Die Zukunft der Erinnerung

Die Zukunft der Erinnerung

Organisatoren
Historische Kommunikation der Volkswagen AG
Ort
Wolfsburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.11.2006 - 24.11.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Rolf Pauthner

Etwa 30 Vertreter aus Wissenschaft, Gedenkstättenarbeit und Wirtschaft folgten der Einladung der Historischen Kommunikation der Volkswagen AG zu einem wissenschaftlichen Arbeitsgespräch unter dem Titel „Die Zukunft der Erinnerung“ nach Wolfsburg. Im Mittelpunkt des Programms standen fünf kompakte Impulsreferate zu drei Themenkreisen: 1. Erinnerung zwischen Globalisierung und Virtualisierung, 2. Der Zeitzeuge und die Erinnerung und 3. Die Kunst des Gedenkens.

Nach der Begrüßung durch den Leiter der Historischen Kommunikation, Manfred Grieger, eröffnete der Wiener Zeithistoriker Bertrand Perz die zweitägige Zusammenkunft mit seinem Vortrag „Erinnern und Gedenken am Scheideweg – ein österreichischer Zwischenruf“. Perz zeichnete in seinem chronologisch strukturierten Abriss den Verlauf der österreichischen Erinnerungsgeschichte vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart nach, den er strukturell in vier Phasen unterteilte: Zunächst betrachtete er die unmittelbaren Nachkriegsjahre bis 1949, in denen erinnerungspolitisch noch keine Binnendifferenzierung innerhalb der Opfergruppen der NS-Verfolgung vorgenommen wurde. Dass die Betroffenen bei aller Verschiedenheit ihrer Opfergeschichte weitgehend als homogenes Kollektiv wahrgenommen wurden, führte Perz auf die Moskauer Deklaration von 1943 zurück, in welcher die Alliierten der österreichischen Bevölkerung einen unabhängigen Staat in Aussicht stellten, sollte sie sich aktiv am Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligen. Die Thesen vom Freiheitskampf als Massenbewegung und von Österreich als erstem Opfer der Hitlerschen Aggressionspolitik verbanden sich schnell zu einem für den staatlichen Neuanfang willkommenen nationalen Gründungsmythos. Analog vertrat das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen als zentrale österreichische Gedenkstätte, die 1947 dem Ressort des Innenministeriums zugeordnet wurde, stellvertretend den Erinnerungsanspruch der meisten Opfergruppen - unter besonderer Betonung des nationalen Anteils. Ein erster Paradigmenwechsel vollzog sich mit Abschluss der Entnazifizierungsprozesse 1949, die den jungen Staat vor die Aufgabe stellte, etwa 700.000 ehemaligen NSDAP-Parteigänger strukturell, gesellschaftlich und vor allem politisch zu integrieren. Uneinig in der Frage, wie dieses zu geschehen habe und begleitet von der einsetzenden politischen Blockbildung in Europa setzte eine allmähliche Auflösung der „anti-faschistischen“ Opfergemeinschaft zu Gunsten ideologisch gefärbter und national organisierter Opferverbände ein. Augenscheinlich wurde diese Entwicklung im „Weihraum“ in Mauthausen, wo die Opfergruppen symbolisch durch die Nationalfarben ihrer Herkunftsländer vertreten waren. Parallel dazu trat seit Anfang der Fünfziger Jahre der Kreis der ehemaligen Wehrmachtssoldaten in den Mittelpunkt der öffentlichen Erinnerung. Dieser „Opfertausch“ bewirkte, dass sich in der Alpenrepublik ein, wenn auch dezentral organisiertes, so doch schlussendlich konkurrierendes Gedenken entwickeln konnte. Dieses hielt bis 1963, als mit der Gründung des „Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes“ (DÖW) der Schritt unternommen wurde, wissenschaftlich seriöse Forschungstätigkeit zu diesem Themenkomplex zu institutionalisieren. Vor allem die Opfergruppen der NS-Verfolgung versprachen sich durch die zu erwartenden Ergebnisse dieser Forschungsarbeiten eine Stärkung ihrer Position.
Den nächsten Markstein legte 1970 die Ausstellungseröffnung in Mauthausen. Einhergehend mit den stetig steigenden Besucherzahlen verband sich die optimistische Erwartung, mit neuen pädagogisch-didaktischen Konzepten nachhaltig wirksame politische Bildungsarbeit leisten zu können.
Geprägt von der Affäre um den damaligen Staatspräsidenten Waldheim leiteten die 1980er-Jahre eine neue Diskussion um die historische Plausibilität der „Opferthese“ ein, die nunmehr nicht weiter aufrecht zu erhalten war. Die Aufsehen erregenden Debatten um die Bewertung der eigenen Rolle im Dritten Reich führten in Österreich zwar zu einem differenzierteren Geschichtsbild, doch zeige der Befund, dass sich dieses nicht unmittelbar auf die Gedenkstättenarbeit ausgewirkt habe: So blieben die Ausstellungskonzepte und -formen von 1970 bis heute fast unverändert, nur ihre jeweilige Interpretation änderte sich. Entscheidend sei deshalb, so Perz, wer im Spannungsfeld von parteipolitischen Interessen, Häftlingsgemeinschaft, Wissenschaft und öffentlicher Meinung jeweils die temporäre Deutungsmacht über die überlieferte Erinnerung innehabe. Wie sich die weitere Entwicklung der österreichischen Erinnerungspolitik und -kultur gestalten werde, sei offen. Zunehmend bedeutsamer werde für die konkreten Orte des Gedenkens die Frage, wie man weiterhin Aufmerksamkeit erzeugen und sich den Bedürfnissen und Erwartungen der potenziellen Besucherklientel von heute annähern könne. So stellten beispielsweise die Einbindung in touristische Konzepte, die Vermarktung von
„unique selling propositions“ oder die Veranstaltung von musikalischen Konzertreihen inzwischen keine Verwerflichkeiten mehr dar.

