Anfänge und Grundlegungen moderner Pädagogik im 16. und 17. Jahrhundert

Anfänge und Grundlegungen moderner Pädagogik im 16. und 17. Jahrhundert

Organisatoren
Universität Bielefeld
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.11.2002 - 30.11.2002
Url der Konferenzwebsite
Von
Lars Behrisch und Johannes Altenberend

Auf der Bielefelder Tagung "Anfänge und Grundlegungen moderner Pädagogik im 16. und 17. Jahrhundert" trafen sich Historiker und Pädagogen aus Deutschland und der Schweiz, um gemeinsam das Bild der Entwicklung von Lehrinhalten, Lehrmethoden und Lehrinstitutionen vor dem Zeitalter der Aufklärung zu schärfen. Von der interdisziplinären Diskussion erhofften sich die Organisatoren eine Aufhellung der blinden Flecken, die das jeweilige fachspezifische Forschungsinteresse hinterläßt. Das sozialhistorische Interpretament der "Konfessionalisierung" sollte als Katalysator für die Erarbeitung eines Gesamtbildes der frühneuzeitlichen Bildungslandschaft dienen, das den Forschungsstand umfassend repräsentiert.

Es liegt in der Natur solch hochgesteckter Erwartungen, daß sie allenfalls mit Abstrichen verwirklicht werden. Groß angelegten und fächerübergreifenden Tagungen wohnt eine zentrifugale Tendenz inne, die oft schwer zu bändigen ist. Selbst wenn man diese Erfahrungswerte in Rechnung stellt, geben die Resultate der Tagung aber Anlaß zu gewisser Resignation: Es war offensichtlich, daß die fachspezifischen Diskurse nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen sind. Die Historiker mußten sich vorwerfen lassen, den differenzierten Blick auf die Lehrinhalte des höheren Bildungswesens zu scheuen und diese als bloße "Philosophiegeschichte" aus ihrem Gesichtsfeld zu verbannen. Ihrerseits kritisierten sie die Pädagogen dafür, sich dem konkreten Nachweis der Umsetzung vorgegebener Bildungsinhalte im Schulalltag zu entziehen. Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Differenzen schrumpfte das anspruchsvolle Paradigma der "Konfessionalisierung" immer mehr auf die Frage nach geistesgeschichtlichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Konfessionen herab. Diese Formel blieb letztlich das einigende Band und die einzige Ebene, auf der Historiker und Erziehungswissenschaftler eine gemeinsame Sprache fanden.

Die Tagung wurde von Hans-Ulrich Musolff (Bielefeld) eröffnet, der die Erwartungen von erziehungswissenschaftlicher Seite skizzierte. Er betonte, daß es angesichts der Marginalität der frühneuzeitlichen Bildungsgeschichte notwendig sei, neben Historikern auch Theologen, Philosophen, Germanisten und Kunsthistoriker einzubeziehen. Er begrüßte es, daß die üblichen "Standardthemen", wie etwa staatliche Schulordnungen, diesmal nicht im Zentrum des Interesses ständen. Das besondere Interesse gelte vielmehr denjenigen bildungsgeschichtlichen Quellen, die aus dem Kontext der Konfessionalisierung stammten, so etwa dem Konkordienbuch von 1580. Das notorische Problem der historischen Pädagogik - die Verengung des Blicks auf territorialstaatliche Normsetzungen - könne und solle damit korrigiert werden. Dazu sei die Tagung umso mehr geeignet, als sie mit Westfalen und der Schweiz Regionen in den Vordergrund stelle, die von der bildungsgeschichtlichen Forschung bislang eher als peripher angesehen wurden. Anschließend umriß Andreas Suter (Bielefeld) die wichtigsten Prämissen und Erkenntnisse der Konfessionalisierungsforschung und warb dafür, ihre Perspektiven als "Auslegeordnung" zu nutzen, auf deren Grundlage eine für beide Seiten gewinnbringende Diskussion geführt werden könne. Das Konzept der Konfessionalisierung fordere eine solche Kooperation geradezu ein, da es Bildung als einen zentralen Aspekt der Elitenformierung wie der gesamtgesellschaftlichen Transformierung betrachte. Angesichts des Mangels an konkreten Fallstudien könne die Konfessionalisierungsforschung ihrerseits durchaus von der erziehungswissenschaftlichen Forschung profitieren.

