Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse – Probleme und Perspektiven

Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse – Probleme und Perspektiven

Organisatoren
Sven Oliver Müller (Bielefeld); Cornelius Torp (Halle)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.01.2007 - 13.01.2007
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Von
Jürgen Schmidt, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Das geschichtswissenschaftliche Thema "Deutsches Kaiserreich" zerfließt. Aus der klar umrissenen Gestalt eines in blutigen Einigungskriegen zwischen 1866 und 1871 entstandenen Obrigkeitsstaats, der in den Ersten Weltkrieg, der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts, mündete und mit seinen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Prozessen eine zentrale Rolle in der deutschen Geschichte für die Erklärung des Aufstiegs des Nationalsozialismus einnahm, ist eine amorphe Masse geworden. Zeitlich entgrenzt, fallen Zäsuren wie Dominosteine, räumlich entgrenzt wird das Kaiserreich zu einem transnationalen Gebilde und thematisch stehen die Ambivalenzen im Vordergrund.

Dies war zumindest der erste Eindruck, den die Tagung „Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse – Probleme und Perspektiven“ anlässlich Hans-Ulrich Wehlers 75. Geburtstag am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung – organisiert von Sven Oliver Müller (Bielefeld) und Cornelius Torp (Halle) – hinterließ. Im Hinblick auf die Einordnung des Kaiserreichs in die deutsche Geschichte ergaben sich zahlreiche Debatten. In den verschiedenen Sektionen wurde immer wieder über Fluchtpunkte bei der Interpretation des Kaiserreichs diskutiert. Dabei standen nicht das Jahr 1914 und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Vordergrund, sondern es ging um die Kontinuität zum Nationalsozialismus. Während bei der Konzeption seines 1973 erschienenen Kaiserreich-Buches für Hans-Ulrich Wehler 1 das Jahr 1933 die entscheidende Rolle spielte, verwiesen sowohl Helmut Walser Smith (Nashville) als auch Jürgen Zimmerer (Sheffield) auf die Jahre 1939/41 als Fluchtpunkt, in denen der Vernichtungskrieg begonnen und umgesetzt wurde. Zimmerer zog dabei die Kontinuitätslinie von der Vernichtung der Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 zum Vernichtungskrieg im Osten im Zweiten Weltkrieg. Sowohl was die personelle als auch was die institutionelle Kontinuität betraf, wurde dieser Ansatz heftig kritisiert – doch ein Fixpunkt war gesetzt, der in der Forderung nach einer vergleichenden Genozid-Forschung mündete.

Mit dem Blick auf die Kolonien war auch die transnationale Perspektive auf das Kaiserreich geöffnet. Sebastian Conrad (Berlin) zeigte die globalen Verflechtungsdimensionen des Kaiserreichs in Politik, Wirtschaft und Kultur auf. Thomas Mergel (Potsdam) betonte am klassischen Beispiel der Massenmigration des 19. Jahrhunderts den starken transatlantischen Rückwanderungseffekt und Volker Berghahn (New York) untersuchte den Blick amerikanischer Unternehmer auf das deutsche Wirtschaftssystem. Die nationalstaatliche Perspektive in der Deutung des Kaiserreichs wurde relativiert, wenngleich in der anschließenden Diskussion das „Transnationale“ noch nicht als das zukünftig dominierende Paradigma zur Analyse des Kaiserreichs gesehen wurde.

