Zwischen Babel und Pfingsten: Sprachdifferenzen und Gesprächsverständigung in der Vormoderne (9.-16. Jh.) / Entre Babel et Pentecôte : différences linguistiques et communication orale avant la modernité (IXe-XVIe siècle)

Zwischen Babel und Pfingsten: Sprachdifferenzen und Gesprächsverständigung in der Vormoderne (9.-16. Jh.) / Entre Babel et Pentecôte : différences linguistiques et communication orale avant la modernité (IXe-XVIe siècle)

Organisatoren
Arbeitskreises "Gesellschaft und individuelle Kommunikation in der Vormoderne" (GIK) / Atelier "Société et communication individuelle avant la modernité" (SCI)
Ort
Arolsen
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.11.2006 - 19.11.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Peter von Moos, Heidelberger Akademie der Wissenschaften

Der Arbeitskreis GIK ist aus der Forschung über Gesprächsverhalten im Mittelalter entstanden, die in den frühen 90er Jahren auf dem eingeschränkten Gebiet des literarischen Dialogs begonnen hatte. Die bisherigen Kolloquien haben sich mit verschiedenen Teilgebieten vergangener Interaktion befasst -- dem Verhältnis des Öffentlichen und Privaten, dem Fehltritt oder Fauxpas und zuletzt der Konstitution und Erkennbarkeit persönlicher Identität -, aber nie stand noch die Interaktion selbst - nach N. Luhmann definiert als "Kommunikation unter Anwesenden" - als ein wesentlich sprachliches (auch körpersprachliches) Phänomen im Zentrum des Interesses.

Dieses Thema sollte an der dritten Tagung von einer präzisen, relativ engen Fragestellung her diskutiert werden: Wie wurden in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften Westeuropas Sprachdifferenzen und Sprachbarrieren wahrgenommen, beschrieben, theoretisch erklärt und praktisch zu überwinden gesucht? Es ging also in der Hauptsache - um das Interesse-Zentrum und zwei weit auseinander liegende Randthemen zu benennen - weder um eine Geschichte der Sprachtheorien noch um Verständigungsprobleme innerhalb derselben Sprache, sondern um sprachlich bedingte Verständnisschwierigkeiten aller Art, vom Nullpunkt der Taubstummen-Behinderung über die Erstbegegnung mit wildfremden, sich in einer noch nie gehörten Sprache ausdrückenden Menschen bis zur individuellen Inkompetenz gegenüber an sich (wenigstens in ihrer Existenz) bekannten Fremdsprachen sowie zu den Unzulänglichkeiten des Übersetzens und Dolmetschens. Sekundär gehörten zum Beobachtungsfeld auch Dialekte und Soziolekte, alle regional, sozial, sozialisations- und bildungsbedingten, standes-, berufs-, geschlechts- und altersspezifischen Kommunikationsschwellen und Generatoren von Missverständnissen. Da Sprache hier nicht als System und "langue" (vor allem nicht als Schriftsprache), sondern nach H. G. Gadamer in erster Linie als "Gesprächsverständigung", als mündliche "parole" in bestimmten Kontexten definiert wurde, konnten auch die sog."feinen Unterschiede" (Bourdieu) als semantische Sprachphänomene in sog. "vertikalen" Kommunikationsverhältnissen (Banniard) betrachtet werden, insbesondere im Falle von Diglossien zwischen Prestigesprachen und Subalternsprachen, Sakral- und Profansprachen sowie dem damit zusammenhängenden stilistisch-rhetorischen Gefälle. Die nahezu einzige historische Frage, die sich diesem weit geöffneten Fächer sprachlicher Verständigungsschwierigkeiten gegenüber stellte, war eine Frage des Sprachbewusstseins: ob und in welchen Situationen sprachliche Kommunikation überhaupt als ein ernst zu nehmendes Problem wahrgenommen wurde, und andernfalls, warum sie als solche keine oder wenig Aufmerksamkeit erregte.

Da die Tagung in zwei Sprachen (unter bewusstem Ausschluss einer Gemeinsprache) veranstaltet wurde und somit nicht nur Sprachprobleme untersuchte, sondern selbst solche erzeugte, ist noch eine metasprachliche Beobachtung zur experimentell gemeinten Organisationsform vorauszuschicken: Es war von Anfang an das Ziel von GIK, die semantischen Probleme zwischen den Sprachwelten auch in ihren heute oft unterschätzten Auswirkungen auf die verschiedenen Wissenschaftskulturen bewusst zu machen. Abgesehen von der in letzter Zeit vermehrt Interesse erregenden Übersetzungsproblemen etablierter geschichtswissenschaftlicher Hauptbegriffe (derzeit finden hierzu sogar zwei deutsch-französische Veranstaltungen statt1), ist es ein Gebot wissenschaftlicher "Geselligkeit" im Geiste der alten Gelehrtenrepublik, die besten Kenner desselben Spezialthemas in irgendeiner Form zusammenzubringen, selbst wenn sie die Sprache des anderen nicht oder ungenügend beherrschen. Zu diesem Zweck wurde eine relativ komplizierte Organisationsstruktur mit mehreren Optionen gewählt. Die Tagung wurde zweiteilig durchgeführt. An den ersten beiden Tagen war die Verhandlungssprache deutsch, an den beiden folgenden französisch. Die Teilnahme an der ersten oder zweiten Sektion oder an der gesamten Tagung stand frei zur Wahl. In einer ersten Phase wurden einige wenige mit dem Thema besonders intensiv verbundene Forscher um eine schriftliche vor der Tagung zu verteilende Diskussionsvorlage gebeten. In der zweiten Phase wurde der Einladungsfächer interdisziplinär geöffnet, um Forscher außerhalb der historischen Sprachsoziologie zu gewinnen, die von verschiedenen Nachbargebieten her durch neue Fragen zur Ausweitung der Diskussion beitragen konnten. Letztere hatten drei Teilnahme-Möglichkeiten, entweder mit einer weiteren vorab zu verteilende Gesprächsvorlage, einem vor Ort gehaltenen Vortrag oder einem schriftlichen Beitrag erst nach der Tagung, aber in Berücksichtigung der dort geführten Diskussionen. Vorgesehen waren Übersetzungen sämtlicher Texte (der Vorlagen und der obligatorischen Abstracts) in die jeweilige andere Sprache. Das Ergebnis der Anmeldungen führte dazu, dass nur die deutschen Texte ins Französische übersetzt werden mussten, da fast alle deutschsprachigen Teilnehmer auch an der französischsprachigen Sektion teilnahmen, während umgekehrt nur eine verschwindende Minorität der an sich zahlreicheren französischsprachiger Teilnehmer sich zutraute, an den deutschsprachigen Diskussionen teilzunehmen. (Die Teilnehmer italienischer Sprache zogen insgesamt das Französische vor und optierten für die französischsprachige Sektion.) Es ist hier nicht der Ort, Reflexionen über den zunehmenden internationalen Wertverlust der deutschen Wissenschaftssprache anzustellen. Was die Organisation betrifft, lässt sich zum mindesten sagen, dass selbst wenn derart Diskussionen über die Sprachgrenzen hinweg nur indirekt und eingeschränkt stattfanden, doch durch schriftliche "Eselsbrücken" die allseitige Kenntnis der Beiträge in beiden Sektionen garantiert war, was den Vorteil mit sich brachte, dass jeder Teilnehmer trotz der "mehr-als-einsprachigen" Anlage der Tagung sich in seiner eigenen Sprache nicht nur ausdrücken, sondern auch verstanden werden konnte. Derart wurden die beiden üblichen, aber keineswegs überzeugenden Formen mehrsprachiger Tagungen überwunden: die Freigabe jeglicher Sprache unter großzügiger Unterstellung einer polyglotten Zuhörerschaft oder aber die Reduktion aller Mitteilungen auf die flachen Standards eines englischen "pidgin globlish". Stattdessen wurde ein Mittelweg gesucht zwischen wissenschaftsnationalem Provinzialismus und seichter Globalisierung, zwischen spezialistischer Inzucht und additiver Interdisziplinarität. Ob sich der dafür eingesetzte organisatorische Aufwand gelohnt hat, wird erst die zu erstellende schriftliche Synthese der thematisch, wenn auch nicht immer mündlich unmittelbar ineinander greifenden Diskussionsbeiträge zeigen.2