Daran knüpfte Stefan Ehrenpreis (Berlin) an, indem er das Potential der Bildungsgeschichte als "Prüfstein" für das Paradigma hervorhob. Er stellte allerdings fest, daß die deutschsprachige Forschung im Vergleich zu den europäischen Nachbarn deutlich im Rückstand sei: In Frankreich liefere das Zusammenspiel von Institutionengeschichte, Familiengeschichte und Alphabetisierungsforschung wichtige Erkenntnisse zur "Breitenwirkung" von Bildung, die weit über den an Schulen und Universitäten meßbaren Rahmen hinausreichte. Vergleichbare Anstrengungen wurden im angelsächsischen und niederländischen Raum unternommen, wobei hier vor allem die Katechese als gesamtgesellschaftlich relevantes Bildungsfeld in den Blick genommen wurde. Für die noch zu schreibende deutsche Bildungsgeschichte im Zeitalter der Konfessionalisierung wies Ehrenpreis auf konkrete Forschungsschneisen in Gestalt von konfessionellen Spezifika hin: die Frauen- und Bettelorden, der Pietismus, die calvinistischen Gemeindeschulen. Ganz grundsätzlich lenke die Konfessionalisierungsperspektive, den Blick verstärkt auf das niedere Schulwesen als den zentralen "Mittler religiöser Kenntnisse und Handlungsanweisungen". Die Quellen dazu lägen in Gestalt von Schulbüchern, Stundenplänen und Schülerlisten zwar nicht in serieller Dichte, aber doch in ausreichender Vielfalt vor. Diesem historischen 'Grundlagenvortrag' folgte das erziehungswissenschaftliche Gegenstück: Rudolf Keck (Hildesheim) entwarf darin das überzeugende Bild einer Kontinuität katechetischer Bildungsanstrengungen, die von der "Hildesheimer Tafel" von 1451 über Luthers Katechismus bis zu Petrus Canisius auf katholischer Seite reichten. Anhand dieses Befunds konnte er zeigen, daß die "Problematisierung" der Bildung durch die neue Qualität von Religion nicht zu einer "Schismatisierung" des Bildungswesens führte. Nicht eine spezifische "Schulvaterschaft" Luthers - ein quellenferner protestantischer Mythos - sondern vielmehr die "dilatorische Schwebelage" im Reich vor der Jahrhundertmitte habe die konfessionsübergreifende Hervorbringung neuer Bildungsformen begünstigt und bewirkt. Mit dem qualifizierten Nachweis der funktionalen Kongenialität der Konfessionen - ungeachtet aller inhaltlichen, formalen und zeitlichen Unterschiede - demonstrierte Keck, daß die Anbindung der beiden Tagungsdisziplinen prinzipiell durchaus sehr fruchtbar sein kann.

Die heuristische Funktion des Konfessionalisierungsparadigmas wurde in der folgenden Sektion deutlich, in der Agnes Winter (Berlin), Andreas Lindner (Erfurt), Jens Bruning (Leipzig) und Daniel Tröhler (Zürich) das bikonfessionelle höhere Schulwesen auf städtischer und regionaler Ebene mikrohistorisch untersuchten. Sie hoben übereinstimmend hervor, daß die Schulen, obwohl sie durchaus konfessionelles Selbstbewußtsein ausdrückten und die Auswahl der Lehrer konfessionsgebunden war, bis ins 17. Jahrhundert kein Feld konfessioneller Auseinandersetzungen waren. Auch blieb der Einfluß der Obrigkeit auf die Entwicklung und Ausprägung der Schulen geringer, als man vermuten könnte. Das lag zum einen daran, daß die Schulen ohnehin auf die jeweiligen Konfessionskulturen festgelegt waren; zum anderen bewahrten die städtischen Verwaltungen und regionalen Verwaltungseinheiten bis weit ins 18. Jahrhundert relativ großen Einfluß auf die Schulen. Eine zu enge, etatistische Betrachtung bei der Analyse des Schul- und Bildungswesens führe daher, so betonte Bruning, zu verzerrenden Ergebnissen. Es komme darauf an, die Vielfalt der Bildungszustände zu berücksichtigen, das Untersuchungsfeld auf das Landschulwesen zu erweitern und regionale Vergleiche durchzuführen. Gleichzeitig wurde jedoch deutlich, daß die Bedeutung der landesherrlichen Universitäten für die Herausbildung konfessionstypischer Eliten und ihr Einfluß auf die Institutionenbildung nicht vernachlässigt werden darf.

