Anfänge und Auswirkungen der Montanunion. Die Stahlindustrie in Politik und Wirtschaft

Anfänge und Auswirkungen der Montanunion. Die Stahlindustrie in Politik und Wirtschaft

Organisatoren
Verein Deutscher Eisenhüttenleute, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, ThyssenKrupp Konzernarchiv
Ort
Düsseldorf
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.07.2002 - 23.07.2002
Url der Konferenzwebsite
Von
Beate Brüninghaus, Düsseldorf

120 Teilnehmer aus acht Nationen interessierten sich für die erste geschichtliche Tagung, die am 22. und 23. Juli 2002 im Stahl-Zentrum in Düsseldorf unter Schirmherrschaft und mit finanzieller Förderung von Harald Schartau, Minister für Arbeit, Soziales, Qualifikation und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW), stattfand. Außerdem unterstützten die Fritz-Thyssen-Stiftung und die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf das anderthalbtägige Symposium zum Thema "Anfänge und Auswirkungen der Montanunion. Die Stahlindustrie in Politik und Wirtschaft."

Grußworte kamen von Gert Kaiser, Rektor der Düsseldorfer Uni, Schartau und Prof. Dr.-Ing. Dieter Ameling, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl und Vorsitzender des Vereins Deutscher Eisenhüttenleute. Er zog aus der Montanunion fünf Lehren für die Zukunft: Interventionistische Industriepolitik und Subventionssünden seien zu vermeiden, während die Forschungsförderung fortzusetzen sei. Die Stahlindustrie müsse stärker auf ihre Kunden schauen, und die Wirtschaftspolitik sollte einen größeren Stellenwert bei der Europäischen Kommission einnehmen.

Die ersten Referate, die unter Vorsitz des Bochumer Wirtschafts- und Sozialhistorikers Klaus Tenfelde diskutiert wurden, galten den Gründungsvätern der Montanunion. Der Düsseldorfer Landeshistoriker Kurt Düwell wies nach, dass auch Karl Arnold, 1947 bis 1956 Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, ein Gründungsvater der Montanunion war. In seiner Neujahrsansprache vom Januar 1949 schlug er vor, "einen völkerrechtlichen Zweckverband auf genossenschaftlicher Grundlage (zu) errichten". In diesen "Pool" sollte die Schwerindustrie des Ruhrgebiets, die Lothringens und der Saar sowie Belgiens und Luxemburgs eingebracht werden. Jean Monnet hat die deutsche öffentliche Diskussion aufmerksam verfolgt. Als erster Präsident der Hohen Behörde in Luxemburg begrüßte er 1953 Arnold bei einem Besuch als "Vater der Montanunion". Außerdem wurde durch Arnold die Ratifizierung des EGKS-Vertrages im Bundesrat möglich, obwohl die Länder dadurch Kompetenzen einbüßten. Bei der Auswahl der Mitarbeiter für die EGKS-Organe wirkte er auf seinen ausdrücklichen Wunsch mit. So schlug er am 1. März 1952 Carl Spiecker als ständiges Mitglied in der deutschen Delegation im EGKS-Ministerrat vor. Dieser nominierte seinen 27jährigen Mitarbeiter Rainer Barzel als Verbindungsreferenten.

Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Günther Schulz aus Bonn untersuchte, welche Haltung Konrad Adenauer zum Schuman-Plan einnahm und welche Faktoren dazu beitrugen, dass dieser auch für ihn eine Erfolgsgeschichte wurde. Adenauer, der schon am 8. Mai 1950 davon erfuhr, griff den Plan sofort auf, als Robert Schuman ihn einen Tag darauf präsentierte. Adenauer verfocht den Plan mit Nachdruck, obwohl es schwerwiegende Spannungen mit Frankreich gab, hervorgerufen durch die französische Haltung in der Saarfrage. Zwei Erklärungszusammenhänge arbeitete der Referent dafür heraus: Zum einen hatte Adenauer schon seit den zwanziger Jahren eine enge wirtschaftliche Kooperation mit Frankreich angestrebt, um eine dauerhaft friedenssichernde Politik in Europa zu schaffen. Zum anderen war der Schuman-Plan in der Not der Nachkriegszeit ein Weg für die Bundesrepublik zu internationaler Handlungsfähigkeit, gleichberechtigter Mitwirkung und größerer Sicherheit im Ost-West-Konflikt. Adenauer brachte mit Geschick und dem Gespür für das politisch Mögliche die Verhandlungen über die Montanunion zu einem erfolgreichen Abschluß.

Der in Frankreich lehrende deutsche Historiker Andreas Wilkens von der Universität Orléans referierte über die französischen Begründer der Montanunion, Jean Monnet und Robert Schuman. Eigentlich müsste der Schuman-Plan, von dem es neun Versionen gab, Monnet-Plan heißen, so Wilkens. Denn bereits 1943 hatte Monnet erstmals Gedanken über den europäischen Markt nach Kriegsende formuliert. Wilkens stellte heraus, daß Frankreich über kein deutschlandpolitisches Konzept verfügte. Zur Modernisierung der französischen Wirtschaft benötigte man den Zugang zur deutschen Kohle. Am liebsten hätten die Franzosen die deutsche Stahlproduktion nach Lothringen verlagert. Monnet führte auch Gespräche mit der britischen Regierung über eine Beteiligung an der Montanunion. Wichtiger war der Einfluss des amerikanischen Hochkommissars John McCloy, der seine Vorstellung zur Dekartellierung durchsetzen konnte.

