Reformation und Konfessionalisierung in Gesellschaft, Literatur, Theologie, Kunst und Architektur im Baltikum 1500 bis 1721

Reformation und Konfessionalisierung in Gesellschaft, Literatur, Theologie, Kunst und Architektur im Baltikum 1500 bis 1721

Organisatoren
Kunsthistorisches Institut der Estnischen Kunstakademie; Historisches Institut der Universität Tallinn; Lehrstuhl für Pommersche Geschichte der Universität Greifswald; Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Tübingen; Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte e.V.; gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, Bonn.
Ort
Tallinn
Land
Estonia
Vom - Bis
23.11.2006 - 24.11.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Martin Klöker, Interdisziplinäres Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Universität Osnabrück

Das Baltikum fristet in der deutschen Frühneuzeit-Forschung noch immer ein Randdasein, wenn es um zentrale Phänomene von europäischer Bedeutung und Relevanz geht. So ist bei der Frage der Konfessionalisierung bisher kaum auf den nordöstlichen Vorposten im alten deutschen Sprachraum, das alte Livland, geschaut worden, obgleich die Reformation in den großen Städten 1524/25 bereits in einer sehr frühen Phase vollzogen wurde und sich somit weit eher durchsetzen konnte als in manch namhafter deutscher Stadt. Die historischen Beziehungen und Zusammenhänge des alten Livland mit den Territorien des Römischen Reichs deutscher Nation sind mannigfaltig und nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Reformation und Konfessionalisierung von großer Bedeutung. Zugleich spielen skandinavische, polnische und auch russische Einflüsse eine Rolle.

Die Tallinner Konferenz, deren erklärtes Ziel die Beförderung von Kontakt und Austausch unter Fachwissenschaftlern aus Deutschland, Schweden und Estland war, konnte an Greifswalder Tagungen von 2004 und 2005 anschließen, auf denen die politischen und wirtschaftlichen Strukturen sowie die kulturgeschichtliche Entwicklung rund um den Augsburger Religionsfrieden in Est-, Liv- und Kurland sowie Ingermanland und Lettgallen Gegenstand der Vorträge und Diskussionen waren. Auf dieser Basis konnte die Perspektive nun zugespitzt werden auf konkrete Fragen zur Reformation und zu Phänomenen der Konfessionalisierung in Kunst und Literatur, Bildungswesen und kirchlicher Praxis.

In der Einführung durch Werner Buchholz und Anton Schindling wurde der Wunsch nach vertieftem Kontakt zu den estnischen Wissenschaftlern als Triebfeder der Konferenz aus deutscher Sicht formuliert. Vor einem erfreulich gut besetzten Auditorium stieß die geäußerte Hoffnung der deutschen Wissenschaftler auf weitere Zusammenarbeit und Anregungen für mögliche gemeinsame Projekte auf lebhaftes Interesse. Den Hintergrund der Tallinner (wie der Greifswalder) Tagung(en) bildet ein geplanter Sammelwerk "Die baltischen Ostseeländer im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Estland, Livland, Kurland, Lettgallen, Ingermanland. Stadt, Land und Konfession 1500–1721". Die Konferenzen dienen in diesem Zusammenhang dem Kontakt und Austausch der Autoren untereinander wie auch der Diskussion mit weiteren Fachleuten. So konnten die gewählten Perspektiven im interdisziplinären Gespräch vertieft und die kulturgeschichtliche Betrachtungsweise ausdifferenziert werden.

Aus dem übergeordneten Blickwinkel leitete Matthias Asche (Tübingen) mit seinem Vortrag ›Der Ostseeraum als "Bildungslandschaft" in der Frühen Neuzeit‹ in das Tagungsthema ein. Mit der hansischen Kultur des 14. bis 16. Jahrhunderts ging auch eine gemeinsame Bildungsgeschichte einher, wie Asche zeigen konnte. Rostock, im Herzen des niederdeutschen Sprachraums, besaß die größte Bedeutung als hansische Universität und löste Erfurt in dieser Funktion ab. Die niederdeutsche Sprache bildete einen bedeutenden Faktor des Universitätsbesuches, so dass nur ein geringer Prozentsatz der Studenten aus hochdeutschen Gebieten stammte. Die meisten Studenten und Professoren kamen aus Hansestädten, wie umgekehrt in den Hansestädten zumeist Rostocker Absolventen die führenden Ämter besetzten. Nach der Reformation war der Universitätsbesuch aus den lutherischen Hansestädten ungebrochen. Nun übernahmen Theologieprofessoren die Vermittlung und Normierung der neuen Lehre, die Universität gewährleistete die konfessionelle Reinheit. Ein kurzer Rundgang durch die Bildungslandschaft des Ostseeraumes zeigte, dass als Kriterium für die Wahl einer Hochschule vor allem die Konfession galt, während die geographische Nähe untergeordnet war. So entstand ein lutherisch geprägtes personelles Netzwerk, das bis ins alte Livland reichte. Als nicht lutherische Bildungsinstitutionen im Ostseeraum müssen einerseits das Braunsberger Jesuitenkolleg und die Jesuitenuniversität in Vilnius/Wilna, andererseits die zum Calvinismus tendierenden Gymnasien in Bremen und Danzig erwähnt werden. Wanderungsbewegungen der Studenten sind insgesamt von Ost nach West und von Nord nach Süd auszumachen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde mit der völligen Umgestaltung des hansischen Raumes auch die Bildungslandschaft verändert.