Als minimale Vorskizze für eine solche Synthese ist der folgende Bericht zu verstehen, dem darum nicht die chronologische Abfolge der sprachlich getrennten Sektionen zugrunde liegt (dazu s. das Programm auf http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=6202), sondern eine thematische Gliederung, wie sie auch den voraussichtlich bei Böhlau (in der Reihe "Norm und Struktur") erscheinenden Band einteilen wird. Sie schreitet ohne Anspruch auf irgendeine Deduktionslogik vom Allgemeinen zum Besonderen voran. Die insgesamt 35 zu publizierenden Beiträge (von denen an der Tagung noch nicht alle vorlagen) können hier nur selektiv innerhalb einer Beschreibung der sechs Hauptteile vorgestellt werden. (Beiträge, die nicht schriftlich eingereicht oder nicht gehalten wurden, und solche, die das diachron-soziolinguistische General-Thema nicht trafen, sondern höchstens streiften, können aus Raumgründen hier nicht besprochen werden.)

1. Theorie und Methodologie / Problèmes de méthode

1.1. Thomas Luckmann (Konstanz, Soziologie): "Zu den kommunikativen Gattungen und der Grundlagenproblematik der Verständigung".

1.2. Bernard Laks (Paris, Linguistik): "Variatio omnibus: notes sur le changement et la variation linguistiques".

1.3. Wulf Oesterreicher (München, Romanistik): " Zur Archäologie sprachlicher Kommunikation. Methodologische Arbeit an Fallbeispielen".

1.4. Monique Goullet (Paris, Mittellatein) : " Hagiographie et questions linguistiques ".

Diese den Grundlagen des kommunikativen Handelns mit und ohne Sprache gewidmete Abteilung sollte die Leitfragen für die ganze primär den Sprachbarrieren, sekundär den nicht-nur-sprachbedingten Verständigungsproblemen gewidmeten Tagung voranstellen.

1.1. Der theoretisch am umfassendsten angelegte soziologisch-anthropologische Beitrag von Thomas Luckmann gab den letzten Stand von dessen langjährigen Forschungen über "kommunikative Gattungen" wieder. Diese institutionsartigen "Lösungen" von Problemen kollektiven Lebens werden in die Gesamtentwicklung kommunikativen Verhaltens von den höheren Säugetieren bis zu gegenwärtigen Alltagsintereraktionen, von vor-zeichenhaften bis zu zeichenhaft sprachlichen Formen gestellt. Besonders wichtig für die Fragestellung der Tagung war die Relativierung verbaler Kommunikation durch die sie stets begleitenden oder auch ersetzenden mimischen, gestischen, proxemischen und paralinguistischen Verständigungsmittel. Gemeinsamkeiten mit den drei folgenden soziolinguistischen Arbeiten zeigten sich einerseits in der Relativierung eines vermeintlich autonomen Sprachsystems im kommunikativen Gesamthaushalt der Gesellschaft (Laks), andererseits in den methodischen Überlegungen zur Rekonstruktion mündlicher Kommunikation (Oesterreicher, Goullet).

1.2. Ausgehend von der "variationistischen" Linguistik zeichnete Bernard Laks ein gerade für das Mittelalter aufschlussreiches Panorama des unaufhaltsamen Sprachwandels und einer vor der Neuzeit dominanten Mehrsprachigkeit. Mit einschlägigen Zitaten Saussures und Bourdieus unternahm er eine ideologiekritische Dekonstruktion jener vom humanistischen Konzept toter Schriftsprachen inspirierten Normierung und grammatischen Fixierung einheitlicher moderner Nationalsprachen im Kontrast zum generell vormodernen Kontinuum diatopischer und diastratischer Mehrsprachigkeit, deren bekanntestes Beispiel, der Übergang vom Latein zu den romanischen Sprachen in Teil 3 ausführlich behandelt wurde. Damit war theoretisch eine erste, danach noch mehrfach bestätigte Erklärung für eine bereits in der Tagungseinladung erwogene Alterität gegeben: "das mangelnde Interesse des Mittelalters an der uns einigermaßen relevant erscheinenden Sprachenfrage, die wir heute vielleicht ebenso überschätzen, wie sie damals unterschätzt wurde."

1.3. Wulf Oesterreicher griff seinerseits eine methodisch umstrittene Frage auf, ob und wie es möglich ist, aus schriftlichen Zeugnissen vergangene Mündlichkeit und Interaktion "archäologisch" zu rekonstruieren. Während der Historiker einer solchen Möglichkeit aufgrund der von Luckmann nach bewährter "Konversationsanalyse" mit Aufnahmegeräten rekonstruierten Gegenwartsbeispiele eher skeptisch gegenübersteht, wird er von Oesterreicher wieder dazu ermutigt, philologisch, d.h. mit harter traditioneller Quellenkritik das Mögliche an verlorener "nähesprachlicher" Kommunikation aus den Texten, namentlich aus solchen der literarischen Mimesis von dialogischer Kontextualität herauszuholen.

1.4. Von dem vielleicht literaturtheoretisch ergiebigsten Beitrag der Tagung sagte die Autorin, Monique Goullet paradoxerweise selbst, dass der Ertrag einer soziolinguistisch-pragmatischen Suche nach der Bewusstheit (fremd-)sprachlicher Probleme in der Hagiographie ziemlich enttäuschend sei. Das Experiment dieser Arbeit bestand darin, den besonders typisierten Texten der Hagiographie Hinweise auf reale Mündlichkeit zu entlocken, einerseits aus Berichten über den Umgang der (vor allem missionierenden) Heiligen mit sprachlichen Problemen - Fremdsprachenkenntnis wird nur selten gelobt, zur Topik gehört vielmehr das ad hoc wiederholte Wunder der pfingstlichen Sprachengabe - andererseits durch eine sorgfältige "Vokalitäts"-Analyse (Zumthor) von Passagen direkter Rede, womit die bereits von Oesterreicher angesprochene Rekonstruktion von Sprechsprache methodologisch vertieft wurde. Da aufgrund der Aufführungspraxis solcher für den Vortrag bestimmter Texte mit Kunstmitteln der Rhetorik (wie der sermocinatio) die "vox rediviva" des Heiligen dramatisch verlebendigt werden sollte, lässt sich auf eine einigermaßen den Rezipienten angepasste Mimesis zurückschließen.