Als Zeitzeuge beklagte der fast neunzigjährige Fritz Hellwig, ehemals Vizepräsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Montanunion habe eigentlich ein Staatsbegräbnis verdient, aber mit Ausnahme des Landes NRW hätte keiner von ihrem Ende Kenntnis genommen. Er verwies auf sein 1947 von der damaligen Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie in Auftrag gegebenes Gutachten "Lothringen-Stahl statt Ruhr-Stahl?", das sich gegen die von den Franzosen gewünschte Verlagerung der Stahlstandorte wandte. Hellwig berichtete über ein Treffen Schumans bei Adenauer am 13. Januar 1950, das bei guter Stimmung stattfand. Einen Tag später war das Klima zwischen den beiden Außenministern jedoch eisig, da in der Zwischenzeit Hellwig Adenauer über die französischen Verlagerungspläne informiert hatte. Die Franzosen hatten mit dem Saarland ein Pfand, das sie nur gegen deutsche Zugeständnisse preisgeben wollten. Ihnen war es gelungen, die Engländer, die jahrelang das Ruhrgebiet dominiert hatten, aus dieser wichtigen Industrieregion hinauszumanövrieren. Zur endgültigen Bewertung der Montanunion, die letztlich nur ein abstraktes Instrument sei, müsse man die Urteile über die Menschen heranziehen, die dort gearbeitet haben.

Die Vorträge zum Einfluss der Montanunion auf nationale Entwicklungen wurden unter Leitung von Manfred Rasch, Leiter des Duisburger ThyssenKrupp Konzernarchivs, diskutiert. Klaus Schwabe, emeritierter Historiker aus Aachen, beleuchtete die Montanunion aus deutscher und französischer Sicht. Für die deutsche Seite stellten die EGKS-Verhandlungen erstmals eine Position der Gleichberechtigung her. Für Frankreich verbesserte sich dadurch das französisch-amerikanische Verhältnis.

Der englische Historiker Geoffrey Warner von der Universität Oxford befasste sich mit dem Verhältnis von Großbritannien zur EGKS. Anders als viele meinen, stand der britische Außenminister Ernest Bevin einer engeren europäischen Integration skeptisch gegenüber. Diese Haltung verstärkte sich 1949 mit der Intensivierung des Kalten Krieges, als die Labour-Regierung vor allem aus militärischen Gründen eine atlantische gegenüber einer westeuropäischen Gemeinschaft favorisierte. Den Schuman-Plan lehnte Bevin ab, weil er zum einen die britische Unabhängigkeit gefährdete, zum anderen die Aufmerksamkeit von der atlantischen Gemeinschaft ablenkte. Warner hielt die britischen Befürchtungen im Nachhinein im Wesentlichen für unbegründet und meinte, die Weigerung der Regierung, sich an den Schuman-Plan-Verhandlungen zu beteiligen, sei ein Triumph der Vorurteile über den Pragmatismus gewesen.

Der Innsbrucker Historiker Michael Gehler, zur Zeit Humboldt-Stipendiat in Bonn, referierte über Österreich, den Schuman-Plan und die EGKS in der Zeit von 1950 bis 1972. Er betonte, die Wiener Regierung sei zwar sehr daran interessiert gewesen, an den Vorteilen der Montanunion zu partizipieren, Leistungen habe man dafür aber nicht erbringen wollen. Auch wollte Frankreich keine österreichische Beteiligung. Wien wünschte aber zeitweise eine Assoziierung bzw. in eine Freihandelszone mit der EWG eingebunden zu werden.

Der in Aberdeen lehrende belgische Historiker René Leboutte untersuchte die belgisch-luxemburgische Wirtschaftsgemeinschaft und die Stahlpolitik der Europäischen Gemeinschaften in den Jahren 1952 bis 2000. Da es bis Ende der 60er Jahre keine wirkliche Industriepolitik in der Montanunion gab, konzentrierte er sich auf die Krisenjahre seit Mitte der 70er Jahre. Damals stand die belgisch-luxemburgische Stahlindustrie in Zentrum der Stahlkrise und schien zum Tode verurteilt. Sie wurde zum Laboratorium einer neuen Industriepolitik, die sicherlich nicht zufällig von den beiden belgischen EU-Kommissaren Henri François Simonet und Etienne Davignon maßgeblich bestimmt wurde.

Für Italiens Stahlindustrie war die Montanunion ein erfolgreiches "Glücksspiel", wie der italienische Historiker Ruggero Ranieri von der Universität Manchester ausführte.
Italien gehörte zu den ersten Ländern, die den Schuman-Plan begrüßten. Dort hatte Finsider, die staatliche Stahl-Holding, einen ehrgeizigen Plan zur Modernisierung der Stahlindustrie mit Hilfe amerikanischer Technologie und von Marshall-Plan-Mitteln ausgearbeitet, der auch von Fiat unterstützt wurde. Für das vergleichsweise stärkere Wachstum der italienischen Stahlindustrie nach Ratifizierung des Montanvertrages machte Ranieri das positive Klima und die guten Aussichten, die der Vertrag den Stahlunternehmen bot, verantwortlich. Der Marktanteil der italienischen Stahlindustrie an der EGKS-Produktion stieg von 7,6 % 1950 auf knapp 16 % 1970.

Die Diskussion zu den Auswirkungen der Montanunion auf die deutsche Stahlindustrie leitete der Frankfurter Wirtschafts- und Sozialhistoriker Werner Plumpe. Werner Bührer, Historiker an der TU München, zeigte, dass die deutsche Stahlindustrie zunächst der EGKS durchaus kritisch gegenüberstand, weil sie neuen Dirigismus befürchtete. Vor allem versuchte sie, die sozialpolitischen Kompetenzen der Hohen Behörde möglichst gering zu halten. Außerdem vermittelte sie privatwirtschaftlich denkende Personen wie Wilhelm Salewski und Fritz Hellwig in Schlüsselpositionen der Hohen Behörde. Befürchtungen, die deutsche Stahlindustrie werde bei Investitionen benachteiligt, erwiesen sich als unbegründet. Schließlich standen Ludwig Ehrhard und der Bundesverband der Deutschen Industrie der Montanunion kritischer gegenüber als die Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie, die auf insgesamt positive Erfahrungen verweisen konnte. Das galt insbesondere für die "Schönwetterperiode" bis 1962, wohingegen die Bewährungsprobe in der Krise ab Mitte der 70er Jahre kam. Insgesamt sah Bührer bei den Auswirkungen der Montanunion auf die deutsche Stahlindustrie mehr Licht als Schatten.

Der Münchner Technikhistoriker Ulrich Wengenroth befasste sich mit dem Einfluss der Montanunion auf die technische Entwicklung. Er verwies auf die Erfahrungen der Stahlindustrie nach dem Ersten Weltkrieg. Das Problem der damals bestehenden Überkapazitäten wollte man durch Kartelle lösen. Die technische Spezialität der deutschen Stahlindustrie sei die vertikale Integration gewesen, d.h. eine Verbundwirtschaft, die den Kohlebesitz ebenso umfasste wie die Roheisen- und Stahlproduktion sowie die erste Weiterverarbeitungsstufe im Warm- oder Kaltwalzwerk. Obwohl die deutsche Stahlindustrie technisch in einer "genialen Situation" war, hatte sie etwa beim Thomasstahl, bei dem die Franzosen Kostenführer waren, nicht die geringsten Herstellungskosten. Allerdings verfügten die deutschen Stahlhersteller über den besten Produktionsmix.

Rolf Steffen, Diplom-Ingenieur und Geschäftsführer beim VDEh und dort u. a. für die Forschung zuständig, berichtete über die Förderung der Stahlforschung durch die Montanunion und ging auf deren Strukturen, Ergebnisse und die Zukunft ein. Die EGKS-Forschung habe zu hochwertigen technologischen Innovationen geführt. Diese Gemeinschaftsforschung zeichne sich durch einen besonders hohen Wirkungsgrad aus. Jeder in der 47jährigen Geschichte der EGKS-Stahlforschung investierte Euro hat durchschnittlich 13 € Ertrag erwirtschaftet. Deshalb werden die verbleibenden Mittel aus der Montanumlage ausschließlich für die Fortsetzung der Forschung in der Kohle- und Stahlindustrie verwendet. Jährlich stehen Zinsen in Höhe von 60 Mio € zur Verfügung.

Im Schlusswort bewertete Albrecht Kormann, Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftsvereinigung Stahl, die Montanunion als politisch erfolgreich. Ökonomisch sei hingegen die Bilanz weniger positiv. Er verwies auf Beihilfen in Höhe von 140 Mrd DM, die trotz Subventionsverbots im EGKS-Vertrag in der Zeit von 1975 bis 1997 vor allem nach Italien, Frankreich, Großbritannien, Belgien und Spanien geflossen sind. Den ersten Versuch des VDEh-Geschichtsausschusses, eine geisteswissenschaftliche internationale Tagung zu einem historischen Thema durchzuführen, beurteilte er als gelungen. An dem Symposium nahmen je zur Hälfte Historiker und Vertreter der Stahlindustrie teil. Der auf hohem Niveau stehende Forscher-Praktiker-Dialog, der diese Tagung im Vergleich zu ähnlichen Veranstaltungen auszeichnete, sei fruchtbar gewesen. Er dankte den Organisatoren Kurt Düwel und Manfred Rasch. Die Vorträge werden veröffentlicht.


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