Den zweiten Themenkomplex „Erinnerung zwischen Globalisierung und Virtualisierung“ leitete Claus Leggewie von der Universität Gießen mit seinem Vortrag „Transnationale Perspektiven, Konflikte und Potenziale“ ein. Eine wesentliche Beobachtung der vergangenen Jahre sei, dass die durch die unterschiedlichen (nationalen) Geschichtspolitiken entstandenen Erinnerungskulturen im Zuge der Globalisierung Grenzen überschreitende Bewegungsmuster erkennen ließen. Die Frage, ob in Folge dieser Diffundierungsprozesse auch das kollektive Gedächtnis einer Nation den Rahmen der politischen Grenzziehungen überschreite und damit transnational werde, bildete den zentralen Ausgangspunkt für Leggewies Ausführungen. Im Hinblick auf Europa gebe es mit dem Holocaust, den Verbrechen des Stalinismus und der armenischen Frage zwar drei denkbare Erinnerungskomplexe, die sich im Sinne einer negativen Integration als Fundamente einer EU-weiten gemeinsamen Geschichtspolitik eignen würden, doch zeige die empirische Wirklichkeit einen anderen Befund. Folgten die geschichtspolitischen Akzentuierungen bis 1989 dem bipolaren Muster des Kalten Krieges, so habe sich seither eine Vielfalt nationaler historischer Denkmuster herausgebildet, die weitgehend nebeneinander und ohne gegenseitige Bezugnahme existierten. Statt gemeinsamer Erinnerung gebe es somit vielmehr einen „clash of memories“. Die Bereitschaft, den schwelenden geschichtspolitischen Konflikt auch auszutragen, biete, so Leggewie, immerhin konkrete Möglichkeiten, die Funktionsweise von Demokratie zu erfahren. Erweitere man das Blickfeld von der europäischen hin zur globalen Perspektive, so ließe sich die Koexistenz unterschiedlichster geschichtspolitischer Narrative nachweisen, die auf die unmittelbaren nationalen oder regionalen historischen Ereignissen zurückführbar seien. Abzuwarten bleibe, wie sich die weltweit zunehmende Migration von Menschengruppen und damit zugleich deren unterschiedlichsten Erinnerungskulturen auf die Entwicklung der kollektiven Gedächtnisse auswirken werde. Eine Frage, deren Beantwortung weiter im Raume steht.