Anschließend referierte Tiina Kala (Tallinn) über ›Die institutionelle Umgestaltung des Kirchenlebens in Tallinn im 16. Jahrhundert und ihre ökonomischen und sozialen Ursachen‹. Kala gelang eine von der übermächtigen Forschungstradition gelöste, dagegen an den Quellen neu fundierte Betrachtung des reformatorischen Geschehens in der Stadt Reval. Durch einen neuen Interpretationsansatz von Protokollen und Rechnungen der Gilden zu den Jahren 1524/1525 stellte sie eine veränderte Deutung und Sichtweise vor. So zeigte Kala, daß vor allem soziale und wirtschaftliche Probleme das Handeln des Rates leiteten. In der Situation des Nebeneinanders und einer Vermischung von Elementen des alten und neuen Glaubens fiel die Entscheidung zugunsten der neuen Lehre im April 1524 zunächst gegen die Predigten der Dominikaner, die nicht weiter gegen den lutherischen Prediger Lange auftreten durften. In ihren Predigten sollten sie nur das Wort Gottes vermitteln und nicht etwa das Volk (gegen den Rat) aufwiegeln. Eine Reformation "von unten" kann für Reval nicht nachgewiesen werden.

Die literarische Kultur in der größten livländischen Stadt, Riga, stellte Martin Klöker (Osnabrück) unter dem Titel ›Musen in der Metropole. Humanistische und geistliche Literatur in Riga vom Ende des 16. bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts‹ vor. Bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts entstand ein literarisch aktiver Kreis, der vom Stadtsyndikus David Hilchen gefördert wurde und auf eine soeben gegründete Druckerei, eine neustrukturierte Bibliothek und eine nach Straßburger Vorbild umgestaltete Domschule zurückgreifen konnte. Die Initiative Hilchens deutete Klöker als gezielte Maßnahme zur Stärkung der protestantischen Stadt gegenüber der polnischen Landesherrschaft, die zu dieser Zeit gegenreformatorisch tätig wurde. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts prägte der städtische Oberpastor Hermann Samson die literarische Kultur, der noch überaus stark konfessionell bestimmte Themen in seinen Schriften behandelte, war doch die Auseinandersetzung mit den in der Stadt anwesenden Jesuiten ein zentraler Bestandteil des zeitgenössischen Schrifttums. Dies änderte sich bei seinem Schüler Johann Breverus, der in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts Amt und Funktion von Samson übernahm. Unter seiner Führung bildete der Gegensatz zu dem für das Land zuständigen Generalsuperintendenten Johann Fischer den Schwerpunkt. Fischer bemühte sich mit Erfolg um Bildung und Missionierung der lettischen Landbevölkerung, war aufgrund seiner pietistischen Haltung jedoch umstritten. Die Gründung einer neuen Druckerei und eines Gymnasiums in Riga führte zu Konflikten mit den städtischen Oberen, doch bildete gerade dieser Grundzug der Konkurrenz in der Rigaer literarischen Kultur das belebende Element.