Da das Interpretationsmuster des deutschen Sonderwegs offensichtlich an seine Grenzen gestoßen ist und Hans-Ulrich Wehler (Bielefeld) und Volker Berghahn nur noch von den Sonderbedingungen oder „peculiarities“ des Kaiserreichs sprachen, gerieten auf der Tagung die ambivalenten Züge jener Epoche in den Blick. Stefan Malinowski (Berlin) verdeutlichte, wie in der älteren Forschung mit den preußischen „Junkern“ ein stereotypes Bild aufgebaut worden sei, das an den tatsächlichen Lebensverhältnissen der preußischen Adligen völlig vorbei gehe. Keine einheitliche politische Elite sei am Werk gewesen, sondern eine vielfach differenzierte Sozialgruppe, die vom wirtschaftlich agilen Rittergutsbeisitzer bis zum „Adelsproletariat“ reichte, und auf der politischen Ebene eher eine getriebene, statt eine treibende Kraft gewesen sei. Manfred Hettling (Halle) betonte, dass die Vorstellung eines spezifisch deutschen „Defizits an Bürgerlichkeit“ im europäischen Vergleich nicht mehr haltbar sei. Vielmehr habe das Bürgertum des deutschen Kaiserreichs nach Antworten auf drängende Fragen der Moderne – gesellschaftliche Desintegration, das Verhältnis von Individualität und Gesellschaft sowie die Kontingenz der Welt – gesucht. Wie vielfältig der Interpretationsrahmen des Kaiserreichs ausfallen kann, zeigte sich auch bei den Beiträgen von Ute Planert (Tübingen) und Frank Bösch (Bochum). Der als Bewegung gegen die Frauenbewegung sich formierende „Antifeminismus“ lässt sich Planerts Meinung nach keineswegs als Ausdruck einer Reformfeindschaft deuten, sondern ist indirekt Indiz für die fortschrittliche Entwicklung innerhalb der Gesellschaft des Kaiserreichs. Allein die Existenz einer starken Gegenkraft weist darauf hin, wie einflussreich sich modernisierende Kräfte des Kaiserreichs entwickeln konnten. Mit der Analyse politischer Skandale führte Bösch einen hilflosen Staat vor Augen, der wenig mit dem Bild des Zensur ausübenden, mit Polizeigewalt vorgehenden Obrigkeitsstaates zu tun hatte. Die durch Massenmedialisierung und Massenpolitik in die Öffentlichkeit getragenen Skandale waren mit den herkömmlichen Repressionsmitteln nicht zu unterdrücken und führten zu einer schleichenden Vertrauenskrise des Kaiserreichs. Die Ambivalenz des Staatsbürgergesetzes von 1913 führte Dieter Gosewinkel (Berlin) vor Augen. Zwar hätten sich die ethnisch-völkischen Vorstellungen der nationalistischen Verbände und Politiker durchsetzen können, jedoch seien mit der Einführung des ius sanguinis keine biologischen Rassetheoreme in das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht übernommen worden. Richard J. Evans (Cambridge) wiederum zeigte, dass die vor allem von britischen Historikern in den 1980er Jahren vorgetragene massive Kritik am Sonderwegsparadigma keineswegs nur als Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichtswissenschaft zu verstehen ist, sondern auch als eine Absetzbewegung innerhalb der britischen Geschichtswissenschaft gesehen werden kann. Der deutsche Sonderweg erschien nämlich für deutsche Historiker besonders dann klar und markant, wenn man ihn mit der englischen Erfolgsgeschichtsschreibung des Liberalismus („Whig-Geschichte“) kontrastierte – und gerade von dieser Whig-Interpretation begann sich die moderne englische Geschichtswissenschaft zu lösen.

Das Bild des zerfließenden, ambivalenten Kaiserreichs war der eine Eindruck, daneben gab es einen zweiten Eindruck: Das deutsche Kaiserreich verdichtete sich. Sein Ort in der Geschichte schien auf der Tagung wie festgezurrt. Kein einziger Blick zurück auf die Entstehungsbedingungen des Kaiserreichs, nicht einmal der Fluchtpunkt 1914 wurde aufgegriffen. Obwohl es zwei Sektionen zum Ersten Weltkrieg gab, wurde er ausschließlich in die Kontinuität zum Nationalsozialismus gestellt. Dirk Bönker (Durham) charakterisierte etwa den uneingeschränkten U-Boot-Krieg als „maritimen Vernichtungskrieg“, der nicht aus der Kriegslogik heraus erklärbar sei, sondern auf die Vernichtung der gegnerischen Gesellschaften zielte. Alan Kramer (Dublin) fragte dezidiert nach den Kontinuitäten zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und Jörg Echternkamp (Potsdam) suchte nach den Vor- und Nachteilen der Begriffsfigur eines „zweiten dreißigjährigen Krieges“, die Hans-Ulrich Wehler im vierten Band seiner Gesellschaftsgeschichte benutzt hatte 2. Echternkamp kam dabei durchaus auf die teleologischen Schwächen eines solchen Konzepts zu sprechen, blieb aber im „mainstream“ der Kontinuitätsfragestellung verhaftet. Es war Roger Chickering (Washington), dem es mit konzeptionellen Überlegungen zu seiner Studie über Freiburg im Ersten Weltkrieg darum ging, mit einer „verstehenden Strukturgeschichte“ die Totalität des Ersten Weltkrieges selbst zu erfassen.