Die Sektion, die sich mit Comenius (Lutz Koch, Bayreuth) und Ignatius von Loyola (Luisa Margarita Schweizer, Cordoba) dem "Höhenkamm" der Bildungsgeschichte zuwandte, förderte hingegen die unterschiedlichen Diskurszusammenhänge der beiden Tagungsdisziplinen in aller Deutlichkeit zutage. Nicht die spezifischen Differenzen und Gemeinsamkeiten oder erst recht die funktionalen Konvergenzen - das Hauptinteresse der Historiker - kamen hier zu Sprache. Vielmehr ging es um biographie- und werkimmanente Probleme, die beurteilt wurden nach dem Grad ihrer Modernität, und das hieß letztlich: der inhaltlichen und methodischen Gültigkeit der pädagogischen Theorien für die heutige Zeit. Wo die Kontrastierung mit Bacon und Descartes das methodische Rüstzeug für die Analyse der Schriften Comenius' war, wurde die intellektuelle Entwicklung Ignatius' als Erweckungsgeschichte beschrieben, deren zeitspezifische Ausformung nicht konkretisiert wurde. Dem Historiker blieben diese Ausführungen daher weitgehend verschlossen.

Als communis opinio konnte abschließend zweierlei festgehalten waren: die Kongruenzen zwischen den pädagogischen Konzepten der Konfessionen wogen schwerer als die Differenzen. Unterschiedliche Inhalte wurden mit ähnlichen Methoden umgesetzt, ähnliche Strategien in unterschiedliche Formen gekleidet. Zweitens wurden die konfessionellen Ideale im Bildungsbereich kaum durchgesetzt. Dies lag nicht zuletzt daran, daß die frühneuzeitlichen Obrigkeiten nicht die Definitionshoheit über Lehrinhalte und Lehrmethoden besaßen. Nichtstaatliche Determinanten, aber auch didaktische Nützlichkeitsorientierungen, die sich jeder Theorie sperrten, bestimmten oft die Bildungsrealität.

Der Status dieses Befundes für das Gesamtbild der Konfessionalisierung als eines "gesamtgesellschaftlichen Fundamentalvorgangs" (Schilling) blieb jedoch offen. Dem von Hans-Ulrich Musolff vorgebrachten Anspruch, mit den Erkenntnissen der Bildungsforschung die Tragfähigkeit des Konzepts, abgesehen von der Formierung staatlicher Eliten, widerlegen zu können, wurde von Stefan Ehrenpreis widersprochen. Letzterer betonte allerdings, daß die Kontinuitäten bildungsgeschichtlicher Befunde - besonders hinsichtlich der Lehrinhalte - über die Mitte des 17. Jahrhunderts hinaus das Problem der Terminierung des Prozesses unterstrichen. Thomas Maissen (Luzern) regte an, in Konkurrenz zur Leitkategorie "Konfessionalisierung" die regionalen Besonderheiten, die einige Tagungsbeiträge ins Licht gerückt hatten, auf Spezifika politischer Verfaßtheit zurückzuführen. So sei das Fehlen einer Juristenausbildung in der Eidgenossenschaft nicht konfessionell zu erklären, da sich dies unabhängig vom Konfessionsstand der Kantone beobachten lasse. Einen Ansatz zu fruchtbarem Disput bot schließlich die Frage, ob und inwieweit die bildungsgeschichtliche Wirkung des Humanismus ohne den Transmissionsriemen der Konfessionalisierung denkbar gewesen wäre. In diesem Zusammenhang wurde allerdings kritisiert, daß die europäische Dimension der Geschichte von Bildung und Erziehung weitgehend ausgeblendet und darüber hinaus auch die Bildungsgeschichte des Judentums als einer "vierten Konfession" vernachlässigt wurde.