Über ›Die katholische Reformation in Livland zur Polenzeit‹ referierte Enn Tarvel (Tallinn), der das Spannungsfeld der Begriffe >Reformation<, >katholische Reform< und >Gegenreformation< für die polnische Zeit Livlands (1561-1629) auslotete. Der polnische König gewährte zunächst die Freiheit der Augsburgischen Konfession, weil er der Meinung war, dadurch das Königtum zu stärken. So kam es, daß etwa Danzig und Thorn sich Mitte des 16. Jahrhunderts der lutherischen Konfession anschließen konnten. Unter König Stephan Bathory setzte sich die Ansicht durch, dass politische und religiöse Einheit miteinander einhergehen sollten. Trotzdem war der König nicht schroff gegen den Protestantismus; so enthielt die Bestätigung der Rigaer Privilegien 1581 noch keine konfessionellen Einschränkungen. Der Druck nahm jedoch zu und führte unter dem eifrigen Katholiken Sigismund III. Vasa zur Eskalation. Die Auslegung eines Mandates von 1560 gegen die lutherische Predigt war strittig: War nur die undeutsche (lettische) oder auch die deutsche Predigt gemeint? Der katholische Bischof Otto Schenking forderte eine Beendigung aller lutherischen Gottesdienste in Dorpat. Auf dem Lande, wo die Reformation noch kaum Fuß gefasst hatte, wurde eine massive Rekatholisierung begonnen. Durch die schwedische Eroberung wurden diese Maßnahmen jedoch beendet.

Ausgehend von ihren Studien zum Landpastor Eberhard Gutslaff sprach Lea Kõiv (Tallinn) über ›Die Stellung des Gemeindegeistlichen in Estland im späten 16. und 17. Jahrhundert‹. Konkrete Vorstellungen von den lutherischen Geistlichen enthalten bereits die Ordnungen aus dem späten 16. Jahrhundert, doch findet sich in der Historiografie seit Kelchs Liefländischer Historia (1695) das Stereotyp von rohen Männern ohne Moral, wobei das Problem der Abhängigkeit vom Gutsherrn berücksichtigt werden muss. Erst in den 1630er Jahren wurden die Fähigkeiten und die Amtsführung der Prediger auf regelmäßigen Synoden überprüft. Eine zentrale Frage bei der Beurteilung von Landgeistlichen war immer wieder die Sprachkompetenz. Häufig gibt es Klagen, dass die Bauern den Prediger aufgrund seiner mangelhaften Sprachkenntnisse nicht verstehen könnten, Beschwerden über die Lehre kommen in der Regel nicht vor. Wie Kõiv darlegte, wurde der Vorwurf unzureichender Sprache auch dazu benutzt, unliebsame Geistliche loszuwerden. Allerdings wurden Sprachunkundige in der Regel erst nach langer Untersuchung des Falles (bis zu 15 Jahre) aus dem Amt entfernt.

Über ›Universitäten und Hohe Schulen im Zeichen von Humanismus, Reformation und Konfessionalisierung‹ referierte Anton Schindling (Tübingen), der sowohl einen Eindruck von der gesamten Hochschullandschaft vermittelte, als auch eine grobe Charakteristik der einzelnen Institutionen gab, wie diese sich für die Studenten jener Zeit darstellten. Für bürgerliche, nicht so begüterte Studenten waren Freitische ein wichtiges Kriterium, das den Besuch lenken konnte, ebenso das Recht der Verleihung von akademischen Graden, das durch den Kaiser oder den Papst erteilt wurde. Nach der Reformation war im lutherischen Raum nurmehr das kaiserliche Recht gültig. Reformierte Hohe Schulen erhielten es – abgesehen von Herborn nach Anerkennung des Calvinismus – nicht. Die Humanisten lösten die Artistenfakultät aus dem Dienstleistungsmuster. Den Prototyp des sog. Gymnasium illustre stellt das untrennbar mit Johann Sturm verbundene Straßburger Gymnasium dar, das zur Universität ausgebaut wurde und auch auf die Ausformung der Stadtgymnasien des Baltikums wirkte. Die Verständigungsbasis unter den katholischen und protestantischen Humanisten blieb mit der konfessionsübergreifenden lateinischen Bildung erhalten. Die Verbindung des evangelischen Bekenntnisses mit dem Humanismus schuf Melanchthon, dessen Anhängern, den Philippisten, jedoch Nähe zum Calvinismus nachgesagt wurde. Gegen die "philippistische" Universität Wittenberg wurde Mitte des 16. Jahrhunderts die Universität Jena gegründet. Einzig Helmstedt blieb irenisch, d.h. geprägt vom humanistischen Geist auf protestantischer Grundlage. Mit der Aufklärung beginnt der allmähliche Übergang zu Deutsch als Unterrichtssprache. Als Muster der Aufklärungsuniversität gelten Halle a.d.S. und Göttingen. Aus dem katholischen Raum ist die Benediktineruniversität Salzburg zu nennen, die sich früh von der Scholastik der Jesuiten abwendet und der Aufklärung anschließt. Mit dem Untergang des Hl. Römischen Reiches setzt ein Universitätssterben ein.