Mit dem Vortrag „Wege zur „Erlebten Geschichte“ – Visualisierung und Virtualisierung von Erinnerungen in der Gedenkstättenpraxis“ rundete Insa Eschenbach, Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück den ersten Tagungstag ab. In ihren Ausführungen näherte sie sich der Frage an, in welchen konkreten Formen sich in der Praxis mit „Erinnerung“ arbeiten lasse. Wo Gedenkstätten aus ehemaligen Konzentrationslagern hervorgingen, seien sie „reale Orte“, sie verkörperten Erinnerung und riefen bei Besuchern bestimmte Erwartungen an Erinnerung und deren Darstellung hervor. Im Zeitalter der „popular culture“ hätten die Gedenkstätten zunehmend mit Besuchern zu tun, deren Geschichtsbild filmisch vorgefertigt sei. Auf Emotionalisierung abzielende Medienprodukte zeichneten ein Bild von den Ereignissen der Vergangenheit, mit dem sich die im Gedenkstättenwesen Tätigen auseinander zu setzen hätten. Wo die medial kommunizierte Wirklichkeit mit den historischen Ereignissen und Tatsache nicht übereinstimme, müssten die Besuchererwartungen bewusst gebrochen werden. Ohnehin werde die Eindimensionalität der Vorkenntnisse den Vielschichtigkeiten des realen Ortes und seiner Geschichte(n) nicht gerecht. Ohne die entsprechende geschichtliche Kenntnis und den dazugehörigen Kontext blieben die Relikte, ob baulicher oder dokumentarischer Natur, für den Besucher weitgehend unlesbar. Ein Kernaspekt der täglichen Arbeit müsse daher die Vermittlung von Quellen- und Medienkritik sein. Gerade im Umgang mit Erinnerung sei es entscheidend, darauf hinzuweisen, dass Quellen nie nur Mittler zwischen dargestellter Vergangenheit und Rezipient seien, sondern zugleich auch immer deren Gestalter. Den zentralen Charakter, den Erinnerung, besonders die dokumentierte Erinnerung von Zeitzeugen, für das Gedenkstättenwesen habe, fordere zu deren Aufbewahrung, aber zugleich auch Verarbeitung auf. Praktisches Beispiel für einen innovativen Umgang mit Aufzeichnungen aus der oral history sei ein Projekt der Jugendbegegnungsstätte Ravensbrück, bei dem junge Heranwachsende in einem Filmprojekt Versatzstücke aus Zeitzeugeninterviews zu eigenen filmischen Produktionen kompilierten. Auf dem Weg der Selbstinszenierung erhielten die Jugendlichen die Möglichkeit, Geschichte über das gemachte Empathieerlebnis persönlich fassen zu können. Auch wenn nicht alle ehemals Betroffenen diesen Umgang mit ihren aufgezeichneten Erinnerungen und die daraus entstandenen Ergebnisse billigten, sei dies ein gangbarer Weg, der von den Besuchern rege angenommen werde. Selbstredende Voraussetzung sei eine entsprechend vorhandene technische Infrastruktur, die nicht allen Einrichtungen in ausreichendem Maße zur Verfügung stehe.

Zum Abschluss des ersten Tages bot sich für die Teilnehmer die Gelegenheit, die „Erinnerungsstätte an die Zwangsarbeit auf dem Gelände des Volkwagenwerks“ zu besichtigen. Die im Dezember 1999 in Anwesenheit ehemaliger Zwangsarbeiter eröffnete Dauerausstellung zeigt mit Dokumenten, Fotos, Selbstaussagen und anderen Exponaten, darunter auch Leihgaben persönlich Betroffener, die Struktur und das Ausmaß der historischen Menschenrechtsverletzung im Zusammenhang mit der Einbindung des Volkswagenwerks in die deutsche Rüstungsindustrie auf.