Herr Musolff zog für die Erziehungswissenschaft abschließend kritische Bilanz. Hatte er bereits einleitend die Hoffnung auf externe Anstöße geäußert, um die stereotype Frage nach dem Grad der Fortschrittlichkeit pädagogischer Projekte zu transzendieren, so räumte er abschließend ein, daß die Zunft weiterhin daran arbeiten müsse, Engführungen zu überwinden. Es gelte insbesondere, die rein normative Ebene zu verlassen. Daneben müsse die geringe Phasendifferenzierung der Epochenbegriff des "17. Jahrhunderts" korrigiert und schließlich auch die häufig implizierte Eindimensionalität der Entwicklung von der Scholastik zur Aufklärung überwunden werden. Es läßt sich also nicht behaupten, daß die Tagung keine Früchte getragen habe. Eine Bereicherung der Kenntnisse über das konfessionelle Zeitalter oder gar eine Präzisierung des Konfessionalisierungskonzepts verdanken wir ihr aber nicht.

Vortragsprogramm
Sektion 1:
- Hans-Ulrich Musolff (Bielefeld): Einführung
- Andreas Suter (Bielefeld): Einführung
- Stefan Ehrenpreis (Berlin): Grundlagenvortrag 'Konfessionalisierungsforschung und Bildungsgeschichte der FNZ'
- Rudolf W. Keck (Hildesheim): Grundlagenvortrag 'Konfessionalisierung und Bildung aus erziehungswissenschaftlicher Sicht'
Sektion 2:
- Agnes Winter (Berlin): Frühneuzeitliche Schulgeschichte Berlins
- Andreas Lindner (Erfurt): Das bikonfessionelle Schulwesen Erfurts im 16. und 17. Jahrhundert
- Jens Bruning (Leipzig): Konfessionalisierung und Bildungswesen in der ostwestfälischen Provinz: Die Lateinschulen in Minden, Herford und Bielefeld im 16. und 17. Jahrhundert
- Daniel Tröhler (Zürich): Republikanische Tugend und Erziehung bei Niccolò Machiavelli, Answaldo Ceba und im Selbstverständnis des Schweizer Stadtbürgertums
Sektion 3:
- Thomas Maissen (Zürich): Humanismus - Konfessionalisierung - Frühaufklärung in Zürich
- Anja-Silvia Göing (Hamburg): Naturphilosophie und Ethik im Lehrplan der Theologischen Lehranstalt in Zürich
- Simone de Angelis (Bern): Die Lektüre von Melanchthons "De anima" im Kontext von Medizintheorie und reformatorischer Theologie
Sektion 4:
- Lutz Koch (Bayreuth): Comenius und das moderne Methodendenken
- Luisa Margarita Schweizer (Cordoba/Arg.): Ignacio von Loyola: Erziehung als magis seiner Zeit
Sektion 5:
- Hans-Ulrich Musolff (Bielefeld): Wiederkehr der Metaphysik in Curricula des 17. Jahrhunderts: Zur Entstehung von Allgemeinbildung an westfälischen Gymnasien
- Ulrich Pfisterer (Hamburg): Kunst im Curriculum oder: Wie viel muss ein Christ, wie viel ein Humanist von Malerei verstehen?
- Frauke Böttcher (Frankfurt/M.): Formen mathematischer und naturwissenschaftlicher Wissensvermittlung im 17. Jahrhundert in Frankreich


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts