Von der Neuen Industrie zur New Economy

Von der Neuen Industrie zur New Economy

Organisatoren
Bielefelder Institut für Weltgesellschaft
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.11.2002 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Matthias Band, Bielefeld; Frank Werner, Bielefeld

Wie neu ist die “New Economy”? Was verbindet sie mit den Neuen Industrien, die Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland entstanden sind? Lassen sich historische Kontinuitäten des Globalisierungsprozesses erkennen? Dies waren die Fragen, die im Mittelpunkt des Symposiums “Von der Neuen Industrie zur New Economy” standen, das vom Bielefelder Institut für Weltgesellschaft am 28. November unter der Leitung von Werner Abelshauser im Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) veranstaltet wurde. Auf der Grundlage neuer Veröffentlichungen zur Unternehmensgeschichte (zuletzt u.a. BASF, Krupp) diskutierten Wirtschaftshistoriker und Vertreter benachbarter Disziplinen über die Zukunftsfähigkeit der Neuen Industrien (Chemie, Elektrotechnik, Maschinenbau) im globalen Wettbewerb, die Konkurrenz unterschiedlicher sozialer Produktions- und Unternehmensregime sowie über grundsätzliche Fragen der Periodisierung der Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Das Symposium, das im Ratssaal des ehemaligen Reichsversicherungsamtes stattfand, gliederte sich in vier Abschnitte. Den ersten Themenbereich “Alte Industrien, Neue Industrien, New Economy: Entwicklungsstufen oder Transformationsprozess?” leitete Jürgen Kocka (Wissenschaftszentrum Berlin), der die Orientierungsreferate von Howard Gospel (Management Centre, King´s College, London) und Werner Abelshauser (Institut für Weltgesellschaft, Bielefeld) zur Diskussion stellte. Howard Gospel geht von drei aufeinander folgenden “industriellen Revolutionen” aus. Nach der “industriellen Revolution” des späten 18. Jahrhunderts, in der sich der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft vollzog, markierte er eine zweite Zäsur mit dem Aufkommen neuer Industrien im späten 19. Jahrhundert (Siemens, AEG, Bosch) und einen dritten Entwicklungssprung in den 1970er Jahren mit dem Wachstum der immateriellen Produktion vor allem in der Biotechnologie und der IT-Branche (Intel, Microsoft, Vodaphone). Gospel verglich auf der Grundlage der klassischen Drei- Sektoren-Hypothese den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung im internationalen Zusammenhang: In den späten 1990er Jahren liegt der Anteil des verarbeitenden Gewerbes am Bruttoinlandsprodukt in den USA bei 17%, in Großbritannien bei 20% und in Japan bei 23% - während er in Deutschland immerhin noch 27% erreicht. Es ist daher kein Zufall, dass sich die Frage der Zukunftsfähigkeit der Industrie vor allem in Deutschland stellt. Eine andere Sichtweise und Periodisierung der wirtschaftlichen Entwicklung präsentierte Werner Abelshauser, der unter Hinweis auf die neuere wirtschaftshistorische Forschung nicht am “orthodoxen” Verständnis der Industriellen Revolution als entscheidendem Bruch in der Wirtschaftsgeschichte festhält. Für Abelshauser lässt sich vielmehr das Aufkommen der Neuen Industrien im späten 19. Jahrhundert als eine “Zweite Wirtschaftliche Revolution” verstehen – und damit als der von Douglass C. North postulierte größte ökonomische Entwicklungssprung seit Jahrtausenden sehen. Die revolutionäre Qualität der Neuen Industrien liegt für den Bielefelder Wirtschaftshistoriker nicht nur in der engen Verbindung von Wissenschaft und Technik, sondern auch in der Neugestaltung des institutionellen Rahmens der Wirtschaft. Ende des 19. Jahrhunderts nahm das deutsche Produktionsregime Gestalt an – von Anfang an schon unter den Bedingungen der Globalisierung und der Verwissenschaftlichung der Produktion.

