Träume im kolonialen Lateinamerika – Sueños en la América colonial

Träume im kolonialen Lateinamerika – Sueños en la América colonial

Organisatoren
Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt (FGE)
Ort
Gotha
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.10.2006 - 29.10.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Christopher Wertz, Erfurt / Buenos Aires

Dass die Menschen in allen Kulturen träumen, dies war Philipp Melanchthon eine Gewissheit. So jedenfalls hielt er es in seinem einleitenden Kommentar des Traumbuches Artemidors fest, das im 16. und 17. Jahrhundert einige Auflagen erlebte. Doch ist man der Frage, wie man in anderen Kulturkreisen mit den im Traum geoffenbarten Botschaften umging, bislang nur sporadisch nachgegangen.

Dass der Traum als politisches Instrument oder als Medium zur Verbalisierung gesellschaftlicher Visionen beileibe kein ausschließlich europäisches Phänomen war, stellte die vom 27. bis zum 29. Oktober 2006 vom Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt (FGE) veranstaltete Tagung „Träume im kolonialen Lateinamerika – Sueños en la América colonial“ ausdrücklich heraus. Nachdem GREGOR WEBER (Universität Augsburg) und PEER SCHMIDT (Universität Erfurt) bereits im Jahr 2005 eine Konferenz zum Traumphänomen im europäischen Barockzeitalter veranstaltet hatten, wurde nun auf der in Zusammenarbeit mit SONIA ROSE (Université Paris-Sorbonne) organisierten Tagung auf dem Gothaer Schloss Friedenstein der Betrachtungsraum erweitert und die historische Traumproblematik im atlantischen Rahmen situiert. Konkretes Ziel jener von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Veranstaltung war es dabei, die Relevanz von Träumen in den kolonialen Gesellschaften Lateinamerikas als Deutungsmuster politischer und religiöser Kollektive zu untersuchen. Eine übergeordnete Leitschnur bildete zum einen die Frage, ob die sich wandelnden Bedeutungen des Traums als Indiz eines allmählichen soziokulturellen Prozesses im Sinne von Individualisierungs- und Rationalisierungstendenzen zu deuten sind. Besonderes Augenmerk sollte zum anderen aber dem Kulturtransfer gewidmet werden, durch welchen es im kolonialen Lateinamerika zur Aneignung graeco-latinischer Traumtraditionen kam, die in Verbindung mit genuin amerikanischen Elementen eine kreolisch hybride Traumkultur entstehen ließ. Der aus den beiden Amerikas und Europa stammende, interdisziplinär arbeitende Kreis der Tagungsteilnehmer konnte in diesem Sinne zeigen, dass Träume und Trauminterpretationen in vielfältiger Weise – religiös wie politisch-sozial, literarisch-ästhetisch wie physisch-medizinisch – auf die kolonialen Eliten Einfluss nahmen bzw., dass diese Eliten Träume und deren Deutungen in einer Vielzahl unterschiedlicher Verschriftlichungsformen medial instrumentalisierten: als Möglichkeit zur Prophezeiung ebenso wie als Repräsentations- und Erklärungsmöglichkeit eines Weltbildes, als Legitimation des Handelns, Herrschens, Kolonisierens ebenso wie als Interpretation kollektiver und zunehmend auch individueller – religiöser, politischer und sozialer – Erfahrungen, aber auch als Möglichkeit, besondere spirituelle Fähigkeiten darzustellen oder, um mittels des unanfechtbaren, weil halbfiktionalen Mediums Traum Obrigkeitskritik zu äußern oder Forderungen vorzubringen.

