauen unter den ungarischen Migranten auf ganz spezielle Schwierigkeiten bei der Integration in eine neue Heimat stießen, zeigten die Ergebnisse einer von Andrea Petö (Budapest) vorgestellten Studie.

In Rumänien als Land mit einer großen ungarischen Minderheit und als Ort der Verschleppung von Imre Nagy führten die Vorgänge in Ungarn zu besonderer Nervosität unter der kommunistischen Parteiführung. Mariana Hausleitner (München) legte dar, wie die rumänische KP es erfolgreich verstand, einen nationalistisch betonten Anti-Ungarneffekt zu schüren und so aufflammende Proteste unter Studenten, im Militär und in der Kirche frühzeitig ersticken konnte. Auf besondere Weise von der ungarischen Tragödie betroffen war auch das eben erst in die Neutralität entlassene Österreich. Bela Rasky (Budapest) informierte über eine derzeit in Wien laufende Ausstellung zu den Ungarnflüchtlingen in Österreich. Bis heute werde in Österreich der Mythos gepflegt, mit der Aufnahme der mehr als 180.000 Flüchtlinge habe das Land eine besondere Integrationsleistung vollbracht. Dabei bliebe jedoch völlig ausgeblendet, dass die übergroße Mehrheit der Flüchtlinge in andere Länder weiterzog und die in der Alpenrepublik Gebliebenen bei ihrer Eingliederung in die Gesellschaft auf erhebliche Probleme stießen. Bemerkenswert sei, dass heute die meisten Flüchtlinge nicht ihre Erfahrungen in Ungarn vor 1956, sondern ausschließlich ihr Leben in Österreich thematisierten. Patrice Poutrus (Potsdam) verwies dabei auf das ambivalente Verhalten der Sowjets, die die Flucht zwar zu erschweren, nicht aber grundsätzlich zu verhindern suchten. Dass die noch junge Bundesrepublik unter Adenauer letztlich 15.000 Ungarnflüchtlinge aufgenommen hat, sieht Poutrus vor allem dem Druck der westdeutschen Öffentlichkeit, insbesondere der Vertriebenenverbände geschuldet. Die eigentliche Abwehrhaltung der Politik sei angesichts der „Strahlkraft“ der Ereignisse nicht aufrechtzuerhalten gewesen. Kornél Zipernovsky (Wien) berichtete schließlich von einem erfolgreichen Integrationsprojekt: Die Philharmonica Hungarica, ein aus 56er Exilanten zusammengestelltes renommiertes Orchester, fand im bundesrepublikanischen Marl für mehr als vier Jahrzehnte eine Heimat.

Am Abend stellte János M. Rainer im Gespräch mit Andreas Oplatka in der Ungarischen Botschaft seine vielbeachtete und nun erstmals auf Deutsch vorliegende Biographie über Imre Nagy vor. Beim anschließenden Empfang wurde zugleich eine Fotoausstellung eröffnet, die in eindrücklichen Bildern von der Ankunft der ungarischen Flüchtlinge im österreichischen Burgenland erzählt.

Das Vormittagsplenum des zweiten Konferenztages widmete sich der Zeit nach dem Aufstand. Jürgen Danyel (Potsdam) schilderte den letztlich zur Posse geratenen Plan einiger DDR-Intellektueller zur „Rettung“ ihres ungarischen Mentors, Georg Lukács, der 1956 eine wichtige Rolle in den Debatten des Petöfi-Kreises spielte und als Bildungsminister in die Regierung von Imre Nagy eintrat. Von Lukacs, der in der DDR besonderes Ansehen genoss, gingen wichtige Impulse für die Reformdiskussion im Umfeld des Aufbau-Verlages aus. Als sich die Lage in Ungarn zuspitzte, hätten Anna Seghers, Johannes R. Becher und der später verhaftete Wolfgang Harich jedoch eine völlige Fehleinschätzung der Entwicklung offenbart und die offzielle ostdeutsche Deutung der Ereignisse als Konterrevolution übernommen. Oldrich Tuma (Prag) betonte in seinem Vergleich von 1956 und Prager Frühling, wie die Erfahrung in Ungarn das Handeln der Sowjets in Prag, vor allem hinsichtlich ihres militärischen Vorgehens, beeinflusste. Letztlich seien die kommunistischen Regime 1953, 1956 und 1968 weder zu stürzen noch zu reformieren gewesen. André Steiner (Potsdam) interessierte die Frage, ob die als „Gulaschkommunismus“ bezeichnete Konsumpolitik Kádárs tatsächlich auf einem Konzept basierte und verwies auf die Paradoxie der Ungarn bis 1989 prägenden Mischform aus prosperierender Privat- und stagnierender Staatswirtschaft.

Obwohl die brutale Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes in der europäischen Linken nach der Geheimrede Chruschtschows einen weiteren Schock auslöste, blieb ihre Einstellung gegenüber den kommunistischen Diktaturen äußerst ambivalent, wie in den Beiträgen von Manfred Wilke (Berlin), Ulrike Ackermann (Frankfurt/Main) und Federigo Argentieri (Rom) deutlich wurde. Und doch, das zeigten die Beispiele Deutschland und Frankreich, haben Exilanten den Diskurs in erheblichem Maße beeinflusst. Immerhin gab es breit organisierte Protestkundgebungen und intellektuelle Zirkel, wie den Kongress für kulturelle Freiheit in Frankreich, die mit den Aufständischen sympathisierten. Eine dezidiert antitotalitäre Haltung blieb dennoch, so Ackermann, eine Minderheitenposition in Westeuropa und diesbezügliche Wahrnehmungsblockaden wirkten bis heute. Es sei daher dringend geboten, die Aufstände im Ostblock von 1953 bis 1989 als Ausdruck einer antitotalitären Tradition in Europa zu begreifen.

