Kommunikation und Transfer im Christentum der frühen Neuzeit

Kommunikation und Transfer im Christentum der frühen Neuzeit

Organisatoren
Institut für Europäische Geschichte
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.09.2006 - 15.09.2006
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Von
Kerstin Groß

Im Mittelpunkt des Kolloquiums stand die Frage, ob und wie weit sich das Kulturtransferparadigma und damit ein kulturwissenschaftlicher Ansatz als methodischer Zugang auf Forschungsfelder der frühneuzeitlichen Christentumsgeschichte anwenden lässt. Insofern hatte das Kolloquium experimentellen und innovativen Charakter zugleich. Außer Frage steht, dass sich die Geschichte frühneuzeitlichen Christentums als eine Interaktion von Kommunikations- und Transferprozessen erfassen und beschreiben lässt. Für den Bereich der Reformationsgeschichte, so erklärte Irene DINGEL (Mainz) in ihrem einführenden Referat, sei dabei die Arbeitshypothese leitend, dass die durch die Reformation ausgelösten Neubewertungen im Raum des europäischen Christentums durch den Filter unterschiedlicher Kommunikationsstrukturen und -prozesse hindurchgegangen seien, die ihrerseits durch die Einbindung in verschiedene politische, gesellschaftliche und geistesgeschichtliche Voraussetzungen bestimmt sein könnten. Dass spezifische Inhalte durch Vermittlungsstrukturen modifiziert und im Zuge ihrer Aneignung akkulturiert und angepasst werden, dürfe nicht nur in transnationaler, sondern müsse vor allem auch in transkonfessioneller Dimension in den Blick genommen werden. Unter dieser Leitfrage steckten zunächst Grundsatzreferate mögliche Forschungsfelder ab und eröffneten Forschungsperspektiven, bevor sodann der Schwerpunkt auf die Interferenz von Wissenskulturen rückte. Eine abschließende Einheit widmete sich anhand von Einzelstudien inhaltlichen Konkretionen.

Die erste Sektion beleuchtete verschiedene Medien und Mittel von Kommunikation und Transfer. Albrecht BEUTEL (Münster; Kommunikation des Evangeliums. Die Predigt als zentrales theologisches Vermittlungsmedium in der frühen Neuzeit) charakterisierte die Predigt als Nahtstelle und Transfermedium zwischen Theologiebildung und deren praktischer Umsetzung bzw. Aneignung. Predigt als liturgisch eingebundene, traditionelle religiöse Rede mit eigener rhetorischer Stilart ziele ihrem theologischen Anspruch gemäß auf die Kommunikation des Evangeliums, wobei neben dem Gattungs- und Variantenreichtum auch unterschiedliche Bezugsebenen und Redeabsichten zu berücksichtigen seien. Mit der Reformation sei die spezifische Transferleistung der Predigt als »Heilsgeschehen im Vollzug« oder als »Heilszueignung von Wort und Glaube« soteriologisch umgedeutet worden. Der von Beutel skizzierte geschichtliche Überblick thematisierte nicht nur die spezifische Transferleistung und die jeweils gegenwartsorientierte Aufgabe der Predigt, sondern auch die im Zuge historischer Entwicklung vollzogenen Umwertungen dieses Transfermediums. Die sich daraus ergebenden Forschungsdesiderate hängen eng mit dieser spezifischen Quellengattung zusammen. So dürfe die Untersuchung des Mediums Predigt sich nicht auf die Geschichte einer literarischen Gattung beschränken, sondern müsse unter der Perspektive »Kommunikation des Evangeliums« auch soziale oder gesellschaftliche Folgen in den Blick nehmen. In Aufnahme des Stichworts »Predigtreflexe« sei der Wirkung mündlicher Predigt, im Gegenüber zu gedruckten Versionen, gesteigerte Bedeutung beizumessen, zu der u.a. Visitationsberichte weiteren Aufschluss bieten könnten. Die bisherige Engführung auf die Geschichte einzelner Predigerpersönlichkeiten sei durch einen breit angelegten Focus auf die Predigtpraxis zu überwinden.

Irene DINGEL (Mainz; Streitkultur und Kontroversschrifttum im späten 16. Jahrhundert. Versuch einer methodischen Standortbestimmung) begann mit methodischen Vorüberlegungen zu den Streitschriften als Transfermedium, das in einem polemischen Kommunikationsprozess auf theologische Lehrbildung ziele. Die in diesen Zusammenhängen vermittelten Inhalte tendierten dazu, identitätsstiftenden Charakter zu entwickeln und konfessionelle Konsolidierung anzustoßen. Sie seien ein Motor für die Profilierung theologischer Positionen und Gruppenkulturen, deren Rück- und Wechselwirkung auf bzw. mit Politik und Gesellschaft nicht unterschätzt werden dürfe. Auffallend sei die Vielfalt literarischer Gattungen und Strukturen, die in der Kontroversliteratur begegnen und auf Informationsvermittlung, Beeinflussung, aber auch Individualisierung der Problematik im persönlichen Bekenntnis zielten. Dabei seien die theologischen Kontroversen vor allem des späten 16. Jahrhunderts keineswegs als lästiges Gezänk einzustufen, sondern folgten im Grunde einer im traditionellen Disputationswesen eingeübten Problemlösungsstrategie.

Der Rolle der »Korrespondenzen« widmete sich Matthieu ARNOLD (Strasbourg). Er stellte die reformatorische Briefliteratur nicht nur in ihrer informativen und pragmatischen Funktion dar, sondern auch als Quelle für seinerzeitige Kommunikationsnetzwerke. Gerade als Medium des kulturellen Austauschs und der Vermittlung theologischer Inhalte zwischen Reformatoren und Humanisten komme den Korrespondenzen eine herausgehobene Bedeutung zu, da sie zur Ausbildung eines europaweiten Netzwerks ab Mitte des 16. Jahrhunderts maßgeblich beigetragen hätten. Der Privatbrief, bei dem sich Argumentation und Sprache an der Situation des Adressaten orientierten, bleibe in der frühen Neuzeit in seiner Bedeutung allerdings begrenzt. Wichtiger sei der »offene Brief« oder das »Sendschreiben«, welche als Untergattung der Korrespondenz einem konkreten Anlass entspringe und den Blick auf die Selbsteinschätzung des Briefschreibers und das von ihm vermittelte Bild öffne. Insgesamt könnten zwei Vermittlungsaufgaben unterschieden werden: Als Träger von Informationen sei die Gattung Brief ein bevorzugtes Mittel zum Austausch von Neuigkeiten und Nachrichten, was aber gleichzeitig eine gewisse Interpretation impliziere. Als Träger theologischer Interpretation diene die reformatorische Briefliteratur dagegen der Mitteilung einer theologischen Weltsicht, die einen engen Zusammenhang von Ereignis und theologischer Interpretation voraussetze und die Abwandlung antiker Briefelemente im reformatorischen Sinn mit bedinge. So werde offensichtlich, wie die Reformatoren selbst durch Stil und Intention zur Transformation der Gattung Brief beitrugen und wie das Medium Brief, neben Wissensvermittlung und Wissensfortschritt, zur Bestärkung von Gewissheit und zur Vermittlung einer neuen Weltsicht oder ethischen Grundhaltung genutzt werde.

Markus WRIEDT (Mainz) eröffnete seine Ausführungen zu »Kirchen- und Schulordnungen« mit forschungsgeschichtlichen Anfragen und Präzisierungen, um sodann anhand der Kirchen-, Spital- und Schulordnung des Johann Mathesius die Vermittlung der Wittenberger Theologie nach Joachimsthal zu untersuchen. Die inhaltlich und formal an die brandenburg-nürnbergische Kirchenordnung von 1533 angelehnte, aber im Stil eines Berichts gehaltene Ordnung beinhalte die für Luther und Melanchthon typischen Lehrelemente und ziele auf die pragmatische Umsetzung der reformatorischen Grundsätze in die kirchliche Praxis und die konkrete Situation vor Ort. Im Hinblick auf die Transferforschung könne notiert werden, dass die Kirchenordnung Nähe und Anbindung an die Wittenberger Theologie in verschiedenen theologischen Loci (z.B. Soteriologie) intendiere und auf konsensorientierte Kommunikation ziele. Die erbrachte Transferleistung in Form der praktischen Umsetzung orthodoxer Lehre diene – so die These Wriedts, der zahlreiche weitere Forschungsperspektiven ansprach – als Katalysator der reformatorischen Ideen.

Renate DÜRR (Kassel; Funktionen des Schreibens: Autobiographien / Ego-Dokumente als Zeugnisse der Kommunikation und Selbstvergewisserung) untersuchte die Bedeutung von Selbstzeugnissen für die Identitätskonstruktion, wobei sie die Beschäftigung mit dieser Erzähltradition als lohnenden Zugang hervorhob. Bereits das »Erinnern« selbst könne als Erzähl- und Konstruktionsvorgang zugleich interpretiert werden. Selbstzeugnisse stellten in diesem Prozess einen Beitrag zur Selbstkonstitution dar, wobei sich die eigene Identität als Fluchtpunkt des in eine heterologe Struktur (Beziehung zu einem Gegenüber, Gott, weiterer Adressatenkreis) eingebundenen Erinnerungsprozesses ergebe. Besonders die schreibende Selbstreflexion des Pietismus stelle eine Praxis der Selbstvergewisserung dar, bei der Inhalte gegenüber dem Erweis der Gruppenzugehörigkeit zurücktreten. Es sei ein Forschungsdesiderat, diesen kommunikativen Akt zu anderen Kommunikationsvorgängen und Wissensräumen in Beziehung zu setzen und nach der Geschichte hinter dem Erzählten zu fragen. Auch die Fragen nach dem Verhältnis zu weiteren religiösen Praktiken, der Verhältnisbestimmung zwischen mündlicher und schriftlicher Selbstreflektion, der Selbst- und Fremd'situierung' bzw. der Selbst- und Fremd'disziplinierung' über das Schreiben traten als offene Forschungsfelder in den Blick.

Abschließend skizzierte Michael Beyer (Leipzig; Übersetzungen als Medium des Transfers) die Bedeutung der reformatorischen Bibelübersetzung. Als Transferprozess, der die Übertragung von Metaphern sowie Kohärenz und fortentwickeltes Verstehen in der Zielsprache intendiere, vollziehe sich die Bibelübersetzung als Diskurs um das Gotteswort, dessen Hermeneutik christologisch festgelegt sei. Neben dem reformatorischen Systemtransfer, zu dem politische, soziale und gesellschaftliche Bedingungen als Katalysatoren träten, müsse auch dem kommunikativen Ausgleich zwischen Theologiebildung und volksnaher Aneignung gesteigerte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Indem Beyer die Übernahme translatorischer Prozesse innerhalb der konfessionellen Gruppen sowie deren Interaktion und Wechselwirkungen untersuchte, wurde der Bedeutung dieser Transferprozesse für die konfessionelle Konsolidierung und Selbstvergewisserung Rechnung getragen. Als beispielhaft für Luthers rhetorische Übersetzungspraxis wurde, neben der Berücksichtigung von Grammatik und Logik der Zielsprache, auch das Augenmerk auf die Zweckbestimmung der Übersetzung aufgezeigt, wenngleich aus übersetzungstheoretischer Sicht der Quellenwert der in zeitgenössischen Lutherausgaben aufgenommenen Translationen aufgrund der historischen Kontextualisierung der Übersetzer als gering einzuschätzen sei.

Joachim KNAPE (Tübingen) eröffnete die zweite Sektion, welche die Interferenzen zwischen Theologie und anderen Wissenskulturen und deren Kommunikationsformen thematisierte. Sein Beitrag stellte Aspekte der Interferenz zwischen »Theologie und Rhetorik« vor. Anhand der Beichte als situativem Ritual wurde das Basissetting kirchlicher Kommunikation skizziert, das sich in der Regel verschiedener Zwischenmedien (Priester, Heilige Schrift) zur Informationsvermittlung bedient. Die mit der Reformation vollzogenen Umwertungen dieser Medien führten zur Abwendung von jener mediengestützten Situativik hin zu einer Aufwertung der mentalen Hinwendung zu Gott sowie der Predigt als Kommunikationsinstanz. Im Gegensatz zu a-rhetorischen Prozessen (skriptgeleitete Kommunikation) intendiert ein rhetorischer Prozess im engeren Sinn immer eine Überzeugungsleistung, auch dort, wo Gott als transzendentale Größe angenommen wird. Damit stellen die Apologie sowie die Unentbehrlichkeit rhetorischer Mittel zur konfessionellen Auseinandersetzung jene Aspekte dar, welche die Bedarfsfrage der Kirche nach Rhetorik aus pragmatischen, systematisch-hermeneutischen und theologischen Gründen bejahen. Eine Trennung zwischen rhetorica humana und rhetorica christiana sacra werfe aber folgerichtig die Frage nach dem Proprium christlicher Rhetorik auf. Trotz der formalen Differenz dürfe die kommunikative Effektivität, wie auch die Eloquenz und Stilistik protestantischer Prediger, was bereits Anliegen der Reformation war, nicht aus dem Blick geraten.

Jürgen HELM (Halle) widmete sich der Interferenz von Theologie und Medizin (Theologie und Medizin im Kontext der Reformation) und zeigte anhand von Philipp Melanchthons anthropologischem Entwurf »Commentarius de anima«, wie sich theologische und medizinische Aussagen überlagern und gegenseitig bedingen können. Trotz der Wiederentdeckung der Werke Galens kam es im Verlauf des 16. Jahrhunderts aufgrund eines modifizierten, wissenschaftlich-empirischen Erkenntnisinteresses zur Kritik an der antiken Anatomie, welche die Ausbildung neuer Standardwerke anstieß. Melanchthons Schrift stelle den einzigartigen Versuch dar, anatomische und medizinische Erkenntnisse in die theologische Anthropologie einzubeziehen. Dabei wurde nicht nur offen gelegt, welche anatomischen Kenntnisse der Kardinalorgane Melanchthon rezipierte, sondern auch wie die Entwicklung und Entfaltung seiner theologischen Positionen mit dem damaligen medizinischen Wissen vom Menschen in Einklang standen. Während Melanchthons Entwurf in der medizinhistorischen Forschung bis heute als Kompendium bekannt sei, bleibe er in der Theologie weithin unbeachtet. Eine verstärkte interdisziplinäre Untersuchung der Interferenz bleibe daher weiterhin Forschungsdesiderat.

Claudia BROSSEDER (München/Stanford) problematisierte die Verhältnisbestimmung zwischen »Theologie und Naturwissenschaften« in der frühen Neuzeit. Dabei rückten jene Aspekte in den Mittelpunkt des Interesses, die sich aus der Infragestellung des biblischen Schöpferglaubens durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse und den Antiaristotelismus ergaben. Am Beispiel der Astrologie exemplifizierte Brosseder, dass es in zentralen Themenbereichen, wie der Kosmologie, Psychologie oder der Frage um Determinismus und Willensfreiheit, sowohl zu kirchlicher Kritik und Konflikten als auch zu einer positiven dialogfördernden Rezeption im theologischen Bereich kam. Eine komparative Forschung müsse daher das Verhältnis zwischen Theologie, kirchlicher und politischer Autorität bzw. Realität und Wissenschaft in den Blick nehmen, ohne vorschnell Gegensätze lediglich zu konstatieren. Vor diesem Hintergrund rückten das Phänomen der ambivalenten Rede und die Untersuchung der Geschichte der frühneuzeitlichen Naturwissenschaft insgesamt stärker in den Vordergrund, wie auch Forschungsfragen um die kirchliche Stellungnahme zum geozentrischen Weltbild und die Interferenz von Glauben und wissenschaftlicher Erkenntnis. Den theologischen Wahrheitsanspruch unter dem Aspekt einer kulturellen Wissenschaftsgeschichte unter die Lupe zu nehmen, wurde dazu als ertragreicher Ansatz hervorgehoben.

