"Und sie erkannten, dass sie nackt waren." Nacktheit im Mittelalter

"Und sie erkannten, dass sie nackt waren." Nacktheit im Mittelalter

Organisatoren
Alexandru Anca; Stefan Bießenecker; Laura Brander; Heiko Hiltmann; Kai Lorenz; ZEMAS - Zentrum für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Ort
Bamberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.11.2006 - 04.11.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Stefan Bießenecker, Universität Bamberg

Als am 3. und 4. November 2006 mehr als 20 Nachwuchswissenschaftler vom gerade Graduierten bis zur Habilitandin in Bamberg zusammen kamen, um über Nacktheit im Mittelalter zu sprechen, wurde Neuland betreten. Eine interdisziplinär angelegte Nachwuchstagung hatte es in Bamberg bisher noch nicht gegeben. Dank der großzügigen finanziellen Unterstützung durch das Bamberger Zentrum für Mittelalterstudien (ZEMAS) war es Alexandru Anca, Heiko Hiltmann, Laura Brander und Stefan Bießenecker, den Mitarbeitern des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte und Kai Lorenz, Mitarbeiter des Lehrstuhls für Deutsche Philologie des Mittelalters, möglich, Nachwuchswissenschaftler aus Deutschland und Österreich nach Bamberg einzuladen und zwei Tage lang über verschiedenste Aspekte der Nacktheit im Mittelalter zu diskutieren.

Die große Resonanz auf einen im Sommer 2006 veröffentlichten „call for papers“ machte es möglich, dass ein fachlich ausgewogenes Programm in sieben Sektionen geboten werden konnte. Dieses beleuchtete an den beiden Tagen die Nacktheit in der bildenden und darstellenden Kunst ebenso wie ihr Auftauchen in literarischen und historiografischen Texten.

Nach einer kurzen Begrüßung und Einführung durch Stefan Bießenecker (Bamberg), der kritisch die Position Elias’, nach der die mittelalterlichen Menschen einen ungezwungen, ja kindlichen Umgang mit Körperlichkeit und ihrem eigenen Körper gehabt hätten, hinterfragte, begann die Tagung am frühen Freitagnachmittag mit den Vorträgen zweier Kunsthistoriker, die sich mit Nacktheit in der Plastik befassten. Reinhard Köpf (Köln) wandte sich unter dem Titel „Schön sein, und ein bisschen obszön sein …“ – Beobachtungen zur Nacktheit mittelalterlicher Skulpturen im sakralen Kontext mit den beiden wohl frühesten Zeugnissen monumentaler Nacktheit, den Figuren Adam und Eva am Bamberger Dom, die Köpf als Ergebnis der Rezeption antiker Nacktheitsvorstellungen charakterisierte. Um zahlreiche weitere Beispiele bereichert wurde das Bild hochmittelalterlicher Plastik im Vortrag von Stefan Trinks (Berlin), der sich mit der Nacktheit am Pilgerweg nach Santiago de Compostela beschäftigte und verblüffend realistische Nacktheitsdarstellungen in Pilger-Kathedralen präsentierte. Auch hier ließ sich Nacktheit als Kennzeichen für Sündhaftigkeit finden. Die an die beiden Vorträge anschließende Diskussion ließ sehr schnell ein Hauptproblem des Themas deutlich werden: Was bedeutet nackt eigentlich?

Nach einer kurzen Pause setzten drei Vorträge zur Nacktheit in mittelhochdeutscher Dichtung die Tagung fort. In der von Ariane von Petery (Bamberg) moderierten Sektion sprach Maurice Sprague (Salzburg) über die Nacktheit in der Johanniterhandschrift A 94 und griff damit eine berühmte Parodie auf Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg heraus. Er zeigte, dass darin zahlreiche explizite und implizite Verweise auf Nacktheit vorhanden sind und diesen spezifische Funktionen zugeschrieben werden. Nacktheit könne einerseits zwar zur Sünde animieren, andererseits aber auch ein Zeichen der Buße sein. Kai Lorenz (Bamberg) beschäftigte sich mit der Nacktheit in Heinrichs von der Türlîn Diu Crône. Er ging der Frage nach, ob es unterschiedliche Grade von Nacktheit zu unterscheiden gilt und wodurch sich diese auszeichneten. Der mit Interesse erwartete Vortrag von Siobhán Groitl (Berlin) mit dem vielversprechenden Titel Phallus / Penis / Penis – Der Turney von dem czers musste leider entfallen. Die an diese Sektion anschließende Diskussion beschäftigte sich vor allem mit der Frage, was unter „nackt“ zu verstehen sei, und wie dieser changierende Zustand in den Quellen bezeichnet wird.

Eine dritte Sektion, die von Alexandru Anca (Bamberg) moderiert wurde, vereinigte verschiedene fachliche Perspektiven. Susanne Moraw (Jena) sprach zu Virtus und Sünde. Nacktheit in der lateinischen Spätantike und markierte damit den chronologischen Startpunkt der untersuchten Gegenstände. Sie konstatierte, dass der in der Literatur vollzogene Wechsel von der Darstellung schöner Körper hin zur Darstellung leidender Körper in Malerei und Plastik der untersuchten Zeit nicht umgesetzt wurde. Hans Peter Pökel (Bamberg), der sich mit Nacktheit und Scham im islamischen Mittelalter. Konstruktion und Darstellung im Werk al-Gahiz beschäftigte, verblüffte Referenten und Zuhörer mit seinen Ausführungen zu den Schamgrenzen in der Kommentartradition des Koran. Den Abschluss dieser Sektion bildete der Vortrag von Mirko Gründer (Bamberg), der sich als Philosoph mit dem Thema Nacktheit als Metapher. Der mittelalterliche Topos des nackten Menschen im Lichte der Metaphorologie Hans Blumenbergs befasste und Nacktheit als Zeichen der Unschuld und der Hybris beschrieb. Die angeregte und tiefgehende Diskussion der Sektion griff vor allem die These Gründers auf, dass Nacktheit das Mittel des Menschen sei, sich seines Platzes in der Schöpfung zu vergegenwärtigen.