Über die Macht der Bilder, die Wirkung von Mahnmalen und die Rezeption des Aufstandes in Literatur und Film sprachen anschließend Werner Schwarz (Wien), György Fehéri (Berlin) sowie Andrea Genest (Potsdam). Schwarz, beteiligt an der bereits erwähnten Ausstellung im Wien-Museum, verwies anhand ausgewählter Fotos auf die mediale Wirkung von bewusst emotionalisierenden Bildinszenierungen: Viele inzwischen zu Ikonen des Aufstandes avancierte Bilder zeigen Liebende mit einem Gewehr in der Hand oder Frauen mit ihren Kindern als Flüchtlinge. In der Realität von 1956 stellten jedoch überwiegend junge Männer die Flüchtlinge. Fehéri sieht in dem Herausreißen der Bilder von 1956 aus ihrem Kontext einen Indikator für schwere Versäumnisse in der Erinnerungskultur. Zugleich betonte er, wie trotz des auferlegten Tabus die Erinnerung an 1956 die ungarische Gesellschaft geprägt habe. Genest zeigte schließlich anhand der Mahnmalspolitik Unterschiede im Umgang mit der Erinnerung an 1956 in Ungarn und Polen auf.

Das abschließende von Bernd Faulenbach (Bochum) moderierte Plenum widmete sich noch einmal den Fragen der Erinnerungskultur und -politik, um damit den Faden zum eingangs gestellten Konferenzmotto aufzunehmen. Besonders kontrovers diskutiert wurden die Äußerungen von Mária Schmidt, Direktorin des Budapester Hauses des Terrors (Terror Háza) und zweier Institute für das 20. und 21. Jahrhundert. In ihrem emotionalen Vortrag kritisierte sie die Vereinnahmung von 1956 durch die ungarischen Postkommunisten und sah im Ungarn-Aufstand einen Freiheitskampf gegen kommunistische Unterdrückung und zur Etablierung einer bürgerlich-parlamentarischen Ordnung, ganz im Sinne einer, wie sie forderte, „gesunden Erinnerung“ an 1956. Auf Irritation stießen dabei missverständlich gewählte Begriffe, etwa der der „asiatischen Brutalität“, mit dem sie den Rachefeldzug Kádárs und der Sowjets charakterisierte. Schmidts Darstellungen gaben damit selbst einen Eindruck von den Spannungen und Untiefen im ungarischen Vergangenheitsdiskurs. Stefan Troebst (Leipzig) knüpfte schließlich an die eingangs von Martin Sabrow aufgeworfene Frage an, ob nicht gerade die öffentliche Beschäftigung mit der Revolution in Ungarn einen Ausweg aus der „Rivalität von Holocaust- und Gulag-Erinnerung“ weisen könne. Vielleicht fände man, so Sabrow, auf diese Weise zu einem europäischen Erinnerungsrahmen, der „ohne Hierarchisierung anzustreben verschiedene Erinnerungsimperative nebeneinander gelten lasse“. Troebst zeichnete eine scharfe Konfliktlinie zwischen dem „alten Europa“ mit seiner zum „erinnerungskulturellen Gründungsmythos und Grundkonsens“ gewordenen Holocaust-Erinnerung einerseits und der das „neue Europa“ bestimmenden Gulag-Erinnerung andererseits. Nur ganz allmählich näherten sich hier die unterschiedlichen Positionen einander an. Den eigentlichen „Memorialkonflikt“ sieht Troebst jedoch weit mehr im innerosteuropäisch geführten Vergangenheitsdiskurs. Hier stünden sich eine „imperial geprägte postsowjetische Erinnerungskultur“ und eine „widerständisch-ostmitteleuropäische Gedächtnislandschaft“ noch immer unvereinbar gegenüber. Im „dramatischen Erinnerungsbruch von 1956“ sieht er einen „point of no return“ in der Geschichte des Sowjet-Kommunismus. Troebst verwies damit auf eine in Osteuropa vorherrschende Dominanz von 1956 über 1989. So firmiere im „Extremfall“ der ungarischen Perspektive auf 1956 die Revolution als eigentliche „Geburtsstunde ungarischer Demokratie“, neben der die Erinnerung an 1989 weitgehend verblasse.

Bernd Faulenbach gemahnte abschließend noch einmal, in die Betrachtung von 1956 den Kontext der Zeit vor 1945 mit einzubeziehen. Interessanterweise war es die Frage nach der Rivalität zwischen den europäischen Erinnerungsdiskursen über die beiden Totalitarismen im 20. Jahrhundert, die einen Bogen über die gesamte Konferenz schlug. „Wir brauchen“, so Faulenbachs Appell, „das Bewusstsein für eine europäische Freiheitstradition“. Die Revolution in Ungarn 1956 gehöre unbedingt dazu.

Insgesamt waren, von einzelnen Aspekten abgesehen, neue, brisante Fakten angesichts der guten Forschungslage kaum zu erwarten. Interessant machten die Konferenz aber die unterschiedlich gewählten Perspektiven auf 1956, die ein vielstimmiges Bild der Revolution und ihrer Wirkungsgeschichte ergaben. Dass leidenschaftliche Debatten dabei jedoch eher die Ausnahme bildeten, lag wohl nicht zuletzt an einem äußerst dicht gedrängten Tagungsprogramm.


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