Kristi Viiding hielt einen Vortrag über ›Dorpater Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert‹, der sich auf die "humanistische", d.h. lateinische und griechische und nichtgeistliche Poesie beschränkte, wobei weniger als fünf Prozent der Dichtung in griechischer Sprache verfaßt waren. Insgesamt handelt es sich um 2100 gedruckte Texte, von denen etwa ein Achtel vom überaus produktiven Professor Laurentius Ludenius stammt. Einen festen literarischen Kreis gibt es nicht, unter dem immer wieder verwendeten Namen "Musae Embecciades" (Embach-Musen) tauchen insgesamt 169 Namen auf. Im führenden Dopater Bürgertum stieß die Dichtung auf wenig Interesse. Vier Phasen in der Entwicklung konnte Viiding ausmachen: erstens 1632-1635 (gekennzeichnet durch wenige verschiedene Anlässe und wenige Gedichtformen), zweitens 1636-1649/54 (geprägt von Ludenius mit einer Vielfalt an Anlässen und Gedichtformen), drittens 1649/54-56 (die letzten Jahre der ersten Universität mit weniger Vielfalt in der Dichtung) und viertens 1690-99 (die kurze Phase der wiedergegründeten Universität bis zur Umsiedlung nach Pernau). Konfessionelle Themen waren in der ersten und letzten Phase vermehrt zu finden. Bei Ludenius tritt dieses Thema in den Hintergrund, seine Dichtung ist eher "humanistisch" bzw. alexandristisch.

Der Frage, ob sich die theologischen Ideen in der Grabmalkunst spiegelten, ging Krista Kodres (Tallinn) in ihrem Vortrag ›Über die Grabmalkunst in Estland und die lutherischen Vorstellungen über den Tod‹ nach. Als eine der wichtigsten Quellen für die zeitgenössischen Vorstellungen vom Tod nannte Kodres rund 100 gedruckte Leichenpredigten aus dem estnischen Gebiet, die auch thematisch gebundene Vignetten als Schmuck oder Illustration enthalten. Das hier wie auch auf Grabmälern zu findende Motiv des schlafenden Menschen ist in Estland nicht aus vorreformatorischer Zeit nachweisbar und gehört später zu den beliebtesten Motiven. Die theologische Deutung des Todes als "tiefer starker Schlaf" konnte Kodres u.a. aus dem Buch Daniel belegen; die geöffneten Augen sind unter Bezug auf Hiob 19 mit dem Schauen Gottes zu verbinden. Der Topos ist keinesfalls an die lutherische Konfession gebunden. Dass also in Estland keine vorreformatorischen Belege zu finden sind, kann als Zufall der Überlieferung gelten. Angesichts der protestantischen Infragestellung des Bildes (sola scriptura) kommen auch viele Grabplatten mit Texten aus der Bibel vor. Allerdings ist hierbei die finanzielle Situation des Auftraggebers zu berücksichtigen, da figürliche Darstellungen in der Regel aufwendiger und damit teurer waren.

Zum Vergleich stellte Norbert Buske (Greifswald) ›Bildliche Darstellungen des Hohen Liedes Salomons in pommerschen Kirchen im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung‹ am Beispiel der Kirche in Steinhagen vor. An diesem konkreten Beispiel pietistischen Einflusses in Pommern konnte Buske das Bildprogramm als Zeugnis der individuellen, persönlich geprägten Frömmigkeit vorstellen. Die barocken Bildprogramme von Kannzel und Empore sind aufeinander abgestimmt. An der Kanzel wurde aus biblischen Geschichten (Passion) ein Andachtsbild entwickelt und in emblematischer Struktur mit Sinnsprüchen versehen. Verantwortlich war der Pfarrer Johann Arndt, ein Nachfahre des Autors der „Vier Bücher vom wahren Christientum“, doch zeigt sich, dass Vorstellungen der Patronatsherrin berücksichtigt wurden. Das Hohelied, das in Nachdichtungen und in der Hirtendichtung fortlebte, ist an der Empore in mehreren Bildern präsentiert, die einem Andachtsbuch Dilherrs entnommen wurden. Eine parallele Präsentation der Dilherrschen Kupferstiche und der zugehörigen Emporenbilder zeigte die Veränderungen im Detail. Bemerkenswert sind neben der veränderten Reihenfolge die durchgängige Einarbeitung des Abbildes der Patronatsherrin sowie das im Abendmahlbild hinzugefügte Porträt des Pfarrers. Die zum Teil aus dem Dilherrschen Zusammenhang gelösten Bilder bieten in der neuen Einheit nur eine Auswahl des Dilherrschen Gesamtprogramms. Im Mittelpunkt steht die Liebe zum Gekreuzigten; das Bild der Kreuzabnahme als Chiffre für das Abendmahl befindet sich in der Mitte des Zyklus.