Wolf-Friedrich SCHÄUFELE (Mainz) untersuchte die Interferenz von Theologie und Historie in der Reformationszeit und im Konfessionellen Zeitalter (Theologie und Geschichtsschreibung). Da Theologie sich ihrem Anspruch gemäß auf wahres Wissen und Historie auf wahrscheinliches Wissen ausrichte, beschränkten sich die Einwirkungen der Historie auf Theologie auf die Rezeption historischer Kritik und der didaktisch-pragmatischen Zweckbestimmung. Die Rezeption der historischen Quellenkritik wirkte sich auf die biblische Exegese, die Kirchenvätereditionen, die Hagiographie sowie den Nachweis der Unechtheit der Konstantinischen Schenkung aus. Mit der Rezeption der didaktisch-pragmatischen Historie humanistischen Zuschnitts in der melanchthonischen Universitäts- und Bildungsreform konnte die Geschichte für die philosophische wie für die theologische Ethik nutzbar gemacht werden. Von größerer Bedeutung seien die umgekehrten Einwirkungen der Theologie auf die Historie. Hier kam es vor allem zu einer Erneuerung der Universalgeschichte in theologisch-eschatologischer Perspektive. Weitere Entwicklungen des späteren 16. und des 17. Jahrhunderts waren die – auch institutionelle – Verselbstständigung der Kirchengeschichte sowie die Etablierung der Dogmen- und Theologiegeschichte als eigenständige Disziplin. Folgenreich wurde auch die polemisch-apologetische Indienstnahme der Kirchengeschichte, wobei die Historiographie zur Verifizierung bzw. Falsifizierung von Wahrheitsansprüchen genutzt wurde. In diesem Zusammenhang wurden schließlich Reformation und katholische Reform selbst zu Gegenständen der Geschichtsschreibung.

Den Abschluss der zweiten Sektion bildete ein Vortrag von Mathias SCHMOECKEL (Bonn) zu den konfessionellen Prägungen im Strafrecht (Die Jurisprudenz als die »katholische« Wissenschaft). Angesichts verschiedener Einflussbereiche des Rechts wurde die Transferaufgabe protestantischer Juristen, theologische Erkenntnis in juristische Sprache umzusetzen, als ein konstitutiver Beitrag zur territorialen Durchsetzung der Reformation hervorgehoben. An die Stelle des theologischen Bezugsrahmens für Juristen trete im späten 16. Jahrhunderts allerdings zunehmend das Diktat der Politik. Jene Gegenbewegung, welche die Praktikabilität und überkonfessionelle Rezeption des Rechts betone, bediene sich notwendigerweise modifizierter Methoden der Gesetzesinterpretation (Säkularisierung des Rechts, methodische Immunisierung gegen kirchliche oder konfessionelle Vereinnahmung, Betonung wissenschaftlicher Fähigkeiten). Anhand des Vergleichs der Reformatoren Luther und Melanchthon mit ausgewählten Juristen zeigte Schmoeckel auf, wie Strafrecht und Strafrechtspflege theologisch interpretiert, aber auch umgewertet wurden. Charakteristisch waren dabei, neben der Neubewertung des Naturrechts als Korrektiv der fürstlichen Allmacht, eine untergeordnete Rolle der kirchlichen Autorität in Strafrechtsfragen sowie die Betonung der fürstlichen Ordnungsmacht, ohne dass Gott als Garant dieser Ordnungsmacht in Frage gestellt wurde. Auch die Bewertung des Straftatbestandes als peccatum sei Indiz für eine differenzierte Umwertung der juristischen Grundbegriffe unter protestantischen Juristen.

Mickey MATTOX (Milwaukee) eröffnete die dritte Sektion, die sich mit den Inhalten religiös-konfessioneller Kommunikations- und Transferprozesse befasste. In seiner exemplarischen Studie zu Luthers Paulusexegese anhand der Sermone zu Act 9 (Martin Luther´s Reception of the Apostle Paul) führte er aus, dass neben der traditionellen Wirkungsgeschichte die Intention und historische Situierung des Autors wie des Lesers bzw. Rezipienten gleichermaßen im Blick sein müssen. Eine Arbeit am biblischen Text, welche die Interaktion mit dem Leser berücksichtige, könne Aspekte der Transformation biblischer Inhalte offen legen. Luthers Paulusexegese liefere nicht nur Erkenntnisse darüber, wie Luther selbst Paulus rezipierte, sondern auch wie jene Exegese, die maßgeblichen Einfluss auf spätere Traditionen ausübte, von Luthers persönlicher und kirchlicher Situation beeinflusst wurde. Der Vergleich der Auslegung des Damaskuserlebnisses in den Sermonen zwischen 1514 und 1546 dokumentiere eine Paulusexegese, die sich relativ zur historischen und lebensweltlichen Situation Luthers verhalte. Während die früheste Paulusinterpretation eng mit Luthers monastischer Lebenssituation zusammenhänge, bewege sich seine Paulusexegese in den folgenden Jahren zunehmend vor dem Hintergrund der kontroversen Auseinandersetzung mit den Altgläubigen und dem Ringen um theologische Wahrheit. In Anlehnung an Luther hob Mattox eine erfahrungsorientierte, existenzielle Paulusauslegung als lohnenden Ansatz hervor.

Die Bedingungen und Prägungen reformierter Identitätsbildung untersuchte Judith BECKER (Heidelberg) am Beispiel der Fremdengemeinde in Frankenthal (Kirchenordnung und reformierte Identitätsbildung am Beispiel Frankenthals). Im historischen Überblick zeigte Becker strukturelle Merkmale des Gemeindeaufbaus und -lebens in den unterschiedlichen Kontexten auf. Nach mehrfachen, sozial, wirtschaftlich und theologisch motivierten Ausweisungen siedelte die niederländische Gemeinde 1562 in die Kurpfalz um und verpflichtete sich 1572, die Kirchenordnung der Kurpfalz zu übernehmen. Für die Gemeinde könne, so die These, eine historisch bedingte doppelte Identitätsstiftung nachgewiesen werden: Die Identität der Gemeinde konstruiere sich einerseits über wechselseitige Beziehungen zur Kurpfalz – namentlich über die Person des Petrus Dathenus und über die Kirchenordnungen –, andererseits über eine durch vielfältige Kommunikationsprozesse (Briefwechsel, Kollektensendungen, Austausch von Pfarrern bzw. Gemeindemitgliedern, Rezeption von Schriften) vermittelte und durch gemeinsame Erfahrung und Geschichte motivierte Anlehnung an reformierte Gemeinden im In- und Ausland. Weiteren Aufschluss über das reformierte Selbstverständnis der Gemeinde und ihr Hineinwachsen in das politische, kulturelle und theologische Umfeld der Kurpfalz könne die Untersuchung der Stadtrats- und Gerichtsprotokolle seit 1572 geben.

Ursula PAINTNER (Gotha/Mainz) thematisierte in dem abschließenden Beitrag die konfessionelle wie überkonfessionelle Indienstnahme antijesuitischer Polemik (›Nunmehr allen alten Catholischen Teutscher Nation zu sonderlicher warnung in truck gefertigt‹ – Der ›gemeine Mann‹ und die ›alten Catholischen‹ als Adressaten antijesuitischer Polemik). Während im Zug des theologischen Diskurses um die wahre Lehre antijesuitische Polemik lutherischer Theologen weitgehend mit antikatholischer Polemik zusammenfiel, trete Ende des 16. Jahrhunderts ein neues Interpretationsmoment hinzu. Um einen politischen anstelle eines konfessionellen Antagonismus zwischen Jesuiten und christlicher bzw. katholischer Gemeinde zu etablieren, bediene sich dieses Paradigma, in Aufnahme der französischen Jesuitendebatte seit 1592, politisch besetzter Feindbilder. Anhand des »Grundtlichen Berichts« des Georg Heckelius (1596), einer an Protestanten wie Katholiken gleichermaßen gerichteten Publikation, zeigte Paintner Strategien auf, ein katholisches Publikum über antijesuitische Polemik anzusprechen, um so ein gemeinsames Feindbild zu konstruieren. Charakteristisch für diesen Prozess sei das Zurücktreten der theologischen Argumentation und konfessionellen Schärfe. Der Transfer konfessioneller Polemik ins Politische, der das friedliche Zusammenleben der Konfessionen und das Feindbild des jesuitischen Kriegstreibers und Staatsfeindes ins Zentrum rückt, stelle, so die These, einen regelrechten Paradigmenwechsel dar, der die Vermutung nahe lege, dass die Konfession als Identitätsangebot zunehmend durch Paradigmen nationaler Provenienz ersetzt wurde.

Die Abschlussdiskussion bündelte in methodischer Hinsicht die thematische Vielfalt und hob als ertragreichen Ansatz hervor, verschiedene Aspekte von Kommunikation und Transfer unter modifizierten Bedingungen als Zugänge für die frühneuzeitliche Christentumsgeschichte weiter zu entwickeln und zu kultivieren.

Die Tagung wurde von der Fritz-Thyssen-Stiftung gefördert. Es ist geplant, die Referate in einem Tagungsband in der Reihe der Beihefte zu den Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte zu publizieren.