Den zweiten Tag des Arbeitsgesprächs eröffnete mit Dirk Schlinkert ein Mitarbeiter der Historischen Kommunikation der Volkswagen AG. In seinem Referat „Der Zeitzeuge. Eine Spurensuche im Übergang zum kulturellen Gedächtnis“ kontrastierte er die Rolle des Zeitzeugens für das kulturelle Gedächtnis mit seiner Position in der (Zeit-) Geschichtswissenschaft. Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildete die Skizzierung der herausgehobenen Stellung und elementaren Bedeutung des Zeitzeugens in der jüdischen Gedächtniskultur. Im Rückgriff auf Lutz Niethammer warf Schlinkert die Frage auf, ob der Zeitzeuge in der jüdischen Tradition nicht „ein Zeuge der Vergangenheit (ist), dessen Erzählung zuallererst den religiösen Auftrag des ‚Zachor!’ (Erinnere Dich!) erfüllt, um die kollektiven Grundlagen der jüdischen Gemeinschaft zu bestätigen, zu erneuern und in die Zukunft zu tragen“. Jenseits der jüdischen Kultur stünden Zeitzeugen hingegen mit Geschichtswissenschaftlern in einem „offenen Wettbewerb um die Durchsetzung ihrer Deutungsangebote“, in Fachkreisen kursiere sogar das Wort vom „Zeitzeugen als natürliche(m) Feind des Zeithistorikers“. Doch auch in der Zunft der Zeithistoriker sei man sich uneins über den wissenschaftlichen Wert der Aussagen von Zeitzeugen. In der Diskussion um die Deutungshoheit zeitgeschichtlicher Ego-Texte bleibe oftmals außer Acht, mit welchen Parametern die Aussagekraft erinnerter Zeugnisse überhaupt zu bemessen sei. Letztlich sei es der Interviewer, der mit seiner Auswahl des Zeitzeugens, Fragetechnik und Überzeugung den Zeitgenossen erst zum „authentischen Erzähler“ erinnerter Geschichte küre. Vielfach unbeachtet bliebe zudem die Frage nach dem Zustandekommen von Erinnerung, die als konstruktive Arbeit des Gedächtnisses der Erinnernden vom Kontext der Befragung und der individuellen Lebenssituation des Zeitzeugen abhinge. Befunde benachbarter Wissenschaftsdisziplinen hierzu, beispielsweise der Kulturwissenschaften, Sozialpsychologie und Neurobiologie, wie sie sich in den Arbeiten von Jan Assmann, Harald Welzer oder Wolf Singer finden, würden von Historikern nicht oder in zu geringem Maße implementiert. Grundsätzlich stehe der Quellenwert eines Zeitzeugen einer Reihe mit anderen Deutungsmustern der Vergangenheit, überrage diese jedoch nicht. Der Tod der Zeitzeugen habe für die historische Forschungsarbeit folglich weniger Folgen als beispielsweise für das kollektive Gedächtnis einer Generation. In seinem Abschlussplädoyer sprach sich Schlinkert für eine verstärkte Zuwendung der Geschichtswissenschaft zur „Historisierung des Generationswechsels“ und dessen methodisch-kritischer Beschreibung, Analyse und Bewertung aus. In einer zukünftigen „Gegenwart ohne Überlebende des Holocaust oder des Nationalsozialismus“ liege es nunmehr an der Zeitgeschichte, sich zu einer „Historischen Kulturwissenschaft“ zu entwickeln. Sie könne die inhaltliche Überbrückung der „Bruchstelle zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis“ leisten und den Nachgeborenen die Möglichkeit eröffnen, zu neuer Orientierung in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu gelangen.

Stefanie Endlich von der Universität der Künste Berlin rundete anschließend mit ihrem Vortrag „Ästhetisiertes Erinnern im öffentlichen Raum“ das zweitägige Arbeitsgespräch ab. Im Fokus ihrer Betrachtung stand die Frage nach dem Aufklärungspotenzial von raumästhetischen Darstellungsformen. Der Versuch, Kunst als „Heilmittel gegen das Übergewicht kognitiver Einflüsse“ zu instrumentalisieren, so ihre Beobachtung, lasse sich auch in der Gestaltung von Gedenkstätten-Ausstellungen erkennen. So setzten die Initiatoren vielfach darauf, Besuchern den historischen Ort über konkret erfahrbare Sinneseindrücke näher zu bringen und für diesen „ein stimmiges Label“ zu kreieren. Architektur, verstanden als „Formsprache von Erinnerung“, spiegele dabei immer auch den zeitgenössischen Kontext ihrer Entstehung und somit bestimmte vorgegebene Deutungsmuster wider. Selbst bei der Wahl der verwendeten Grundsubstanzen und Bau-Materialien habe sich längst ein international codierter Kanon herauskristallisiert, zu denen Stahl- oder Betonkonstruktionen zählten. Solche Narrative erleichterten auf der einen Seite vielen Besuchern im Sinne eines „Roten Fadens baulicher Art“ den rezeptiven Zugang zum Dargestellten, wirke jedoch auf der anderen Seite für manche abgegriffen und wenig förderlich für eine intensive Auseinandersetzung. Wie sich die künstlerische Gestaltung auf diesem Felde weiterentwickeln werde, sei nicht absehbar, die „Weichen“, so Endlich in ihrem Schlusssatz, „sind noch nicht gestellt.“

Die abschließende Podiumsdiskussion stand unter dem Thema „Erinnern als politisches Diktum und kulturelle Herausforderung: Perspektiven und Visionen“. Unter der Moderation von Andreas Eberhardt (Gegen Vergessen – Für Demokratie) initiierten Jörg Skriebeleit (KZ-Gedenkstätte Flossenbürg), Volkhard Knigge (Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau- Dora), Peter Reichel (Universität Hamburg), Ulrike Jureit (Hamburger Institut für Sozialforschung) und Manfred Grieger einen interdisziplinären Meinungsaustausch zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Gedenkstättenarbeit. Erneut entspann sich hierbei die Diskussion um die Generationenfrage, und dies in mehrfacher Hinsicht. Ungewiss bliebe, so etwa die skeptische Einschätzung Knigges, wie sich die Entscheidungsträger aus Politik und Öffentlichkeit zukünftig innerhalb dieses Themenfeldes positionieren würden. Der unvermeidliche Altersgruppenwechsel bei den verantwortlichen Akteuren könne zu folgenreichen Verschiebungen in der zugewiesenen Bedeutung und Gestaltung von Geschichtspolitik führen. Politiker, die beispielsweise Nationalsozialismus und Holocaust nicht mehr aus eigener Zeitzeugenschaft erlebt hätten, würden neue Schwerpunktsetzungen in der Vermittlung von historischen Aspekten vornehmen. Für das Gedenkstättenwesen bestehe hierbei weniger die Gefahr eines einschneidenden institutionellen Abbaus als vielmehr in Folge der zunehmenden technokratischen Sichtweise in eine Randexistenz im öffentlich-politischen Bewusstsein gedrängt zu werden. Ganz im Sinne des angemahnten „clash of memories“ konkurrierten längst, und dies gelte im Besonderen für die neuen Bundesländer, unterschiedliche Geschichtserfahrungen miteinander. Ein Beispiel sei die Auseinandersetzung mit Diktaturerlebnissen, die die Lebenswelt vormaliger DDR-Bürger empirisch mehr betreffe als es der Holocaust tue.

Notwendig ist, dies hat die Tagung offen zu Tage gebracht, dass die professionell mit Erinnerungsthemen Arbeitenden eine kritische Reflexion ihrer Tätigkeit und eine Standortbestimmung ihrer Einrichtungen im öffentlichen Diskurs vornehmen. Der Wandel im historischen Bewusstsein, den ein fortschreitender und errungene Besitzstände unweigerlich gefährdender „clash of memories“ bedeuten kann, ist längst im Gange. Für die Zukunft des Gedenkens und Erinnerns verkörpert diese neue Situation eine enorme Herausforderung. Sie kennzeichnet ein bereits nicht mehr nur schwelender Verteilungskampf um Aufmerksamkeit und Legitimationszuschreibung, auf den bisher nur die wenigsten Einrichtungen tatsächlich vorbereitet zu sein scheinen. Im Augenblick, so die Erkenntnis der Zusammenkunft, fehlt es an Ideen, die eine inhaltliche Neudefinition und Richtungsweisung vornehmen könnten. Bot der bislang von der offiziellen Geschichtspolitik gesetzte Handlungsrahmen ausreichend Orientierungshilfe für die Praxis, so muss diese nun aus der eigenen Mitte neu er- und gefunden werden. Der auch auf dieser Tagung spürbare Zukunftspessimismus unter den verantwortlich Handelnden mag Ausdruck der gefühlten Ratlosigkeit sein, kann jedoch langfristig kaum zu einer Verbesserung der Situation beitragen. Erforderlich ist eine (Aus-)Richtungsentscheidung für die Weiterentwicklung. Diese sollte auf einem starken Fundament von Gedenkstätten, Wissenschaft und Wirtschaft basieren. Die zweitägige Zusammenkunft wies hierfür erste Schritte in diese Richtung. Bei der Erweiterung des Diskussionszusammenhangs wird auch der geplante Tagungsband hilfreich sein.


Redaktion
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