Den Abschluss des ersten Tages der Nachwuchstagung bildete ein Vortrag von Prof. Johanna Rahner (Bamberg), die unter dem Titel Ein nackter Gott? Theologische Perspektiven zur Nacktheit im Mittelalter nicht nur die Sicht einer Disziplin beisteuerte, die nicht durch Nachwuchswissenschaftler vertreten war, sondern Nacktheit überzeugend als Zeichen einer unmittelbaren Gotteserfahrung beschrieb, die einen paradiesischen Zustand der Gottesbeziehung sinnfällig vor Augen führe. Ein gemeinsames Abendessen mit viel Raum für weitere Diskussionen rundete den Tag ab.

Nacktheit am Rande war das Thema mit dem Veronika Sattler (München) den zweiten Tag einleitete. Sie referierte zur Darstellung von Nacktheit in der Marginalillustration und zeigte dabei, dass Nacktheit in den Drolerien der Handschriften wiederholt zu didaktischen Zwecken abgebildet wurde. Ganz verschweigen wollte sie aber auch nicht, dass die Nackten am Rande der Texte durchaus auch dazu gedient haben könnten, den Leser bei der Stange zu halten. Christian Opitz (Wien), der zu Imagines provocativas ad libidinem. Der nackte (Frauen-)Körper in der profanen Wandmalerei des späten Mittelalters sprach, bestätigte ebenfalls, dass die Rolle der sexuellen Stimulation zumindest bei einigen Bildern schlicht nicht von der Hand zu weisen wäre. Die von Bernd Mohnhaupt (Bamberg) moderierte Sektion wurde abgerundet mit einem Vortrag von Nicole Thies (Trier). Sie stellte in ihrem Beitrag die These auf, dass Nacktheit als Zeichen der Armut eine klare Funktion hätte. Die anschließende Diskussion zeigte, dass eine eindeutige Interpretation von Nacktheit von den Anwesenden nicht mitgetragen werden konnte.

In einer historisch angelegten und von Christian Jörg (Trier) moderierten weiteren Sektion am Vormittag befasste sich Julia Weitbrecht (Berlin) unter dem Titel anvehtung und unkeusch. Nacktheit und Heiligkeit in spätantiken und mittelalterlichen Märtyrerlegenden mit der öffentlichen Entblößung von Heiligen und identifizierte diese als festen Bestandteil des Martyriums, womit Nacktheit zum Zeichen von Heiligkeit etwa in der Darstellung werden konnte. Laura Brander (Bamberg), die sich mit der nackten Verführung und enthaltsamen Jungfrau befasste, zeigte die Koexistenz von Sexualität, Nacktheit und heiliger Unschuld ein weiteres Mal und ergänzte damit die Thesen von Weitbrecht um hochmittelalterliche Belege.

Nach der Mittagspause kamen erneut die Germanisten zum Zuge. Ulrike Sievert (Bamberg) kündigte Andreas Hammer (München) und seinen Beitrag Schwierige Nacktheit. Narrative Strategien zur Problematisierung eines Motivs in der höfischen und hagiographischen Literatur des Mittelalters an, der das Zeichensystem Kleidung der Nacktheit gegenüberstellte. Körper und Identität war auch das Thema des unmittelbar anschließenden Vortrags von Silke Winst (Potsdam). Sie fragte nach geschlechtsspezifischen Codierungen von Nacktheit im höfischen Roman und stellte lediglich partiell entblößten weiblichen Körpern völlig unbekleidete männliche gegenüber. Vervollständigt wurde der Blick auf die Literatur schließlich durch den Beitrag von Andrea Grafetstätter (Bamberg). Sie stellte die Performativität von Nacktheit im mittelalterlichen Spiel dar und spannte damit den Bogen über den Bereich der Hofliteratur hinaus. Die Diskussion der Sektion zeigte erneut, dass „nackt“ im Mittelalter und heute nicht das gleiche bedeuten.

Am späten Nachmittag eröffnete Christian Rohr (Salzburg) die letzte Sektion der Tagung. Andreas Goltz (Bamberg) thematisierte den nackten Theoderich und dessen Weg in die Verdammnis. Dessen Nacktheit zeige vor allem an, dass er all seiner weltlichen Macht verlustig gegangen sei und umfassend bestraft würde. Eine ganz andere Funktion von Nacktheit stellte im letzten Vortrag der Tagung Heiko Hiltmann (Bamberg) zur Diskussion. Die Gewalt des Nackten. Oder: Die Waffen der Frau glaubte er zu erkennen, wenn diese dem anrückenden Feind auf der Stadtmauer stehend ihre entblößten Brüste entgegenreckten. Dass diese provokante These die Schlussdiskussion bestimmte und damit noch einmal auch den animierenden Charakter von Nacktheit in den Mittelpunkt der Argumentation rückte, tat der Qualität und Dauer keinen Abbruch. Sowohl das Organisationsteam als auch die vortragenden und mitdiskutierenden Teilnehmer, die aus Deutschland und Österreich angereist waren, zeigten sich am Ende der Tagung mit Verlauf und Ergebnissen hochzufrieden. Die Publikation der Tagungsbeiträge ist für das Frühjahr 2007 geplant.


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts