Tanten, Nichten, Schwestern und Cousinen/Onkel, Neffen, Brüder und Cousins: Beiträge zu politischen, ökonomischen und kulturellen Dimensionen von Verwandtschaft im frühneuzeitlichen Europa betrachtet aus transkultureller Perspektive

Tanten, Nichten, Schwestern und Cousinen/Onkel, Neffen, Brüder und Cousins: Beiträge zu politischen, ökonomischen und kulturellen Dimensionen von Verwandtschaft im frühneuzeitlichen Europa betrachtet aus transkultureller Perspektive

Organisatoren
Freie Universität Berlin, Friedrich-Meinecke-Institut, Dr. Michaela Hohkamp
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.11.2006 - 11.11.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Michaela Hohkamp, Freie Universität Berlin / Pauline Puppel, Landeshauptarchiv Koblenz

Unter dem Titel "Tanten, Nichten, Schwestern und Cousinen / Onkel, Neffen, Brüder und Cousins: Beiträge zu politischen, ökonomischen und kulturellen Dimensionen von Verwandtschaft im frühneuzeitlichen Europa - betrachtet aus transkultureller Perspektive" fand vom 10. bis zum 11. November ein Journée d´Etude statt, der von Dr. Michaela Hohkamp veranstaltet wurde.

Die Tagung basierte auf konzeptuellen Überlegungen von Michaela Hohkamp, wonach das Prinzip der Primogenitur für die europäische Kultur der Neuzeit nicht nur deshalb eine kaum zu überschätzende Bedeutung gehabt habe, weil es Streitigkeiten zwischen verschiedenen Verwandten eines Erblassers verhinderte, wie es die rechtshistorisch ausgerichtete Geschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert gerne betont, sondern weil die immer häufiger praktizierte Privilegierung des erstgeborenen Sohnes im Erb- und Nachfolgegeschehen bei den von dieser Praxis betroffenen nachgeborenen Söhne und Töchtern immer schon und immer wieder auf heftigen Widerspruch gestoßen sei, der nicht selten gewalttätigen Ausdruck fand. Solche Auseinandersetzungen um die Transmission von Herrschaft und Besitz beschäftigten aber auch die jeweils hierfür zuständigen Gerichte. Die zahlreichen juristischen Streitschriften zu Erb- und Nachfolgeauseinandersetzungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts belegen laut Hohkamp eindrücklich wie umstritten die Primogenituren nicht zuletzt in den fürstlichen Gesellschaften auch noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren. Diese von einem Diskurs um Blut, Vererbung und Legitimation begleiteten verwandtschaftlichen Konkurrenzen um die Weitergabe von Herrschaft und Gütern mit dessen Hilfe das Konzept "Primogenitur" trotz allen Streitens fester und fester im kulturellen Kanon der europäischen Gesellschaften verankert worden ist, sorgten, so die Überlegungen von Michaela Hohkamp, mit dafür, dass der älteste Sohn Schritt für Schritt nicht nur als alleiniger Nachfolger und Erbe von territorialem und materiellem Besitz eine rechtlich privilegierte Position einnahm, sondern dass er auch zum emotionalen Referenzpunkt vor allem adeliger und bürgerlicher familiärer Kulturen avancierte hinter dem alle anderen Nachkommen und Verwandte - gleichgültig ob männlich oder weiblich - zurück stehen sollten. Um diesen "kleinen König" adeliger und bürgerlicher familiärer Ökonomien herum hat die europäische Historiographie seit dem 19. Jahrhundert - abgesehen von wenigen Ausnahmen - eine Sicht auf die Geschichte etabliert, die das Prinzip und die Praktiken von Primogenituren im Kontext dynastischer Politik als Raison d´Etre erfolgreicher staatlicher und gesellschaftlicher Entwicklung verstanden und auch beschrieben hat. Daran hat sich auf der Ebene der politischen und traditionellen kulturgeschichtlichen Geschichtsschreibung bis heute im Wesentlichen nichts geändert.