Dass der gegenwärtige Globalisierungsprozess nicht als grundsätzlich neues Phänomen anzusehen ist, darüber waren sich die meisten Teilnehmer des Symposiums im zweiten Themenbereich “Weltmarkt: international, regional, transnational, global?” unter der Leitung von Peter Hertner (Martin-Luther-Universität, Halle) weitestgehend einig. Henning Klodt (Institut für Weltwirtschaft, Kiel) skizzierte Bedingungen und Indikatoren der gegenwärtigen Globalisierungsphase (zum Beispiel sinkende Kosten der Raumüberwindung) und machte deutlich, dass nur im Inland erfolgreiche Branchen auch im Ausland investierten. Eine branchenweite Verlagerung der Produktion deutscher Unternehmen ins Ausland aus Kostengründen, wie das immer wieder behauptet wird, konnte er nicht feststellen. Erfolgreiche Branchen wachsen im In- und Ausland oder - so seine These – gehen vollständig im Strukturwandel unter. Außerdem wies er auf die ambivalente Deutung von Direktinvestitionen in Deutschland hin: Einerseits werden sie als Indikator einer hohen Standortqualität geschätzt, andererseits aber im Falle “feindlicher” Übernahmen (Vodaphone-Mannesmann) öffentlich gebrandmarkt. Klodt gab Handlungsempfehlungen für die Politik, um die “Deutschland AG” wieder auf Erfolgskurs zu bringen: Steuern auf Konsum statt auf Einkommen, die Infrastruktur über Gebühren statt über Steuern finanzieren und Eigeninitiative statt Umverteilung im Sozialstaat. Im zweiten Orientierungsreferat des Themenbereichs “Weltmarkt: international, regional, transnational, global?” unterscheidet Raymond Stokes (Europe-Japan Social Science Research Centre) nicht zwischen alten und neuen Industrien. Das entscheidende Kriterium sei der Charakter der Märkte, der sich grundlegend verändert habe. Die klassische Unterscheidung von Unternehmen und Markt hebt der Glasgower Wirtschaftshistoriker auf. Da für ihn Unternehmen intern ebenfalls nach Marktmechanismen funktionieren, bezieht er sie direkt in den Wandel der Märkte mit ein.

Unter der Überschrift “Kontinuität und Wandel des industriellen Unternehmensregimes” diskutierten Paul Erker (Ludwig-Maximilians-Universtät München) und Sigurt Vitols (Wissenschaftszentrum Berlin) im von Toni Pierenkemper (Universität Köln) geleiteten dritten Themenbereich die Entwicklung des deutschen und amerikanischen Produktionsregimes. Während Erker sich vorwiegend mit dem deutschen Produktionsregime auseinander setzte, verglich Vitols aus soziologischer Perspektive das deutsche und das amerikanische Produktionsregime. Paul Erker sieht insbesondere zwei Brüche in der Entwicklung des deutschen Produktionsregimes: Zum einen die Zeit des Nationalsozialismus und zum anderen die 1970er Jahre. Zwar wirkt auch für die Zeit des Nationalsozialismus die kapitalistische Anreizordnung und das etablierte Innovationssystem fort; allerdings veränderte sich der institutionelle Rahmen, was in Bezug auf industrielle Beziehungen, Aktiengesetz, Großforschung und Wettbewerb seinen Ausdruck fand. Eine neue Situation auf den Finanz- und Rohstoffmärkten sowie steigende Rohstoffpreise markierten nach Erker den zweiten Einschnitt des deutschen Produktionsregimes. Die “rules of the game“ veränderten sich. Unsicherheit im Allgemeinen und Wandel der industrial relations sowie der innerbetrieblichen F&E im Besonderen waren die Folge. Erker stand mit seiner Periodisierung nicht nur in Kontrast zum Abelshauserschen Modell, das in den 70er Jahren keinen wesentlichen Bruch festmachen kann, sondern ging sogar noch einen Schritt weiter und bestritt, dass der institutionelle Rahmen für Unternehmen eine große Bedeutung habe. Die Strategien der Unternehmen unterschieden sich wesentlich voneinander und das einzige Erfolgskriterium sei dabei, die höchste Effizienz zu erreichen. Sigurt Vitols, der in seiner Untersuchung den institutionellen Rahmen der USA und Deutschlands um 1900 und der Gegenwart vergleicht, konstatierte eine Angleichung des deutschen an das amerikanische Produktionsregime. Er stellte jedoch nicht den ´varieties of capitalism´-Ansatz in Frage, der auf die Divergenz zwischen den institutionellen Rahmenbedingungen für die europäische und die amerikanische Wirtschaft verweist und die Bedeutung der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Einbettung von Institutionen betont. Vitols unterstreicht zum einen, dass das Produktionsregime amerikanischer Prägung die Entwicklung neuer Branchen fördert, weist aber auch darauf hin, dass die Unternehmen insbesondere im Bereich der New Economy einem härteren Wettbewerb unterlägen. Der beschleunigte Ausleseprozess kann somit auch - wie im Falle von Microsoft - zu Quasi-Monopolstellungen führen.

Im vierten und letzten Themenbereich “Wissenschaft und Technik: alte und neue Leitbilder”, der unter der Leitung von Jakob Tanner (Universität Zürich) stand, wies Jeffrey A. Johnson (Villanova University, Philadelphia) auf die Ablösung des “Classic linear Model” durch das “Industrial Science Model” hin. Das Leitbild des klassischen Wissenschaftlers sei bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts in Deutschland das Trial and Error-Verfahren gewesen. Erst das neue Ideal der akademischen Ausbildung öffnete der systematischen Forschung den Weg. Die alte Trennung zwischen reiner und angewandter Chemie wurde aufgehoben und beidseitige Rückkopplungseffekte verstärkten die Dynamik der Wissensproduktion. Begleitet wurde dieser Wandel von einem Anstieg des Einkommens und der Reputation von Forschern in der angewandten Chemie. Ulrich Wengenroth (Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte) knüpfte im letzten Orientierungsreferat an die Ausführungen seines Vorgängers an, verwies aber zugleich auf die Veränderung des Innovationsprozesses in den letzten dreißig Jahren. Auch er sieht in den 70er und 80er Jahren einen Kontinuitätsbruch, weil die Produktentwicklung nicht mehr wissenschafts- oder technologiegetrieben sei. Insbesondere in verbrauchernahen Märkten wie Tourismus, Wellness, Automobil oder Versicherungen spiele die Evokation von “Gefühlen” eine immer wichtigere Rolle. Es ginge immer mehr darum, “Illusionen” zu verkaufen. Der Erfolg Nokias zum Beispiel ließe sich nicht allein durch eine technologische Überlegenheit erklären, sondern hinge mit dem besseren Verständnis des finnischen Unternehmens für die Anwendungszusammenhänge des Produktes und des Konsumentenverhaltens zusammen. Viele Produktentwicklungen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten prägend für unsere Gesellschaft waren, seien häufig zufällige “Abfallprodukte” der Forschung (z.B. Radioaktivität, Faxgeräte).

In der abschließenden Generaldebatte traten erneut die unterschiedlichen Sichtweisen klar hervor. Auf der einen Seite stand das Lager derer, die - wie Abelshauser - die Kontinuität der Entwicklung von der Neuen Industrie zur New Economy betonen. Sie sehen das revolutionär Neue an der gegenwärtigen Entwicklung in der Durchsetzung des Prinzips der Wertschöpfung auf immaterieller Basis, die nicht länger auf der Stoffumwandlung, wie in der klassischen alten Industrie, als vielmehr auf dem integrierten Wissen über Bedürfnisse am Markt, Problemlösungen durch Forschung und Entwicklung, Herstellungsverfahren, Anwendungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten sowie den in den Produktionsprozess integrierten Dienstleistungen beruhe. Damit korrespondieren weltweit divergierende Produktionsregime, die ihre komparativen institutionellen Kostenvorteile auf unterschiedlichen Märkten zur Geltung bringen. Die institutionelle Arbitrage, die daraus resultiert, gehört nach dieser Sichtweise zu den mächtigsten Antrieben der Globalisierung. Im Lager derer, die von der Industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts ausgehend ihrem Weltbild einen gestuften Modernisierungsprozess zugrunde legen, besteht weitgehend Übereinstimmung, in den 1970er Jahren den Einschnitt einer dritten industriellen Revolution zu sehen, deren Ursachen allerdings in unterschiedlichen Faktoren gesucht wird. Übereinstimmung besteht allerdings darin, den Umwälzungen in der Kommunikationsbranche große Bedeutung beizumessen. So wies Hartmut Berghoff darauf hin, dass wir es im Bereich E-Commerce mit einem neuen Unternehmertypus zu tun hätten, der sein Unternehmerdasein nur als kurze Lebensphase empfände. Margrit Grabas ergänzte, dass wir die sozialen Auswirkungen der dritten industriellen Revolution in Bezug auf die Organisation von Arbeit und dem Modell der traditionellen Erwerbsarbeit noch gar nicht absehen könnten. Die Kontroverse ließ sich auf dem Symposium nicht beilegen, doch waren sich alle Teilnehmer einig, dass die weitere Forschung beide Positionen berücksichtigen müsse, um die Ergebnisse offen zu halten. Sie stimmten ebenfalls darin überein, der historischen Unternehmensforschung dabei eine wichtige Rolle zuzumessen.

Matthias Band (Bielefeld) und Frank Werner (Bielefeld)


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