2. Babel und Pfingsten: Aspekte der des mittelalterlichen Sprachdenkens / Babel et Pentecôte : Aspects de la pensée linguistique médiévale

2.1. Ruedi Imbach / Irène Rosier-Catach (beide Paris, Philosophie): "La Tour de Babel dans la philosophie du langage de Dante".

2.2 Alberto Vàrvaro (Neapel, Romansitik): " "La tua loquela ti fa manifesto": langues et identités dans la littérature médiévale".

2.3 Silvana Vecchio (Ferrara, Philosophie): " " Dispertitae linguae ": le récit de la Pentecôte entre exegèse et prédication."

2.4. Roger Friedlein (Berlin, Romanistik) : "Modellierung von Kommunikation in der Sprach- und Disputationstheorie bei Ramon Llull (/Libre de contemplació/, cap. 216)".

Dieser Teil bildete insgesamt das mittelalterliche Gegenstück zu unseren heutigen in Teil 1 dargestellten Sprachtheorien, die sich aus der Systematisierung empirischer Beobachtungen sprachlicher Wirklichkeit ergeben. Erste deskriptive Ansätze dieser Art sind, selbst wenn sie sich mit dem großen Namen Dantes verbinden, eine herausragende Ausnahme, die vielmehr die Regel einer radikal durch normative Vorgaben geprägten Alterität nur bestätigt. Auch Dante "beschreibt" Sprachwandel letztlich nur als negative Kontrastfolie seines idealen Hauptziels, der Schaffung des "volgare illustre" als neuer universaler und bleibender Dichtungssprache. Eine wertneutrale, nicht unter die religiös-moralischen Symbole Babel und Pfingsten für Verfall durch Vielfalt und Heil durch unwandelbare Einheit und "rectitudo" fallende Sprachauffassung hat im Mittelalter Seltenheitswert, was auch die seit der Antike dominante Stellung der "grammatici" und der Grammatik als Grundwissenschaft beleuchtet.

2.1. Eindrücklich zeigte dies von philosophiegeschichtlicher Seite der von Ruedi Imbach und Irène Rosier-Catach vorgelegte Beitrag über Dantes "De vulgari eloquentia", der ausgehend von der Deutung der Turmbaus von Babel (I 7) und dessen Folgen - die Gesamtanlage des ersten Buches als eine einzige Dialektik vom Einen zum Vielfältigen und vom Vielfältigen zum Einen analysiert. In diesem Zusammenhang erscheint der Babel-Mythos als bildhafte Vergegenwärtigung einer rationalen Anthropologie, die den Menschen als "instabilissimum et variabilissimum animal" definiert. Dante beschreibt realistisch den Verlust sprachlicher Stabilität und Einheit grundsätzlich nicht anders, als es der moderne Variationslinguist tun würde, doch entwirft er zugleich das Heilmittel gegen babylonische Verwirrungen der Umgangssprachen in einer neuen poetischen Idealsprache, die im Unterschied zur reinen unveränderlichen Kunstsprache Latein - "grammatica" genannt - , trotz beanspruchter Universalität einen lebendig muttersprachlichen Klang beibehält.

2.2. Alberto Várvaro führte zurück zum Alltag mittelalterlicher Sprachdifferenzen, die gerade der Dantevers in seinem Titel anzeigt (so spricht Farinata in Inf. I 10.25 den sich durch sein Sprechen als Toskanen verratenden Besucher an). Sprachen, Dialekte, Akzente dienen vornehmlich der Identifikation und "Identitätskontrolle", am häufigsten in scherzhaften und aggressiven Kontexten. Wer anders (oft nur wenig anders) spricht als der Angesprochene, provoziert Spott oder Konflikt. Die Sprache ist ein simpler Lokalkolorit der Herkunft oder Ethnie und erlaubt, Zugehörigkeiten unmittelbar zu erkennen. Nach dem Schibbolet-Muster (Richter 12.6) soll ein Aussprachefehler bezüglich des italienischen "ci" über das Los der Franzosen bei der Sizilianischen Vesper entschieden haben. Doch sind solche Beispiele für die Wahrnehmung sprachlicher Unterschiede eher außergewöhnlich. Als selbstverständlich galt vielmehr, dass es zwar unterschiedliche "Völker" (wir würden sagen: Kulturen) -- wie die Christen und die Sarazenen - gibt, aber dass sich alle irgendwie als Menschen sprachlich verständigen können. Man kann daraus schließen, dass die Sprache noch nicht - wie seit dem 19. Jh. (s. oben 1.3: Laks) - zu einem wesentlichen sozialen Identitätsmerkmal aufgerückt ist. Identitäten bildeten sich aufgrund lehensmäßiger, familiärer, geographischer und religiöser Faktoren, nicht aber durch sprachliche Differenzen, die vielmehr erst die neuzeitliche Nationenbildung hervorgebracht hat. Erst seit dem 15. Jh. bildet sich allmählich ein Sinn für die Bedeutung unterschiedlicher Sprachen, womit eine Entwicklung beginnt, an deren Ende die romantische Vorstellung aufkommt, dass jedes Volk seine eigene Sprache spricht, ja durch diese erst nationale Existenz erlangt.

2.3. Silvana Vecchio zeigte in ihrem exegesegeschichtlichen Beitrag zum Pfingstereignis (Apg. 2, 1-13) eine andere Seite des fehlenden mittelalterlichen Interesses an linguistischen Fragestellungen. Die beiden Phasen der Erscheinung des Heiligen Geistes in den verteilten Feuer-Zungen ("dispertitae linguae") und der danach erlangten Fähigkeit der Apostel in "variis linguis" zu sprechen und verstanden zu werden, sind von den Kirchenvätern bis zur Hochscholastik durchgehend mit der Sprachverwirrung von Babel verbunden und nicht als ein Wunder der Vielsprachigkeit, sondern der Wiederherstellung der durch Hochmut zerstörten sprachlichen Einheit in der auf Demut gründenden Katholizität der Kirche (gegen die Vielsprachigkeit der Ketzer) gedeutet worden. Wo dennoch sprachliche Vielfalt als Reichtum verstanden wurde, bezog sich dies nicht auf reale, ernst zu nehmende Sprachdifferenzen, sondern auf das vielgestaltige Gotteslob, die Gaben des Hl. Geistes und vor allem die rhetorisch-ästhetische Fähigkeit des Predigers, für jeden in seiner "Sprache", d.h. auf der dem jeweiligen Adressaten angemessenen Stilebene das Wort Gottes zu verkünden ("praedicare diversa diversis", wie es Gregor der Große gelehrt hatte). In dieser moraltheologischen Metalinguistik ging das Problem der Fremdsprachen so gut wie unter. Sprachbarrieren gab es weniger zwischen den Sprachen als innerhalb derselben Sprache. (Nicht zufällig erwähnt Dante in seiner einzigartigen Sprachanalyse nur das "linguistisch" relevantere Babel, nicht aber Pfingsten.)

2.4. Der Vortrag von Roger Friedlein ging weniger auf die bekannte herausragenden Bedeutung Ramon Llulls für die Errichtung von Fremdsprachenschulen für Missionare in der islamischen Welt (s. dazu unten 5.3) ein als auf spezifisch kommunikationstheoretische Aspekte, die sich auf ein allgemeines Konzept der Sprach- und Religionsdifferenzen tranzendierenden Menschennatur beziehen. Zunächst beruht Llulls sprachbezogene Reflexion auf einer sinnesphysiologischen Grundlage, deren entscheidendes Element der sechste Sinn, "affatus", bildet. Dieser wird bei Llull einerseits als zentraler "sensus communis" oder "sechster Sinn" verstanden, er fungiert darüber hinaus aber auch als Sinn der Sprachproduktion des Menschen. Die eigentlich kommunikationstheoretische Gundlage für gegenseitiges Verständnis und Persuasion bildet jedoch Llulls Disputationstheorie, aus der die "Ars lulliana" herauswächst. Zentral für die Reflexion über Sprache und Kommunikation sind die Gespräche um religiöse Grundfragen, die Llull in etwa zwei Dutzend literarischen Dialogen konkret vorführt. Häufig missverstanden als Aufzeichnung realer Gespräche, basieren sie fallweise mehr oder weniger eindeutig auf der "Ars lulliana". Die Analyse dieser Dialoge erwies eine auffällige Differenz zu dem bisher für Llull Festgestellten: Vom Problem der Sprachdifferenz und anderen kontingenten Elementen der Kommunikation wurde hier abstrahiert zu Gunsten einer Dialogästhetik, die nicht den Gesetzen der Mimesis, sondern ihrer idealtypischen Modellierung folgt. Diese beiden Seiten der Sprachreflexion bei Llull zwischen offensiver Thematisierung der Sprachenfrage und abstrahierender Ausblendung standen im Zentrum des Beitrags.

3. Latein und romanische Volkssprachen / Le latin et les vernaculaires romans

3.1. Michel Banniard (Toulouse, Latinistik/Romanistik): "Du latin des illettrés au roman des lettrés : la question des niveaux de langue en France (VIIIe-XIe s.)".

3.2. Peter Koch (Tübingen, Romanistik): "Das mittelalterliche Latein - eine diglossische Sprache?"

3.3. Anne Grondeux (Paris, Mittellatein): "L'expression de la notion de langue maternelle au Moyen Age (800-1300)".

3.4. Marc van Uytfanghe (Gent, Latinistik/Romanistik) : "La Romania au IXe siècle, sous l'angle de la communication" (in Vorb.).

3.5. Jean Batany (Paris/Caen, Romanistik): "L'espace ludique du latin et l'ambivalence de ses clôtures langagières (causerie)".

3.6. Cédric Giraud (Paris, Mittellatein): " " Per verba magistri ". La naissance d'une langue spécialisée dans les écoles du Nord de la France au premier XIIe siècle".

3.7. Pascale Bourgain (Paris, Mittellatein): Réflexion sur le jeu interlinguistique dans les poésies lyriques latines (surtout latin/français).

Diese Sektion war dem "aufhaltsamen Aufstieg" der romanischen Sprachen3 aus dem nachantiken Latein gewidmet, einem keineswegs nur sprachgeschichtlichen Thema, das vielmehr zentral die bildungsmäßige "Stratifikation" der mittelalterlichen Gesellschaft betrifft.

3.1. Michel Banniard, einer der besten Kenner dieser Entwicklung, stellte einige gängige mediävistische Vorurteile in Frage, wie schon der provokante Titel ankündigt: "vom Latein der Ungebildeten zum Romanischen der Gebildeten". So verkürze und verarme die dualistische Vorstellung eines Gefälles zwischen geschriebenem Hochlatein und gesprochenem Vulgärlatein oder Protoromanisch sowohl diachron wie synchron die Vielschichtigkeit und Kontinuität realer Misch-Kommunikation zwischen dem 8. und 12. Jh. Eine idealtypische nach Funktionen und Situationen gegliederte Skala von 5 Stufen zwischen reinem "Protofranzösisch" und dem feierlichen lateinischen "sermo altus" demonstrierte eine sowohl die Stilebenen wie die Interferenzen zwischen den Sprachen einschließende Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten, der die Begrifflichkeit der "Diglossie" nicht gerecht wird. (Zum Phänomen der Zweisprachigkeit in verschiedenen Gattungen s. auch unten 3.7, 5.1, die Beiträge von P. Bourgain und F. Morenzoni.) Andererseits sei die verbreitete Annahme einer weit unterhalb der lateinischen Hochsprache angesiedelten Evolution von der gesprochenen zur geschriebenen Volkssprache ( fr."vulgaire" ) eine unkritische Identifikation der Forschung mit dem Standesdünkel der damaligen Kleriker. (Banniard zitierte hierfür das Beispiel von Mönchen, die eine ihnen unverständliche lateinische Predigt einer verständlichen, aber ihrer Ehre abträglichen französischen vorzogen.) Umgekehrt führte er Stellen an, die gerade das volkssprachliche Umschreiben lateinischer hagiographischer Vorlagen als eine stilistische und prestigesprachliche Verbesserung hervorheben, während in derselben Zeit das Latein als gesprochene Sprache der Schulen sich kulturell trivialisierte. (In dieselbe Richtung zielte auch ein zugeschicktes Aperçu des leider nicht anwesenden Jean Batany.)

3.2. Peter Koch setzte sich in einer vorgeplanten Replik, die im Grunde Banniards Vortrag eher ergänzte als korrigierte, zu einer Differenzierung oder Flexibilisierung des Diglossiebegriffs an. Insbesondere plädierte er für eine Komplexifizierung des "high/low level"-Dualismus durch die Kombination mit den Unterscheidungen konzeptioneller Nähesprache und Distanzsprache.