Zum Zweiten verdichtete sich das Kaiserreich dieser Tagung um den Begriff der Gewalt. Dazu trugen sowohl die Referate zur kolonialen Herrschaftspraxis und natürlich wesentlich die beiden Weltkriegs-Sektionen bei, in denen Benjamin Ziemann (Sheffield) vergleichend die Brutalisierung im Krieg herausstrich, die alle kriegsführenden Nationen betraf und in der die Grenzen zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten verwischten. Darüber hinaus verwies Heinz-Gerhard Haupt (Florenz) auf die Gewaltpraxis in Frankreich und Deutschland im zivilen Leben. Im deutschen Kaiserreich waren gewalthafte Auseinandersetzungen seltener als in der französischen Republik; wenn sie jedoch aufbrachen, wurde von staatlicher Seite wesentlich schärfer gegen sie vorgegangen als in Frankreich. Haupt vermutete, dass die französische Republik eine „kombativere Gesellschaft“ gewesen sei, die die Grenzen gewalthafter Proteste großzügiger auslegte. Ungewohnt mit solchen Eruptionen umzugehen, erschrak man im deutschen Kaiserreich umso heftiger, wenn sie erfolgten - und entsprechend schärfer fielen die Reaktionen aus.

Damit kam aber auch zutage, dass das Kaiserreich nicht nur in seiner Ambivalenz zu erfassen ist, sondern auch über seine Funktion als Obrigkeitsstaat reflektiert werden muss (James Retallack, Toronto), in dem darüber hinaus das Bürgertum von einer starken Staatsorientierung geprägt war (Jürgen Kocka, Berlin). Es war Shulamit Volkov (Tel Aviv), die vehement dafür plädierte, sich nicht vorschnell auf Ambivalenzen und Differenzierungen des Modernisierungswegs des deutschen Kaiserreichs zu einigen, sondern eine klare Scheidelinie zwischen Moderne und Nichtmoderne aufrecht zu halten. Die damit verbundenen normativen Implikationen des Moderne-Begriffs lösten eine intensive Debatte aus, wobei Jürgen Kocka dafür plädierte, die Ambivalenzen der Moderne ernst zu nehmen und nicht voreilig die Brücken etwa zu Michel Foucault und Zygmunt Bauman abzubrechen.

In einer abschließenden Podiumsdiskussion wurden noch einmal die alten Schlachten zwischen Alltags- und Sozialgeschichte, zwischen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte geschlagen. So tief greifend und einflussreich diese Debatten für die deutsche Geschichtswissenschaft in den letzten 25 Jahren waren, an dem Tag wirkten sie wie eine amüsante Inszenierung zur Unterhaltung des noch einmal zahlreich erschienenen Publikums. Insgesamt ging es auf dieser Tagung weniger um neue empirische Befunde zum Kaiserreich, sondern um eine Deutung seiner Deutungen. Die dabei zutage getretenen Erweiterungen und Differenzierungen erwiesen sich als fruchtbringend und diskussionsfördernd. Der konkrete Ort des Kaiserreichs im langen 19. Jahrhundert sollte dabei aber nicht vergessen werden – doch dies bleibt die harte Alltagskost der Forschung und ist weniger für das Festbankett einer Geburtstagsparty geeignet.

Anmerkungen:
1 Wehler, Hans-Ulrich, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973.
2 Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. XIX.


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