NIKOLAI GRUBE (Universität Bonn) eröffnete die Tagung mit seinem Vortrag über Tradición y función del sueño en las culturas mesoamericanas. Grube führte zunächst allgemein in die Problematik ein und zeigte auf, wie sich in der westlichen Welt seit dem 17.Jahrhundert eine trennende Dichotomisierung zwischen den Bewusstseinsebenen Realität und Traum etablierte – eine Unterscheidung, die gleichsam eine Differenz zwischen aufgeklärter Zivilisation und unterentwickelten Völkern insinuierte. Grube hob hervor, dass nicht erst die modernen Neurowissenschaften eine solche Ebenentrennung ablehnen, sondern dass solche ebenso wenig bei vielen indigenen Bevölkerungen Südamerikas existierte. Schlaf und Wachbewusstsein wurden nicht als Gegensatzpaare verstanden. Die Trance, als Schwebezustand zwischen jenen Extremen, galt etwa als bewusstseinserweiternde Entselbstung mit visionärem Potenzial. Wie Grube anhand etymologischer Beispiele zeigte, wurden Träume ihrerseits z.B. von den Maya als durchaus reale Erlebniswelten wahrgenommen. Die Azteken betrachteten Träume gar als göttliche Wahrheiten, die den Herrscherschichten im Schlaf erschienen, um die Realität zu durchleuchten und diese gleichsam bewusstseinserweiternd zu transzendieren. Grube betonte, dass die spanische Conquista und das Agieren der christlichen Missionare dieser religiös und elitär verorteten Traumkultur ein Ende bereiteten, indem jene abweichenden transzendental-ontologischen Deutungsschemata als diabolisch tabuisiert und verfolgt wurden.

Dass Träume jedoch auch in der okzidental-christlichen Welt durchaus ähnliche Funktionen hatten, demonstrierte GREGOR WEBER (Universität Augsburg) durch seinen Tagungsbeitrag La tradición del somnium: de la Antigüedad al Renacimiento. Weber machte deutlich, dass Träume und deren Interpretation von der Antike bis mindestens 1600 eine gewichtige Rolle spielten, wenn es darum ging das Handeln bzw. die Stellung sozialer Akteure zu legitimieren, wobei die erreichte gesellschaftliche Stufe gleichsam als Messlatte für die prophetische Aussagekraft des Traumes herreichte. Hierbei wurde gezeigt, dass zwischen 600 und 1600 in großem Maße antike Traditionen herangezogen wurden, um die Signifikanz von Träumen interpretieren zu können. In dieser Kontinuitätslinie stehend, bildeten Träume vom Mittelalter bis in die Renaissance ein zentrales Element von religiösen Legitimationsprozessen einerseits und Elitenbildung andererseits. So unterstrich Weber die trotz inquisitorischen Verbots in der Renaissance wieder auflebende Kontinuität antiker Traumtradition vor allem im Sinne von Machtlegitimationen, religiöser Deutungshegemonie und der Stilisierung historischer Urteilsbildung. Hierbei wurde zum einen das Charakteristikum der schriftlichen Fixierung von Träumen festgehalten und zum anderen die Tatsache hervorgehoben, dass im gesamten Zeitraum seit 600 Rekurse auf die antike Trauminterpretationen stattfanden, indem diese schlichtweg tradiert oder aber in Nuancen christlich adaptiert wurden. Im Gegensatz zu jener Konstante verwies er jedoch darauf, dass sich seit der Renaissance auch Transformationsprozesse in der Traumkultur vollzogen. Diese bestanden nicht nur in der allmählichen Aufwertung von Träumen gesellschaftlich weniger privilegierter Individuen (ein Prozess, der folglich mit einer allmählichen Abwertung des Traums als elitäres Machtinstrumentarium einherging), sondern auch in einer langsamen Abwendung transzendentaler Erklärungsmuster zugunsten einer naturwissenschaftlich-physiologischen Interpretation.

KARL KOHUT (Universität Eichstätt / México, D.F.) leitete mit seinem Überblicksvortrag Sueños en el Renacimiento y Humanismo hispánicos das zweite Panel „Moderne Welten“ ein. Einführend unterschied er a) mit der medizinischen, b) der religiösen (v.a. die Bibel betreffend), c) der philosophischen (Ciceros Somnium Scipionis hervorhebend) und d) der volkstümlichen vier Traditionen der Traumkultur. Daraufhin arbeitete er drei prinzipielle, zeitgenössische Ursachenzuschreibungen für das in dieser Zeit „populäre Phänomen“ Traum heraus: die moralische (der Schlaf galt als Befreier menschlicher Fantasie und Erwecker des Gewissens), die religiöse (Träume als von Gott oder Engeln gesandt) und natürliche (rein physiologische Ursachen). Entsprechend führten zeitgenössische Theoretisierungsversuche zu völlig verschiedenen Ergebnissen. Während ein Pedro Ciruelo Träume in Anlehnung an die Mystik des Heiligen Thomas als vom Teufel stammende Eitelkeiten einstufte, sprach ihnen Toledano Venegas göttliche Herkunft zu. Im zweiten Hauptteil wies Kohut anhand einschlägiger Werke von Juan de Maldonado (Traum als Prophezeiung), von Lope de Vega (Traum als Fürstenspiegel) und von Francisco de Quevedo (Traum als Satire) den Traum als Topos in unterschiedlichen Literaturgattungen und -anwendungen nach.

Im anschließenden Vortrag Raíces hispánicas del sueño americano arbeitete MARÍA JORDAN (Yale University) als einen zentralen hispanischen Einfluss auf den amerikanischen Traum dessen Charakter als „Kommunikationsweg mit naturhaften Kräften“, ob der medizinische Diskurs den Traum auch schlicht als Ergebnis einer körperlichen Störung erklären konnte. Weiterhin zeigte sie anhand von Inquisitionsakten des 17. Jahrhunderts eine Selbstbewusst-Werdung des träumenden „Ichs“ und somit Individualisierungstendenzen auf. Auch präsentierte sie diese Akten als Quellenmaterial mit sehr detaillierten Beschreibungen der kolonialen Gesellschaft, unter anderem hinsichtlich interethnischer Beziehungen und der Stellung der Kirche – Quellen, mit einem großen Potenzial für die historische Forschung.

Den zweiten Konferenztag und damit das Panel über soziale Ordnung und politische Legitimation eröffnete ALICIA MAYER (Universidad Nacional Autónoma de México) mit einer Darstellung der Sueños en las crónicas novohispanas. Ziel des Beitrags war es zum einen die große Bedeutung von Träumen in den Chroniken zu unterstreichen und sie als neues Forschungsfeld zu präsentieren. Zum anderen sollte gezeigt werden, wie die Träume den Wandel des nachtridentinischen Katholizismus reflektierten. So demonstrierte Mayer anhand verschiedener Beispiele (u.a. den Träumen des Fray de Valencia) die Wichtigkeit von Träumen in den Chroniken. Sie dienten vielfach zur Legitimation der christlichen Evangelisierung Hispanoamerikas oder aber zu einer posthumen historischen Stilisierung der Conquista durch Cortés als konkrete Reaktion auf politische Reformen der Krone. Dennoch wurde auch die nachtridentinische Skepsis gegenüber Träumen betont – nicht nur behielten sich die katholischen Missionare vor, die Deutungshegemonie über Träume aufrechtzuerhalten und sie damit entweder als göttliche Botschaft zu heiligen oder sie, wie im Falle indigener Traumtraditionen, als satanischen Einfluss zu dämonisieren. Als solche zentralisierende und zwangshomogenisierende Schaltstelle agierend, wurde die Deutungshegemonie auch als sozialdisziplinierendes Element wiederbelebt, indem Träume sowie Trauminterpretationen des einfachen Volkes arbiträr als dämonisch verurteilt und gleichsam jene der sozialen Eliten über die religiöse Sanktion zu göttlichen Botschaften mit visionärer Kraft erhoben wurden. In der Diskussion stellte Mayer schließlich die These auf, Träume seien als reine „rhetorische Erfindungen“ zu beurteilen und nur als Machtinstrument verschriftlicht worden.

PEER SCHMIDT (Universität Erfurt) zeigte in seinem Vortrag El místico y los sueños – Juan Palafox y Mendoza entre la doctrina católica y el neoestoicismo ähnliche Tendenzen auf. In diesem Sinne veranschaulichte der Vortrag Schmidts am Beispiel des „kreolisierten“ Bischofs Palafox de Mendoza, wie Träume von der religiösen Elite funktionalisiert wurden, um eigene Stellung und Handlungsweisen mit göttlicher Legitimation zu versehen. So überließen es Palafox und seine späteren geistlichen Biographen dem eigenen Urteil, schlechte von guten Träumen zu unterscheiden und gaben sich die Freiheit, die Qualität des Traumes von der sozialen Stellung des Träumenden abhängig zu machen. Besonders pikant ist das Beispiel Palafox, weil sich in ihm nicht nur eine höchst ambivalente Haltung gegenüber Träumen äußert – als göttliche Eingebung oder diabolische Entartung. Ebenfalls verurteilte Palafox den Schlaf und das Träumen im Sinne eines affektrationalisierenden nachtridentinischen bzw. neostoizistischen Ideals als Urquell von Müßiggang und Sünde im Volk, während er selbst die Trauminterpretationshegemonie nutzte, um persönliche Interessen abzusegnen. Trotz dieser offensichtlichen Willkür kann Palafox aber als Beispiel dafür herangezogen werden, wie sich an Inquisition und Neostoizismus angelehnte affektrationalisierende Denkinhalte in Hispanoamerika innerhalb der Elite ausbreiteten. Das spätere Ableben der barocken Traumtradition, die Rückführung des Traums auf ’autonome’ Individuen gingen somit einher mit gesellschaftlichen Rationalisierungstendenzen und dem Versuch Sozialdisziplin individuell zu internalisieren.

Diese Sektion abschließend wies CARLOS GÁLVEZ PEÑA (Columbia University, New York) in der Bearbeitung zweier Träume aus religiösen Chroniken Limas zunächst auf Ähnlichkeiten zu den Ergebnissen Mayers bei der Herrschaftslegitimation hin: Die Chronik des Paters Giovanni Olivar der 1620er Jahre beschreibt einen prophetischen Traum eines der letzten Inkaherrscher Huayna Capac von der Ankunft der Spanier in Form des Adlers, eine Symbolik, die, nach jesuitischer Auslegung, auf eine ersehnte, von Gott gewünschte Ankunft hinwies. Im Resümee schloss Gálvez, dass die Chronisten in verschiedenen lokalen, kolonialen und globalen Kontexten schrieben. Letztere bezogen sich insbesondere auf die Partizipation am europäischen Geistesleben, aber auch auf die Belastung der europäischen Kriege.

SONIA V. ROSE (Université Sorbonne-Paris) eröffnete die vierte Sektion zum Thema Träume, Literatur und Ideen und bereicherte die Tagung mit ihrem Vortrag Los sueños de Antonio de Maldonado (Lima, 1646). Hierbei handelte es sich um die historische Einordnung und Interpretation eines Briefs Maldonados an den spanischen Monarchen in Folienform, ein Brief, der einen angeblichen Traum des Autors schildert. Rose zeigte auf, wie ein Mitglied der kreolischen Elite (Condeza de Chinchón) den hohen Soldaten und Beamten Maldonado instrumentalisierte: im Auftrag der Condeza kreierte Maldonado jenen Traum, um ihn an den König weiterzuleiten und darin implizit einen geopolitischen Richtungswandel der monarchischen Politik zugunsten der amerikanischen Dependenzen einzufordern, eine Politik, die ganz im Sinne der neuspanischen Elite stand. Nicht nur unterstrich der Beitrag die realpolitische Einbettung und konkrete Funktionalisierung von Träumen in der hispanischen Welt, sondern betonte auch den Wert der benutzten Traumgattung. In ihrer Anlage eine Grauzone zwischen Realität und Fiktion darstellend, war der Traum ein geeignetes Medium für Maldonado, dem König weder eine reine Fiktion noch eine anmaßende politische Abhandlung zukommen zu lassen.

BERNHARD TEUBER (Ludwig-Maximilians-Universität München) beschrieb anschließend bei seiner literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Versdichtung des Ersten Traumes (1692) der neuspanischen Nonne Sor Juana Inés de la Cruz aus der Perspektive der europäischen Aufklärung heraus die Autorin als dreifach marginalisiert: als Frau in der besonderen Stellung als Wissenschaftlerin, als profane Nonne und Nicht-Mystikerin und schließlich als Bewohnerin des Zentrums der kolonialen Peripherie. Sie befindet sich also in einen dreifachen Status des „in-between space“ (Homi K. Bhabha) zwischen Kolonialismus und Postkolonialismus „avant la lettre“. In diesem oszillierenden Status beschrieb sie ihr individuelles Ich, ihre Seele als fähig, im Traum die Wahrheit zu sehen, die mentale Pyramide zum obersten Sein zu erklimmen. Ihre Traumtheorie weist mit der physiologischen Erklärung über Körperdämpfe Anleihen aus der scholastischen Medizin und der griechischen Tradition auf. Als „kreolische Strategie“ definierte Teuber die Betitelung Europas als Reich der Nacht, welches das neue Reich des Westens, des Lichts in die Unabhängigkeit zu entlassen habe.

Die theaterwissenschaftliche Abhandlung JOSÉ ANTONIO RODRIGUEZ GARRIDO (Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima) La escenificación del sueño en dos dramas peruanos coloniales (Espinosa Medrano y Pedro de Peralta) beschäftigte sich mit der Transponierung bzw. Adaption französischer wie italienischer Stilelemente in der kreolischen Tragödie. Garrido zeigte, dass hierbei zum einen musikalische Elemente Eingang in die Theaterwelt erfuhren und dass zum anderen, der satirische Charakter europäischen Stils durch moralisierende und autoritätsfestigende Absichten ersetzt wurde. Abgesehen davon wurde erklärt, wie das europäische Ideal mittels den „außerordentlichen Raums“ des Traumes Veränderung erfuhr: Dieser Raum ermöglichte etwa Pedro de Peralta Anfang des 18. Jahrhunderts die Übersetzung französischer Vorbilder auf die peruanische Bühne.

In einem Überblick über die Traumtradition der argentinischen Literatur vom 16. bis ins lange 18. Jahrhundert konzentrierte sich ALFREDO FRASCHINI (Universidad de Buenos Aires) wegen bisher kaum vorgenommener Forschungen auf das von aufgeklärtem Gedankengut geprägte Ende jener Epoche. In der Auswertung von volkstümlichen Texten (zum Beispiel Volksliedern) stellte er einerseits einen Bedeutungswandel der Träume heraus – in Populärtexten nahmen sie vielfach eine Entlastungs- und realitätstranszendierende Funktion ein, um dem rationalen Alltag zu entgehen und nicht zu realisierende Wunschvorstellung auszuleben. Andererseits aber hob Fraschini für den behandelten Zeitraum hervor, dass Träume in der Elitenkultur und den ’textos fundacionales’ nur eine relativ geringe Relevanz genossen. Dennoch unterstrich er, dass in den Bibliotheken Córdobas (Argentinien) ein immenser, bisher kaum erforschter Schatz an Traumliteratur der Frühneuzeit zu finden sei.

RAUL FIRBAS (Princeton University) setzte sich mit Sueños y visiones geográficas en la poesiá épica americana auseinander. Anhand einer Anfang des 17. Jahrhunderts in Lima erschienenen Miscelanea Austral ging es Firbas darum, die materiale Kondition von Träumen zu diskutieren und die zeitgenössische traumtheoretische Problematisierung ihres mimetischen, ’wahren’ Gehaltes. So machte er etwa bei Leon Ebreo eine neuplatonische Tradition aus, die visuelles Erkennen über verbal-auditiv vermittelte Inhalte stellte. Besonders betont wurde die in den Träumen behandelte topographische Komponente, die in einer „mirada estrábica“ versuchte, lokale Chorographie mit globaler Geographie oder gar universeller Kosmographie zu verbinden.

Im ersten Vortrag der fünften Sektion „Träume und Religiosität“ - Beatas y monjas místicas y sus sueños en la nueva España - wies ANTONIO RUBIAL GARCÍA (Universidad Nacional Autónoma de México, México D.F.) mittels Traumbeschreibungen auf die Rolle von religiös besonders herausragenden Frauen des 17. Jahrhunderts in Neu-Spanien hin: Einerseits galten für Frauen, ähnlich wie für Heiden, lediglich Visionserscheinungen als möglich, während gläubigen Männern das „wirkliche“ Träumen zugetraut wurde. Andererseits konnten auch sie – wohlgemerkt gemäß der Beschreibungen von Männern – auf diese Weise direkten Kontakt zu Gott beziehungsweise zu Heiligen aufnehmen, womit sie sich dann in der männlich geprägten Gesellschaft Gehör verschaffen konnten. Wie schon beim Vortrag Teubers lassen sich Anzeichen für Veränderungen des Frauenbildes erkennen, die sich beispielsweise in politischen Prophetien äußerten, aber auch allein in der Tatsache der Beschreibung solch religiös vorbildlicher Frauen: Alle ausgewerteten Beispiele hatten Rubial zufolge einen moralisierenden Unterton. Besonders aussagekräftig war das Beispiel der sogenannten „China poblana“ (1606-1688), einer aus Indien verschleppten, dann getauften und freigelassenen Sklavin, die von ihrem Beichtvater Alonso Ramos auf Grund ihres Lebensstils geradezu als Liebhaberin Christi gezeichnet wurde. Auch ließ sich an den detaillierten Beschreibungen die grundsätzlich pessimistische Weltsicht des Barock nachempfinden.

Anschließend präsentierte RENÉ MILLAR (Pontificia Universidad Católica de Chile, Santiago de Chile) seinen Vortrag über Sueños y ensueños de visinionarias y místicas ante la Inquisición de Lima. Am Beispiel dreier Frauen, die aufgrund von Träumen von der Inquisition verfolgt wurden, suchte Millar darzustellen, wie der niedere Klerus in den Verhören in Abweichung zum Inquisitionsgericht handelte und den Träumerinnen - anders als die Richter - oft Glauben schenkte und diese somit zu Handlungsfähigen Subjekten machte. Angesichts dieser porösen Dynamik katholischer Traumverfolgung traten im Vortrag die rationalen Handlungsmotive der eigentlichen Verfolgten hervor: laut Millar war der Traum trotz der Inquisition in unteren Gesellschaftsschichten durchaus als Mittel verbreitet, um soziales Ansehen zu gewinnen.

Im Abschlussvortrag Misión y sueño en el Padre Vieira untersuchte LUIS FELIPE SILVÉRIO LIMA (Universidade Federal do Paraná; Universidade de São Paulo) den Versuch des portugiesisch-brasilianischen Jesuiten Antônio Viera über die Deutung des Traumes von Francisco Xavier die göttliche Auserwähltheit sowohl seines Ordens als auch Portugals als letztes, Fünftes Reich (Quinto Imperio) zu beweisen. Dieser Versuch scheiterte vor der Inquisition. Brasilien hatte im Gegensatz zu anderen portugiesischen Kolonien keine Traumtradition entwickelt: Die Indigenen galten ob ihrer mutmaßlichen Unzivilisiertheit als unfähig, eine eigene Religion zu etablieren, weshalb sie die christliche Mission - auch ohne Traumlegitimation - entgegennehmen sollten.

In der abschließenden Diskussion wurde vor allem noch einmal auf den wissenschaftlich höchst anregenden Charakter der Konferenz verwiesen. Die Teilnehmer stimmten darin überein, dass die transdisziplinäre Herangehensweise der Tagung nicht nur großen Methodenreichtum und Erkenntnisgewinne hinsichtlich der Traumthematik zeigte, sondern den Traum auch als zukünftig fruchtbares und innovatives Forschungsfeld offenbarte. In diesem Sinne soll der nun geplante Sammelband durchaus das Grundlagewerk für die historische Traumforschung des kolonialen Lateinamerika bilden.

Die Tagung bewies somit den besonders innovativen Charakter und das große Forschungspotenzial, das der Traum als historisches Forschungsgebiet darstellt. Es konnte zum einen demonstriert werden, in welch mannigfaltigen Facetten das Traumphänomen im kolonialen Lateinamerika eine bedeutende Rolle einnahm. Zum anderen offenbarte sich der Traum in seiner sozialen Verwurzelung sowohl als Kulturartefakt europäischer Herkunft wie als kreolisiertes Medium gesellschaftlicher Kommunikation. So eröffnet seine Untersuchung neue Perspektiven auf eine atlantische Kulturgeschichte, jedoch ebenso neue Blickwinkel auf das Verständnis soziokultureller Realitäten und Prozesse innerhalb des südamerikanischen Kontinents selbst. Der Traum offenbarte sich als historisches Kaleidoskop, durch welches die Einbettung kultureller Phänomene innerhalb historischer Prozesse neue Bewertung erfahren kann und durch welches nicht zuletzt die notwendige Anbindung kulturhistorischer Betrachtungen an die politische und soziale Untersuchungsebene unterstrichen wurde.


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