3.3. Anne Grondeux ging an zahlreichen Belegen der Frage nach, warum seit der Antike bis zum Beginn des 12. Jhs. die eigene, von der Kindheit an gelernte Sprache "lingua partria, propria, nativa, sermo partrius" und dgl. hieß und sich erst danach, ab etwa 1100, fast gleichzeitig überall "lingua materna" als Bezeichnung für alle Arten von Volkssprache durchsetzt, wobei das Zentrum dieses Wandels sich im Bereich der sog. Loirekreis-Dichter, Anselms von Canterbury und Guiberts von Nogent befindet. Am meisten hat wohl der Letztere zu dieser neuen Begrifflichkeit beigetragen, die sich wesentlich auf die Zweisprachigkeit im klerikal-monastischen Milieu bezieht. Guiberts bekannte Mutterbindung, sein "autobiografisches" Interesse an der eigenen Spracherziehung, seine literarischen Ambitionen als Latein-Virtuose und anderes mehr bestimmten offenbar seine Vorliebe für die Gegenüberstellung einer illiteraten, urwüchsigen, häuslichen, rein mündlichen Sprache der Mutter - des "Fleisches" - und einer außer Hauses hart erarbeiteten Schriftsprache des Geistes, die vollkommen erst beherrscht, wer sie so flüssig wie die Volkssprache spricht, d.h. wer "wie ein Buch spricht". Die von Grondeux vorgebrachte rein philologische Ableitung des Terminus "lingua materna" aus einem Ovidvers dürfte dabei weniger Gewicht haben als Banniards in die Diskussion eingebrachte sozialgeschichtliche Erklärung: die Hauptursache für die Einführung des Begriffs "Muttersprache" liege einfach daran, dass in der Vorgeschichte Latein bereits zur "Vatersprache" geworden ist. Seit der karolingischen Ausdifferenzierung der romanischen Volkssprache als "rustica" (später etwas weniger pejoriativ als "gallica", vor allem im Kontrast zu "germanica") wurde das herkömmliche schon altlateinische "lingua patria" für "eigene Sprache" homonym mit der Sprache der "geistlichen Väter" im Kloster. Die Sprache der "illiterati" wurde Muttersprache, weil sie nicht in der Klosterschule, nicht in einer Männergemeinschaft erlernt wurde, sondern häuslich-private "Frauensache" blieb (hierzu vgl. auch unten Teil 6.5-7 zu "gender"-Fragen).

3.6. Cédric Giraud zeigte, wie die bereits zu einem klerikalen Standesprivileg gewordene lateinische Sprache durch Meister der frühscholastischen Theologie überdies zu einer eigenen (sozial und intellektuell exklusiven) Sondersprache, einem "Technolekt" entwickelt wurde. Deren bewusste Verrätselung und Unzugänglichkeit zwang die kirchlichen Instanzen zu dogmatischen Regulierungen der Begriffe. Doch der wesentlich mündlichen, schnell fluktuierenden Kultur der Schulen war durch schriftliche Fixierungen nicht leicht beizukommen. Ein Ergebnis dieser Festlegungsversuche war die neue Gattung der nicht nur die autoritativen Väterstellen, sondern auch die "dicta" zeitgenössischer Magistri aufnehmenden "Sentenzen". Deren anonyme Anführungen ("quidam") zeigen nicht etwa Gleichgültigkeit für Zuschreibungen, sondern sind ein Zeichen für die geistige Beweglichkeit und der jeder Verschriftlichung vorauseilenden Verbreitung neuer Gedanken im Schulmilieu.

4. Sprachdifferenzen und deren Überwindung / Différences et identités linguistiques

4.1. Michael Richter (Konstanz, Geschichte): "Giraldus Cambrensis und die Reise durch Wales im Jahr 1188".

4.2. Serge Lusignan (Montréal, Geschichte): "Parler en français : altérité et identité des Anglais et des Français à la fin du Moyen Âge".

4.3. Ursula Schaefer (Dresden, Anglistik): Replik zum Beitrag von Serge Lusignan (in Vorb.).

4.4. Oliver Auge (Greifswald, Geschichte) : "Hansesprache versus Hochdeutsch - Zu Verständigungsproblemen und Identitätsbildung durch Sprache anhand des Sprachwechsels norddeutscher Fürsten und ihrer Kanzleien ab 1500: Die Beispiele Mecklenburg und Pommern".

4.5. Kay Peter Jankrift (Augsburg, Geschichte): "Rechtsgeschäfte, Handelsalltag und die übersetzte Stimme des Herrn. Dolmetscher im Zeitalter der Kreuzzüge".

4.6. Thomas Haye (Göttingen, Mittellatein): "West-östliche Kommunikation. Latein und Griechisch als Medien der Verständigung zwischen Abendland und Byzanz".

In dieser Abteilung wurden sprachliche Kommunikationsprobleme und deren Wahrnehmung in ganz verschiedenen funktionalen Kontexten der Lebenspraxis behandelt.

4.1. Michael Richter präsentierte den in mehrer Hinsicht eigenartigen, ja sonderlichen Bericht des Giraldus Cambrensis über die Kreuzzugspredigt-Reise des Erzbischofs Baldwin von Canterbury von 1188 durch Wales. Der Beitrag wurde bewusst nicht in die Tagungssektion "Predigt" aufgenommen, da der Berichterstatter sich kaum für homiletische Fragen, umso mehr aber für geographische und ethnische Eigenheiten seiner mehrsprachigen Umwelt interessierte, in der je nach Herkunft, Bildung und Stand englisch, walisisch, französisch und lateinisch gesprochen wurde und auch das Dolmetscherwesen blühte. Die Verständlichkeit der (lateinischen oder französischen) Predigtsprache für die walisischen Zuhörer erscheint verglichen mit dem Aspekt der Inszenierungseffizienz als nebensächlich, was sich ironischerweise gerade darin zeigt, dass Giraldus in einem scherzhaften Selbstlob bemerkt, seine eigene lateinische Predigt hätte, wäre sie walisisch gewesen, alle in den Kreuzzug getrieben und derart die ganze Gegend entvölkert. Wie auch in den nachfolgenden Beiträgen zeigt sich hier im Übrigen die starke Abhängigkeit des Sprachgebrauchs von außersprachlichen (insbesondere sozialen und politischen) Faktoren, die eine Sprache kontextuell auf- oder abwerten.

4.2. Ein Paradebeispiel dafür bot der Vortrag von Serge Lusignan über die politische Identitätsbegründung durch Sprache am Ende des 100jährigen Kriegs im 15. Jh., insbesondere die Auflösung der französisch-englischen Zweisprachigkeit zugunsten des Englischen im Königreich England, dargestellt an zahlreichen Auseinandersetzungen über die Verkehrssprache bei Friedensverhandlungen. Die Sprachdifferenz zwischen einem in England zusehends dialektal oder gar fremdsprachlich werdenden Französisch (immerhin bis in die Neuzeit offizielle Zweitsprache der Kanzleien) und dem am französischen Hof gesprochenen Pariser Französisch führte die englischen Diplomaten zunächst dazu, nur noch schriftliche Vorlagen auf Französisch zu akzeptieren, und aus Misstrauen gegen semantische Fallstricke den mündlichen Austausch in dieser Sprache abzulehnen. Später ließen sie auch schriftlich nur noch die "neutrale" und angeblich eindeutigere Sprache Latein zu, auch wenn sie dadurch einen guten Teil ihrer Zuständigkeit an klerikale Kronjuristen delegieren mussten. Probleme der Verständlichkeit waren jedoch oft (bei nachweislich perfekter Französischkompetenz der Engländer) nur der Vorwand, um sich der Sprachhoheit des französischen Verhandlungspartners nicht beugen zu müssen. Sprachenfragen sind Machtfragen. ( Ironischerweise weigern sich heute Franzosen das internationale Englisch zu akzeptieren.)

4.4. Ebenfalls noch im 15. Jh. zeigten sich in Norddeutschland vergleichbare Spannungen zwischen dem Hochdeutsch der von Kanzleien unterstützten Landesfürsten und den auf hergebrachtem Niederdeutsch beharrenden Hansestädten, wobei Oliver Auge auch in diesem Widerstand gegen vereinheitlichenden Sprachwandel außersprachlich-politische Motive plausibel machen konnte.

4.5. Kai Peter Jankrift gab einen reichhaltigen Überblick über die Fremdsprachen-Kenntnisse und das Dolmetscherwesen in den interkulturellen Kontaktzonen der levantinischen Kreuzfahrerstaaten und der iberischen Halbinsel unter besonderer Berücksichtigung der muslimischen und jüdischen Perspektive der fremdsprachlichen Verständigung.

4.6. Demgegenüber zeigte Thomas Haye eindrücklich die abgrundtiefe theologisch-politisch begründete Sprachlosigkeit zwischen zwei christlichen Kulturen, dem lateinischen Abendland und dem griechischem Byzanz, stellte jedoch weniger die bekannten Beispiele des Missverständnisses und Misstrauens auf beiden Seiten in den Vordergrund als einige seltene Fälle oraler Kommunikation auf den Gebieten des diplomatischen Austauschs, des Religionsgesprächs und der Kreuzzugsbewegung.

5. Sprachliche Probleme der Verkündigung (Predigt und Mission) / Problèmes linguistiques des prédicateurs et missionaires

5.1. Franco Morenzoni (Genf, Geschichte): "Les prédicateurs et leurs langues à la fin du moyen âge."

5.2. Carla Casagrande (Pavia, Philosophie): " "Sermo affectuosus". La prédication et la transmission des émotions".

5.3. John Tolan (Nantes, Geschichte) : " Les problèmes linguistiques rencontrés par les missionnaires mendiants (en terre d'Islam) ".

5.4. Gert Melville (Dresden, Geschichte): "Die Sprache beim 'Dialog' zwischen den Kulturen. Zum Religionsgespräch Rubruks vor dem Khan der Mongolen" (in Vorb.)

5.5. Adriano Prosperi (Pisa, Geschichte) : " "Come i fanciulli": il problema della lingua tra i missionari gesuiti fuori d'Europa" .

Diese Abteilung wurde von vornherein als das wichtigste Unterthema angekündigt, auf das hin sich denn auch viele Beiträge ausgerichtet hatten. Denn es ist kein geringes Paradox, dass die Kultur des christlichen Westens, die sich auf die Einheit und Allgemeinheit ihrer " frohen Botschaft ", eines zu verkündenden " Worts " beruft, oft so manifest unfähig und unwillig war, die für die Verkündigung nötigen Sprachkenntnisse zu erwerben und anzuwenden, teilweise sogar bereits intrakulturell in der volkssprachlichen Umsetzung der lateinischen Klerikerkultur für die "simplices" genannten Laien, vor allem jedoch interkulturell im Umgang mit den in ganz anderen Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten aufgewachsenen Fremden (Barbaren, Heiden). Das hochabstrakte, übersubtile Latein - ein in der Hochscholastik zu einem Sprachpanzer gewordener Jargon - eignete sich besonders schlecht für Missionszwecke. (Das Beispiel Wilhelm Rubruks bei den Mongolen, das im Beitrag von John Tolan und einem extemporierten "close reading" dessen Reiseberichts durch Gert Melville zur Sprache kam, steht dafür als pars pro toto.) Erst nach der Entdeckung der Neuen Welt und deren völlig unbekannten Sprachkulturen befreite sich die Jesuitenmission von denm bisherigen intellektuell-religiösen Scheuklappen und kulturellen Exklusions-Vorurteilen, indem sie professionell eine raffiniert durchdachte Strategie des auch im linguistischen Sinne "wirkenden Wortes" entwickelte, die zu einem bisher unbekannten missionarischen Erfolg führen sollte. (Der wichtige diesem Thema gewidmete Beitrag des abwesenden Adriano Prosperi konnte bedauerlicherweise aus Zeitgründen auf der Tagung nicht mehr diskutiert werden.)

5.1. Die ersten beiden hier zu zusammenzufassenden Beiträge galten intrakulturellen Predigtproblemen. Franco Morenzoni zeigte in einem breiten Panorama voller feinsinniger Einzelbeobachtungen das funktionale Verhältnis von Latein und den Volkssprachen, das sich einerseits weitgehend als unproblematisches Hin und Her zwischen lateinischer Schriftlichkeit ("reportationes" oder Modellpredigten) und der unmittelbare Umsetzung in die Volkssprache fassen lässt, sich andererseits auf eine komplexe Anpassung an die Zusammensetzung der Zuhörerschaft, die aus Laien, Klerikern oder einem gemischten Publikum beider "genera" bezieht, was gegebenenfalls zu mehrsprachigen Predigten (wohl zu unterscheiden von den sog. "makaronischen" Predigten, die eher eine literarische Spielform darstellten). Morenzoni bestand darauf, dass die Mehrheit der Prediger die Volkssprache nicht verachtete (auch wenn er einige krude Beispiele des Gegenteils anführte, die offenbar als Ausnahmen die Regel bestätigen sollten). Auch er betonte hinsichtlich der Predigtkompetenz, was so viele Beiträge auf anderen Gebieten zeigten, dass die Sprachkenntnis kaum je explizit zum Problem wurde (einzig hinsichtlich des Beichthörens wurde die Kenntnis der Ortssprache gelegentlich für verbindlich erklärt). Wie leicht die Prediger es sich dabei machten, zeigt etwa Jordan von Sachsen, der im Heiligen Land vor einem französischsprachigen Publikum auf deutsch predigte und sich deshalb bemühte, da und dort ein paar Brocken Französisch einzuflechten, da er meinte, dies genüge vollauf für die Verständlichkeit, da man ja auch "ein Tier erkenne, wenn man nur seinen Kopf sieht". Ohne dass chronologische und regionale Differenzen besonders hervorgehoben wurden, lässt sich doch als vielleicht wichtigste Schussfolgerung aus diesem Beitrag ziehen, dass noch im Spätmittelalter die Sprachfamilie der "Romania" verschiedenen Meistern der Predigt erlaubte, von Sizilien bis Spanien ungefähr dieselbe Predigt "in romanice" zu halten, indem sie ihr durch kleine Anpassungen der Aussprache den jeweils erforderlichen Lokalkororit gaben. Giovanni Dominici von Florenz beklagte sich, seine eigene linguistische Identität verloren zu haben und nur noch sein hybrides Romanisch zu beherrschen, das in Wirklichkeit eine Mischung der verschiedenen, im Laufe seiner Reisen gelernten Volkssprachen darstellte. (Eine Parallele zur mittelmeerischen "Lingua franca" der Kaufleute? Zur Unverständlichkeit von Predigten, die die Grenze zwischen der germanischen und romanischen Sprachfamilie überschritten, s. hingegen unten 5.3, Tolan.)

5.2. Der Beitrag von Carla Casagrande über die aus der Rhetorik hergeleiteten Forderung nach Emotionalität (dem "flectere") in der Predigt scheint direkt wenig mit dem Thema Sprachdifferenzen zu tun zu haben; in Wahrheit aber findet sich darin eine wesentliche Erklärung für die verbreitete Geringschätzung von Sprachbarrieren: Nicht die Worte des Predigers zählen, sondern die Gemütsbewegungen, die er mit welchen Mitteln auch immer, charismatisch auszulösen vermag. Der Affekt erfuhr bekanntlich nach E. Auerbachs "Passio als Leidenschaft" eine durch die Inkarnation garantierte, zuvor nie gekannte Aufwertung. Der Prediger bedient sich eher sekundär der (sich an den Intellekt wendenden) Sprache, sondern primär einem ganzen Register von emotionalisierenden Inszenierungsformen wie Mimik, Gestik, Lautstärke, u.s.w. deren einziges Ziel die völlige Erschütterung und "conversio" der Zuhörer ist. Roger Bacon hat in diesem Zusammenhang nicht einmal davor zurückgeschreckt, für den Predigterfolg Mittel der Magie zu empfehlen. Effizienz ist alles, könnte man sagen: "Wort ist Schall und Rauch". In der Diskussion kam nicht umsonst Diderots Problem des "Paradoxe sur le comédien" zur Sprache: Muss der Prediger Affekte nur zeigen oder sie selber empfinden, um Erfolg zu ernten? Bereits im Mittelalter waren die Meinungen hierzu geteilt.

5.3. John Tolans Vortrag, der die ganze Tagung mit einem glücklichen Finale beschloss, war eine kluge Auswahl von Hauptaspekten eines einzigen mittelalterlichen Fiaskos, an dem es grundsätzlich nichts zu beschönigen gibt: Aufgrund von Sprachdifferenzen, die bis an die Schmerzgrenze einfach ignoriert wurden, und als es nicht mehr anders ging (im 14. Jh.), mit uns nur wenig bekannten, aber eher verdächtigen Bastelmethoden zu überwinden gesucht wurden, blieb die Mission von vornherein zum Misserfolg verurteilt. Von den späten, sporadischen Versuchen, sich Fremden sprachlich zu nähern und sie zu bekehren, lässt sich höchstens sagen: "tamen est laudanda voluntas" (s. oben 2.4: Friedlein zu Ramon Llull ). Tolan beleuchte zu Beginn, dass das Predigen jenseits der eigenen Sprachgrenzen selbst im christlichen Europa zu den unglaublichsten Missverständnissen führte, dass erste umbrische Franzsikaner in Deutschland verprügelt und des Landes verwiesen wurden, so dass sie - genau wie später über Sarazenen - zu Hause berichten konnten, in dieses barbarische Land lohne es sich nur zu ziehen, wenn man unbedingt den Märtyrertod erleiden wolle. Tolan unterschied drei große Etappen des Umgangs der Mendikanten mit dem missionarischen Sprachenproblem. Zu ersten Etappe, zu der das eben zitierte Beispiel, aber auch der legendäre Besuch Franz' von Assisis beim Sultan al Khamil gehörten (darüber wird Tolan noch dieses Jahr ein Buch veröffentlichen), nennt er treffend die Zeit der "ignorance béate," bei der man einfach vom Geist erleuchtet loszieht, ohne irgendwelche Vorbereitungen zu treffen, und von vornherein das Martyrium in Kauf nahm. Die zweite, die mit Rubruks (den Dolmetschern in die Schuhe geschobenen) Scheitern beginnt, ist die Etappe der Übersetzer und die dritte beginnt mit dem Konzsilbeschluss von Vienne 1311: die Etappe der Sprachschulen. Ohne weiter auf Anekdotisches zu der misslungenen Mission in Nordafrika einzugehen, genügt ein Blick auf Roger Bacon, einen der ganz wenigen fremdsprachen-bewussten Denker des Mittelalters, der sich für das Studium aller drei heiligen Sprachen, aber auch der Wissenschaftssprache Arabisch einsetzte und doch den Unterschied zwischen der Sprache des Koran und dem (regional überaus vielgestaltigen) gesprochenen Arabisch offensichtlich nicht kannte, und somit den Missionaren im klassischen Arabisch zu predigen empfahl. (Selbst heute soll es ja noch Ausbildungssysteme geben, die moderne Fremdsprachen wie tote Sprachen unterrichten.)

6. Norm und Krise der verbalen Kommunikation / Norme et crise de la communication orale

6.1. Rüdiger Schnell (Basel, Germanistik): "Vom Nicht- und Missverstehen. Zu Hindernissen sprachlicher und nicht-sprachlicher Interaktion im Mittelalter".

6.2. Alois Hahn (Trier, Soziologie): "Missverständliches Schweigen" (in Vorb.).

6.3. Renate Lachmann (Konstanz, Slavistik): "Reden und Schweigen in der altrussischen Kultur".

6.4. Werner Röcke (Berlin, Germanistik) : "Verfehlte Kommunikation. Konsens und Verwirrung in Heinrich Wittenwilers Ring und im Lalebuch".

6.5. Doris Ruhe (Greifswald, Romanistik): " Wie sollen Frauen sprechen? Zur Regulierung weiblichen Sprechverhaltens in Erziehungsschriften des französischen Mittelalters.

6.6. Danielle Bohler (Paris/Bordeaux, Romanistik): " Babel et la régulation normée de la parole chez Christine de Pizan ".

6.7. Gerhard Jaritz (Budapest/Krems, Geschichte) : "Gender, Gesprächsbarrieren und visueller Befund".

Diese Sektion berührte als eine Art Appendix einige Grenzgebiete des Hauptthemas, nicht unmittelbar die Problematik der Sprachdifferenz, sondern ethische, religiöse u.a. normative Vorgaben, die einerseits den Wert und Unwert der Sprache und des Sprechens überhaupt betreffen, andererseits die spezifisch dem weiblichen Geschlecht zugeschriebenen Zungensünden und deren Kontrolle, wobei man mit Anselm Haverkamp sich - mit oder ohne Metaphorik - fragen mag, ob "die Geschlechterdifferenz, die unhintergehbarste der gelebten Differenzen, übersetzbar" sei und somit eine eigentliche Sprachdifferenz "sui generis" darstelle.4

6.1. Der Beitrag von Rüdiger Schnell, der bei der Tagung innerhalb der methodologischen Sektion 1 gehalten wurde, eignet sich besser als Eröffnung dieses Teils, da er in einem äußerst dichten und vielseitigen Überblick über die möglichen "approaches" auch Übergänge zwischen sprachbedingten und nichtsprachbedingten Verständnis-Behinderungen zeigte. Ohne diesen Beitrag könnte der Begriff "Verständnis" im soziolinguistischen Sinn der Dekodierung und im sozialpsychologischen und sozio-politischen Sinne der Verständigung und des Konsenses als eine bloße Homonymie erscheinen, wie sie etwa den ominösen Äquivokationen habermasscher Diskursethik zugrunde liegt. Schnell zeigte an einigen konkreten Beispielfällen exemplarisch typische Aspekte von Interaktionshindernissen, von denen hier besonders eine Szene aus dem Nibelungenlied herauszuheben ist, die Missverstehen aus der Konkurrenz der beiden Zeichensysteme der Verbal- und der Körpersprache bei gleichzeitiger Widersprüchlichkeit (im Sinne einer "double bind" Situation) erklärt und damit die dem Mittelalter oft allzu einseitig unterstellte sprachlose, visuell-körpersprachliche Ritualisierung grundsätzlich in Frage stellt. Andererseits brachte ein wichtiger Abschnitt Belege für den mittelalterlichen Metadiskurs über die Unzulänglichkeit bzw. Beschränktheit des Verstehens emotionaler Äußerungen: Das Verstehen der Worte allein reiche danach nicht aus, um zu erkennen, in welchem emotionalen Zustand sich jemand befinde. Voraussetzung für ein adäquates Verstehen seitens der Hörer sei es, eine ähnliche Emotionssituation selbst erlebt zu haben. Diese sprach- und kommunikationsskeptischen Reflexionen über Empathie lassen sich sowohl auf den Beitrag von Casagrande (oben 5.2) wie auf den nun folgenden von Renate Lachmann beziehen.

6.3. Lachmanns Beitrag verfolgte die Kultur des Schweigens im griechisch-russischen Hesychasmus, einer ostkirchlichen Ausprägung der Mystik. Es zeigte sich sofort der eklatante Unterschied zu den meisten westlichen Schweigekulturen in einer Radikalität der vollständigen Entleerung nicht nur aller Worte, sondern auch aller Gedanken, ja des Denkens selbst zugunsten der Erfahrung der Gottesnähe. Diese Radikalität ist verständlich als Opposition zur 'offiziellen' Orthodoxie und der von ihr kanonisierten Redekultur, die ihrerseits im Westen kaum Vergleichbares findet. Das Schweigen, im Sinne der 'Stille' und 'Ruhe' bezeichnenden "hesyche", wird durch eine Askesepraxis erreicht, die den Verzicht auf die Äußerung mit Sprachlauten mit dem Verzicht auf 'Leidenschaften' und 'Handlungen' verbindet und der Askese in Essen, Trinken und Alltagsbequemlichkeit gleichkommt. Der Artikulationsverzicht, der zugleich bedeutet, dass der Hesychast weder Gedanken noch Wissen bekunden kann (er gibt sich als verstummter Wissender), verschafft ihm in Verbindung mit A-Pathie und A-Praxie die Beglückung durch unmittelbare Gottesnähe, bzw. die unvermittelte Annäherung an den Bereich des Göttlichen. Das hesychastische Schweigen ist ein 'Zustand', dessen Erreichung impliziert, sich in einem ungegliederten, durch nichts akzentuierten Kontinuum einzurichten. Es geht also nicht um ein diskontinuierliches Schweigen als Sprechverbot zu bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten, ebenso wenig wie um ein rhetorisch funktionierendes Schweigen, das vor, nach oder in der Rede expressiv eingesetzt wird. Allerdings tritt der Wortlosigkeit nicht nur die Kirchenpredigt, sondern auch die Hagiographie gegenüber, die gerade hervorragende Hesychasten zu ihren Helden macht und die Ausgestaltung ihrer Vita mit raffinierten rhetorischen Verfahren bewerkstelligt. Die Hagiographen beklagen die Armut der Sprache, die dem Wunder der heiligmäßigen Lebensführung nicht gerecht werden kann und entfalten wortreich die Topik der Unsagbarkeit. Hier nun wird das Schweigen strategisch eingesetzt, um dieses Unvermögen zu bekunden. Es ging neben der Darstellung dieser Schweige- und Redeformen (und ihrer rhetorischen Analyse) auch um die Behandlung der Frage, ob das hesychastische Schweigen, in Analogie zum Ikonoklasmus, als eine Art Logoklasmus funktioniert.

6.5-6. Die drei folgenden Beiträge waren dem geschlechtsspezifischen Sprechen der Frau gewidmet, wobei die beiden ersten sich auf didaktisches Schrifttum, der dritte auf ikonologische Quellen stützte. Doris Ruhe präsentierte ein spätmittelalterliches Panorama der Erziehungsliteratur für Mädchen und Frauen, die man unter das Leitwort "custodia linguae" stellen könnte, zunächst aus der Feder von Männern danach von Frauen selbst für ihre Geschlechtsgenossinnen, insbesondere von Christine de Pizan, der Danielle Bohler sich im nächsten Beitrag ausschließlich widmete und dabei vor allem die normativen Funktionen des Mythos von Babel analysierte, wie sie Christine in mehreren ihrer Werke beschwor. Besonders interessant war daran die ambivalente Einschätzung des Turmbaus, der, wäre er nicht von der Sünde des Stolzes motiviert gewesen, eigentlich ein Modell für einen sowohl professionell (Nemrod als perfekter Architekt) wie sozial-politisch gut organisierten, "konstruktiven" Staatskörper hätte abgeben können. Man kann in der Deutungsgeschichte des Sündenfall-Mythos im Spätmittelalter ähnliche "prometheische" Umwertungen im Sinne der "felix culpa" festellen. Christine sieht in der göttlichen Strafe für den Turmbau kein sprachliches, sondern ein soziales Unheil, die Zerstörung der Harmonie durch Zwietracht, deren Wiederherstellung für sie in einer mehr oder weniger utopischen Zukunft weiser "polititie" liegt. Damit bestätigt auch sie, dass moralische Implikationen der Rede den Sinn für die Sprache als solche verstellten.

6.7. Gerhard Jaritz ging schließlich einem wenig bekannten Typus von Fresken in der Eingangspartie spätmittelalterlichen Kirchen in ganz Europa nach, die tuschelnde und schwatzende Frauen in Gesellschaft von Teufeln und Dämonen darstellen. Es entspann sich eine interessante Diskussion über die kontextuelle Tragweite dieser sich manifest an Frauen wendende Ikonographie, insbesondere, was die Bedeutung des Kirchenraums als öffentliche Begegnungsstätte (und "Klatschforum") betrifft.

Anmerkungen:
1 Hedwig Röckelein u.a. veranstalten in Göttingen mit der Mission historique française en Allemagne im Februar 2007 eine Tagung über: "Übersetzen als geschichtswissenschaftliches Problem / Traduire: un problème pour l'historien", und Pierre Monnet u.a. haben im Winter 2006/07 ein "Séminaire" an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris aufgebaut über: "Les mots de l'histoire".
2 Peter von Moos, "Babel, Pfingsten und die Sozialgeschichte der Sprache, Versuch einer Synthese, oder: Metasprachliche und objektsprachliche Verständigungsprobleme einer interdisziplinären deutsch-französischen Tagung über vergangene Interaktion" (in Vorb.).
3 Vgl. hierzu neurdings auch B. Grévin (Hg.), La résistible ascension des vulgaires - contacts entre latin et langues vernaculaires au bas Moyen Age : problèmes pour l'historien, Mélanges de l'Ecole française de Rome 117/2, Rom 2006.
4 Anselm Haverkamp, Die Sprache der anderen, Frankfurt am Main 1997, S. 11.


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