Piret Lotman (Tallinn) gab einen Beitrag zur ›Problematik der Rhetorik in der estnischen und lettischen geistlichen Literatur zu Beginn des 17. Jahrhunderts‹. Für das estnische Sprachgebiet charakterisierte Lotman den "Leyenspiegel" (1641/1649) von Heinrich Stahl, den Katechismus von Joachim Rossihnius, der auch Predigten enthält, sowie Georg Müllers Predigten, die vor Stahls Werk entstanden und dessen sprachliche Leistung relativieren. Die Grundlage für die Entwicklung der estnischen Schriftsprache wurde hingegen vermutlich bereits von den Dominikanern gelegt. Müllers Predigten zeigen epochentypische Homiletik mit gelehrtem Beiwerk, das jedoch nicht immer nach dem rhetorischen Muster geformt ist. Ein Beispiel hierfür liefern die Rigaer Predigten Hermann Samsons in deutscher Sprache, die in der Sammlung "Himmlische Schatzkammer" veröffentlicht wurden. Hier zeigte Samson theoretisches Bewusstsein, indem er meinte, für die Predigt vor Bauern müsste ein Methodus vorgeschrieben werden. Im Vergleich der Predigten der unterschiedlichen Verfasser zeigte Lotmann, dass Stahl die Häresie widerlegen, den Weg zum Heil weisen und trösten wollte. Die lettischen Predigten von Georg Mancelius sind demgegenüber lebendig und arbeiten mit visuellen Sprachbildern. Hier werden starke Emotionen benutzt, die Vergleiche sind kraftvoll und poetisch; als Farben werden schwarz, blutrot, schneeweiß und grün verwendet. In den Predigten wird generell mit Gegenüberstellungen, Vergleichen und der Symbolik gearbeitet. Bei Heinrich Stahl ist auffällig, daß seine deutschen Predigten ganz auf dem Stand der Zeit sind, während die estnischen Predigten sprachlich unsicher und ungelenk sowie inhaltlich schwer verständlich sind.

Als Fundament und Vergleichsfolie für die abschließende Diskussion rief Anton Schindling ›Kirchenspaltung, Konfessionsbildung und Konfessionalisierung als ein Grundproblem der deutschen und westeuropäischen Geschichte im 16. Jahrhundert‹ ins Gedächtnis. Anhand einer geographischen Karte des frühneuzeitlichen Mitteleuropa mit der konfessionellen Aufteilung verglich Schindling das Nebeneinander von lutherischen und katholischen Territorien und Kräften mit den Verhältnissen im Baltikum und zeigte die Entwicklung der konfessionellen Strukturen von der geschlossenen Einheit der päpstlichen Kirche bis zum Westfälischen Frieden auf. Die Frage der Zugehörigkeit Altlivlands zum Römischen Reich ist dahingehend zu beantworten, dass die Stände in der Reichsmatrikel aufgeführt wurden, aber nicht an den Reichstagen teilnahmen. In diesem Zusammenhang regte Schindling den Vergleich der großen livländischen Städte Riga, Reval und Dorpat mit den Reichsstädten an. Auffällig ist, dass die große Mehrheit der freien Reichsstädte – und so auch die genannten livländischen Städte – lutherisch wurden. Der Westfälische Frieden kanalisierte die konfessionellen Streitigkeiten auf rechtlicher Ebene. In der Folge blieb die konfessionelle Bindung stärker als die geographische Nähe; so war das lutherische Baltikum mit den lutherischen Territorien in Mitteldeutschland verbunden.

Zum Abschluss der Konferenz fasste Werner Buchholz die Tagungsbeiträge zusammen und eröffnete die Diskussion, in der die Vergleichbarkeit mit dem Römischen Reich kritisch hinterfragt wurde, da die Zugehörigkeit zu Schweden, Polen-Litauen oder Dänemark in andere Richtungen weist. Zu beachten ist für den Tagungszusammenhang auch die "Konfessionalisierung von unten" durch Laienprediger, über die allerdings noch wenig bekannt ist. Die Reformationsgeschichte sollte nach Stadt und Land getrennt werden, da die Entwicklungen ganz unterschiedlich verliefen. Als noch offene Fragen wurden unter anderem die quellenmäßig nur schwer fassbare Sprachkompetenz der "Undeutschen" und die praktische Katechisierung formuliert.


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