‚The making of…’ Genie: Mozart und Wittgenstein. Biographien, ihre Mythen und wem sie nützen

‚The making of…’ Genie: Mozart und Wittgenstein. Biographien, ihre Mythen und wem sie nützen

Organisatoren
Nicole L. Immler; Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
19.10.2006 - 21.10.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Deborah Holmes, Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie, Österreichisches Literaturarchiv

Die Biographie ist als Genre populärwissenschaftlich außerordentlich gut etabliert, kämpft jedoch seitens der Forschung immer noch um volle Anerkennung und das, obwohl ihre inhärente Interdisziplinarität und die Brückenfunktion, die sie zwischen Populär- und Hochkultur einnimmt, kulturwissenschaftlich äußerst aktuell anmuten. Der Ruf, lediglich eine ‚Hilfswissenschaft’ zu sein, trägt zu dieser Geringschätzung ebenso bei, wie die Angst, die Werke und Leistungen der biographierten Personen könnten von biographischen, anekdotischen Details überschattet werden. Mit diesen Gedanken leitete Nicole L. Immler das von ihr konzipierte und von der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mitveranstaltete Symposium ‚The making of… Genie: Mozart und Wittgenstein’ ein.

Der Untertitel ‚Biographien, ihre Mythen und wem sie nützen’ weist bereits auf die zentrale Rolle hin, die Biographien unausweichlich in der Rezeptions- und Forschungsgeschichte verschiedenster Personen spielen: Sie können der Forschung eine neue Wende geben, entweder weil sie bei der Suche nach Lebensgeschichte das Werk in ein neues Licht stellen, oder weil sie a-biographischen ForscherInnen zu Gegenreaktionen herausfordern. Der hierarchische Begriff ‚Genie’ diente bei der Tagung als Zuspitzung einer grundlegenden Problematik der Biographie: Wird die biographierte Person in die Kultur und Gesellschaft ihrer Zeit kontextualisiert oder unerreichbar auf einen Sockel gestellt? Geht es darum, Leistungen kulturgeschichtlich zu beleuchten oder sie getrennt von der Lebensgeschichte als die unerklärlichen Taten eines außerordentlichen Menschen darzustellen?

Jenseits der wissenschaftlichen Fachgrenzen, ist die Biographie ein Zeichen dafür, dass eine kulturelle Figur ‚angekommen’ ist, dass sie kein ‚Geheimtip’ mehr ist, sondern ‚Starpotenzial’ hat, so Georg Franck. Seiner Theorie einer ‚Ökonomie der Aufmerksamkeit’ entsprechend, argumentierte er, dass es nur ein überprüfbares Kriterium dafür geben kann, ob eine Person zum Klassiker geworden ist: Die Aufmerksamkeit der Massen und der Experten. Dabei beschrieb Franck den Kanon widersprüchlich als vom Markt bestimmt, doch gleichzeitig als fixer ‚Katalog’, der erstaunlich stabil bleibt und doch einen eigenständigen Wert zu haben scheint. Ein Widerspruch, der mit einem Blick auf die Geschichte der Kanonbildung noch genauer zu betrachten wäre.

Wie der Prozess des Klassiker-Werdens selbst zum Thema der Forschung und von Biographien wird, zeigte der Vortrag Gernot Grubers. Er schilderte in einem großen Bogen das Zusammenspiel von Resonanz- und Rezeptionsgeschichte im Falle Mozarts seit dessen Tod und zeigt: Biographien, auch von ‚Genies’, werden immer von einer beschränkten Zahl von sich wiederholenden Topoi oder konstanten Begriffen bestimmt, die relativ früh in der Rezeptionsgeschichte auftauchen, um immer wieder bearbeitet und umgearbeitet zu werden. Was Mozart betrifft, spürte Gruber sieben Haupt-Topoi auf: Die Komplexität seines Werkes, die Heterogenität seiner Rezeption, Mozart als Wunderkind, die Sensationstheorien um sein Leben und seinen Tod, die Geheimnisse um die Entstehung seiner Werke (insbesondere das Requiem) und schließlich Mozart als Popstar und Exzentriker. Trotz dieser Wiederholungen führten die Mozart-Gedenkjahre 2001 und 2006 mit ihren neuen Biographien immer auch zu neuen Entwicklungen in der Forschung, auch wenn diese als Reaktion gegen solche Schriften stattfanden. Das jüngste Beispiel dafür wäre Ulrich Konrads Wolfgang Amadé Mozart. Leben, Musik, Werkbestand (2005), in dem der Autor darauf besteht, dass weitertragende Irritationen bei Biographien entstehen müssen, in denen versucht wird, fachmännische Werkanalysen in Einklang mit der Lebensgeschichte zu bringen.

Ein Wittgenstein-Erzähler ist Mathias Iven, der mit der abschreckenden Behauptung anfing, Biographien zu schreiben sei wissenschaftlicher Selbstmord. Jenseits dieses (vielleicht für die 1970er Jahre gültigen) Klischees plädierte Iven dann aber doch dafür, Biographie als eine wichtige Gelegenheit zu sehen für die Historisierung eines Lebenswerks. Dies wirke zugleich dem ‚Genie-Mythos’ entgegen, indem die aphoristischen philosophischen Bemerkungen Wittgensteins nicht mehr rätselhafte Aussagen einer prophetenhaften Figur bleiben, sondern Kontexte bekommen. Aber bitte nicht zu viel: Die Leerstellen in den Quellen sollen die BiographInnen nicht übertünchen, denn diese seien gute Gelegenheiten zur Problematisierung und Historisierung. Letztendlich, so Iven, sollte der/die BiographIn zugeben können, das kein Leben völlig verständlich ist. Der Unterschied zwischen einer biographischen Interpretation eines Lebens und des Lebens selbst sollte nicht vergessen werden. Dies wiederum garantiert, dass es immer Bedarf an neue Biographien geben wird, auch zu den bereits am besten erforschten Personen.

Für das Genre Biographie, wie auch für die Wahrnehmung einer Person, spielt das Medium Film eine immer größere Rolle. Ein kursierender Blick auf Mozart- und Wittgenstein-Filme im Filmarchiv Austria zeigte spannend, wie Genie-Narrative sich in Bildern fest- und umsetzen. Cornelia Szabó-Knotik thematisierte das „Dazwischen“ zwischen Wolfgang und Amadeus und zeigte die Konstruktionen des Genies, indem sie die historische Bedingtheit der Zuschreibungen ‚Genie’ und ‚Kanon’ ins Zentrum rückte. Der Name ‚Amadeus’, wurde zwar von Mozart selber nie verwendet, tauchte aber im Laufe des 19. Jahrhunderts in seiner Rezeptionsgeschichte als Teil eines neuen Geniekultes auf. Dieses aufkeimende Interesse für das außerordentliche künstlerische Individuum betraf nur Männer; doch oft mit einer weiblichen Muse gepaart. Szabó-Knotik ging dieser Entwicklung anhand der entsprechenden Gattungsentwicklung Künstlerroman–Operette –Film–Musical nach. Für sie stellt Milos Formans Amadeus einen bahnbrechenden Beitrag zur Mozartbiographik dar, der nicht nur die üblichen Konventionen von Leben versus Werk sprengt und Mozarts Musik als eigentliche Protagonistin des Filmes inszeniert, sondern auch ein Revival vom romantischen Geniekult im späten 20. Jahrhundert zur Folge hatte (Falco).

Eine völlig andere Art von Film-Biographie präsentierte Kurt Palm, mit seine, neuesten Film Der Wadenmesser oder Das wilde Leben des Wolfgang Mozart. Palm sieht sich als ‚Biograph mit verdrehtem Blick’ und stellte den Genie-Begriff im gegenwärtigen österreichischen Kontext überzeugend als politisch motiviertes Ausweichmanöver dar. Ein Gedenkjahr für ein enthistorisiertes, gottgegebenes Genie kann sich jeder Kritik entziehen und bietet unvergleichliche Möglichkeiten der nationalen Selbstrepräsentation und Selbstbeweihräucherung an: So geschehen im Falle Mozarts politischer Instrumentalisierung als Europäer im Rahmen der EU-Präsidentschaft Österreichs. Dagegen suchte Palm in seiner Arbeit nach Anknüpfungspunkten mit der gesellschaftlichen Gegenwart und stellt sich selbst bewusst als Biograph in Szene. Damit thematisiert er die Tatsache, dass jede Biographie unausweichlich die Gegenwart, in der sie produziert wird, widerspiegelt. Um das Werk und die Schriften Mozarts zeitgemäß in den Film einzubauen, wurden Überarbeitungsaufträge an zeitgenössische Künstler gegeben, die zum Beispiel eine Hip-Hop-Version von Mozarts Briefen produzierten. Zugleich wiederum ein Stilmittel Palms, um den alltäglichen Mozart hervorzuheben, auch sein Plädoyer dafür, die Kehrseite des Geniebegriffs zu sehen: die oft auch politisch motivierte Geringschätzung der anderen ‚normalen’ Menschen.

Thomas Ballhausen untersuchte unter dem Insider-Titel „Philosophen und Marsianer“, den Wittgensteinfilm von Derek Jarman, insbesondere das Zusammenspiel von den Anforderungen eines Films und den zu Grunde liegenden wissenschaftlichen Quellen (Ray Monks Biographie oder Terry Eagletons Roman Saints and Scholars). Thema war die Schwierigkeit, die Gattungskonventionen des Biopics zu überwinden: Laut Ballhausen tendieren biographische Filme dazu, Bildungsfernsehen für das Kino zu sein, überaus schlüssige, didaktische Darstellungen von Lebensgeschichten, die oft einen Schuss von stark fiktionalisierter Romantik brauchen, um die Dramaturgie in Schwung zu bringen. Jarman umgeht diese Falle mit einem völlig a-realistischen Ansatz, indem er Ideen aus Wittgensteins Werk nicht nur zu erklären versucht, sondern auch als Teil der Filmästhetik inszeniert, wie zum Beispiel seine Farbenlehre. Jeder Ästhetisierung verweigert sich hingegen der erste Wittgensteinfilm, der in den 1970er Jahren von Ferry Radax als zweiteiliges Fernsehwerk Ludwig Wittgenstein. Biographische und philosophische Bemerkungen gedreht wurde. Eine biographische Spurensuche nach Orten, Dokumenten, Wittgenstein-Kennern und Fotos, um der damals im deutschsprachigen Raum kaum bekannten ‚nebeligen’ Geniefigur Wittgenstein einen Bodensatz zu verleihen.

Werner Janssen eröffnete den zweiten Tag des Symposiums mit einem Kontrastprogramm, indem er die Historisierung des Komponisten Mozart strikt ablehnte und vielmehr daran interessiert war, eine betont kreative, psychoanalytische Aufarbeitung des Amadeus-Mythos auszubreiten. Er präsentiert Mozart zwischen den Polen Genie-Dämon-Infantilität, als ‚dämonisch / besessen’ wie auch als ‚ein armer Mensch’, der sein Leben lang ‚ein verlorenes Kind’ geblieben ist; mit diesem ‚Kind’, und nicht mit dem Genie Mozart, sucht der Autor Janssen ‚Begegnung’, indem er ‚zusammen mit Mozart’ Briefe schreibt. Ein Ansatz, der als eine Ablehnung des Biographischen wie auch als Imitation oder Vereinnahmung heftig diskutiert wurde. Hier wurde deutlich, wie notwendig eine klare Positionierung des Autors, ob als Künstler oder als Wissenschaftler, ist.

Manfred Permoser vertiefte die Frage der ‚Mythenbildung in der Mozart-Rezeption’ und zeigte, wie sich die Legenden um Mozarts Tod kristallisiert haben: Die Witwe Mozart, die bestimmte Mythen als Verkaufsstrategien einsetzte, bevor sie in die Wissenschaft übernommen wurden, oder Puschkins literarische Darstellung des Giftmord-Mythos, der dieser Version der Legende zur besonderen Beständigkeit verhalf. Er kam zum Schluss, dass sich Fakten und Fiktionen in einer Biographie nicht nur nicht immer voneinander trennen lassen, sondern dass sie sich auch immer gegenseitig in der Rezeptionsgeschichte beeinflussen.

Allgemeiner zu den „Herausforderungen und Chancen der aktuellen Biographik“ sprach Christian Klein. Wieso Biographien, in ihrer manchmal unbequemen Stellung zwischen Primär- und Sekundärliteratur, eine andauernde Popularität auf dem Buch- und Filmmarkt genießen, hat vielleicht auch mit jüngsten Entwicklungen zu tun: der Trend zur Persönlichkeit als ‚Marke’ oder die Möglichkeiten des Internets für 24-stündige Selbstinszenierungen. Er stellte die Idee von ‚öffentlichen’ und ‚nicht öffentlichen’ Biographien in den Raum, mit den jeweiligen Abwandlungen ‚official-inofficial’ und ‚autorisiert-nicht autorisiert’. Da das Rollenspielen genauso privat wie öffentlich stattfinden kann, meinte Klein, die Kantorowicz’sche These von den zwei Körpern des Königs sei heutzutage in der ‚Celebrity Culture’ auf ‚einen Körper für alles’ verschmolzen. Vor allem in der populären (Auto)Biographik würde jede(r) seine eigene Identität erfinden - hier entstehen neue Chancen für die Biographieforschung, die sich mit Tropen der Performanz und des Gedächtnisses auseinandersetzen soll. Was biographische Strukturen angeht, plädierte Klein für eine eher thematische als chronologische Herangehensweise, denn die Chronologie verstärkt die Illusion, die Biographie habe Struktur und Sinn aufgedeckt, stattdessen hat sie jene doch erst selbst erschaffen.

Nicht nur Biographen, auch Institutionen schaffen sich ‚ihre’ Objekte: Beispielsweise dadurch, wen sie zu ihren jährlichen Konferenzen einladen. Am Beispiel der Österreichischen Wittgenstein Gesellschaft zeigte Klaus Puhl Deutungshoheiten auf, die lange die Wittgensteinforschung prägten. Dementsprechend sieht er in einer vielfältigen Forschungslandschaft einen Vorteil für die Forschung, auch in einer breiten Vermarktung, denn durch die öffentliche Aufmerksamkeit sei es leichter Forschungsgelder zu bekommen.

Damit trennt Puhl zwischen dem Inhalt und der Marke ‚Wittgenstein. Eine Position, die auch Tasos Zembylas vertreten wurde: Zwischen Kulturgut und Trademark, zwischen Vermittlung und Vermarktung sei stets zu trennen – und Zembylas sieht somit auch die Inhalte nicht in Gefahr. Werner Zillig hingegen plädierte, trotz der Einsicht „ohne Marketing kein Genie”, dafür Inhalte und Namen zu schützen, um dem bloßen ‚Labelling’ vorzubeugen. Diese Frage ‚Wissenschaft und Markt – ein Widerspruch?’ war dann auch Thema der Abschlussdiskussion, mit dem Ergebnis, dass es kein Widerspruch sein muss. Oft ist das Marketing erst die Voraussetzung für Wissenschaft. Ein ‚Genie’ muss auch erst als solches erkannt werden, um seine Werke bewahren zu wollen. Wäre Wittgenstein in den 1970er Jahren von Architekten in Wien wie Bernhard Leitner nicht publik gemacht worden, wäre das Wittgenstein-Haus – ein von Wittgenstein für seine Schwester mitentworfenes Einfamilienhaus, heute Bulgarisches Kulturinstitut und Veranstaltungsort für das Symposium – abgerissen worden. Denn was bei Mozart sofort nach seinem Tod begann, ließ bei Wittgenstein doch über zwei Jahrzehnte auf sich warten. Erst mit dem neuen Interesse für das ‚Wien der Jahrhundertwende’ wurde auch er entdeckt, wozu Stephen Toulmins und Allan Janiks Wittgensteins Wien einen großen Beitrag leistete – selbst wenn die Autoren eigentlich nicht Wien, sondern die Ethik Wittgensteins behandelten.

Heute ranken sich um das Wittgenstein-Haus ebenso viele Mythen („hausgewordene Logik“) wie um Wittgensteins Leben. Ein hartnäckiges Bild ist das vom Asketen Wittgenstein, das Janik ganz banal entblößt: „Wittgenstein hatte einfach einen schlechten Magen – daran war nichts geniales.“ Es zeigt lediglich die Bedeutung der Erzählfigur ‚Genie’ für das Geschichten erzählen über große Persönlichkeiten. Nach wie vor löst der Begriff ‚Genie’ Skepsis aus, doch, wie Renald Deppe unterstreicht: Nicht der Begriff selbst hat Nutzen und Nachteile, ist Gut oder Böse, sondern seine Verwendung durch den Menschen.

Resümierend wurde gefragt: Gibt es eine wissenschaftliche Biographie oder ist diese ein Widerspruch an sich? In der Begründung der gesellschaftlichen Kontexte und ihrer Zusammenhänge sieht Zembylas die Voraussetzung für Wissenschaftlichkeit. Janik ist eher skeptisch und seine Haltung zur Biographisierung ist nach wie vor distanziert: Für ihn ersetzen Biographien heute die Heiligen, die Rollenmodelle, die benötigten Helden.

Das Symposium ‚The making of… Genie: Mozart und Wittgenstein. Biographien, ihre Mythen und wem sie nützen’ zeigte in den Vorträgen aber auch und am meisten in der Diskussion sehr klar, wie viele Vorurteile und Berührungsängste gegenüber der Biographie noch in der Wissenschaft bestehen. Die mit musterhafter Sorgfalt aufgebaute Interdisziplinärität der Tagung ergab eine Vielfalt von Meinungen und Ansätzen, die teils befruchtend waren, teils aber auch zu Sackgassen führten – zum Beispiel, in der Frage, ob ‚Genie’ vornehmlich als historischer Begriff relativiert oder als zeitloses kulturelles Phänomen betrachtet werden sollte. Insgesamt machte das Treffen in Wien sehr deutlich, was es für ein Bedarf an komparatistischer Biographieforschung gibt, und in wie viele Richtungen sich diese entwickeln könnte – auch jenseits der Diskursforen von Literatur und Lebensbeschreibung. Ein Tagungsband wird im Studienverlag erscheinen, der sicherlich einen wichtigen Beitrag zu diesem Thema liefern wird.