Ein anderer Blick auf das Phänomen "Primogenitur" wird hingegen von den ethnologisch und sozialanthropologisch inspirierten Arbeiten der neuen Kulturwissenschaften gewagt.1 Dies gilt besonders für diejenigen Arbeiten, die sich mit Konzepten von Verwandtschaften, deren kultureller und rechtlicher Repräsentationen auch aus geschlechtergeschichtlicher Sicht befasst haben. Aus dieser Perspektive, aus der Verwandtschaften weder als bloße Struktur noch als rein biologischer oder rein rechtlicher Zusammenhang betrachtet worden sind, werden neuerdings neben, über, unter und quer zur Primogenitur liegende Verwandtschaftsnetze aufgespürt. Neben den klassischen Kreuzcousins und Kreuzcousinen sind deshalb nicht nur Onkel und Neffen2, sondern auch Brüder und Schwestern3 als Akteure im komplexen Geschehen des Erb -, Herrschafts- und Besitztransfers geortet worden. Wie Michaela Hohkamp betonte, ist vor allem Tanten bzw. Nichten in diesem Zusammenhang bislang nur zufällig, aber nicht systematisch Aufmerksamkeit geschenkt worden.4 Der am 10. und 11. November veranstaltete Studientag zu "Tanten, Nichten, Schwestern und Cousinen/ Onkel, Neffen, Brüder und Cousins: Beiträge zu politischen, ökonomischen und kulturellen Dimensionen von Verwandtschaft im frühneuzeitlichen Europa - betrachtet aus transkultureller Perspektive" hatte es sich, wie Michaela Hohkamp in ihren einleitenden Worten ausführte, deshalb zum Ziel gesetzt, den Schwerpunkt auf die Frage nach der Bedeutung von Tanten und Nichten im Transmissionsgeschehen zu legen, ohne jedoch verwandtschaftliche Schlüsselbeziehungen (Jon Mathieu) wie Bruder-Bruder-Beziehungen, Bruder-Schwester- oder Onkel-Neffen- und Cousins-Cousinsbeziehungen auszublenden. Denn sowohl wegen der Austauschbarkeit verwandtschaftlicher Positionen (Tanten sind zugleich auch Schwestern und Cousinen) als auch wegen der Mutualität verwandtschaftlicher Beziehungen (Tanten sind deshalb Tanten, weil sie Nichten haben und umgekehrt) gelte es, so Michaela Hohkamp, immer auch das ganze verwandtschaftliche Netz im Blick zu behalten, um die Bedeutung der politisch, sozial und emotional, aber auch diskursiv und historiographisch immer noch hypostasierten "Kernfamilie"5 mit ihrer Konzentration auf den ältesten Sohn zu dezentrieren, d.h. ihre Mitglieder in ihrer Mutualität und ihrer verwandtschaftlichen Multifunktionalität ernst zu nehmen. Denn erst durch einen dauernden Perspektivenwechsel, so Hohkamp, könne die Vielgestaltigkeit, die Dezentralität des Erb- und Nachfolgegeschehens erforscht werden, ohne es a priori auf ein männliches Ego, in der Regel den erstgeborenen Sohn, den privilegierten Erben und designierten Nachfolger zu beziehen.

Im Anschluss an die Einführung von Michaela Hohkamp stellte dann Simon Teuscher (Basel/Zürich) "Überlegungen zu Beziehungen zwischen Brüdern und Schwestern, Ehemännern und Ehefrauen, Onkeln, Tanten, Nichten und Neffen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erbgeschehen" an. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Sukzession und Erbe entwarf er anhand einiger spätmittelalterlicher Beispiele im reichsfürstlichen Adel ein komplexes Bild der Güterzirkulation in der nicht nur der seit langem schon klassisch zu nennende "Mutter-Bruder" eine Rolle spielte, sondern auch die Schwestern und Brüder eines designierten Nachfolgers sowie deren Nachkommen. Verwandtschaftskonstellationen, so betonte er, seien deshalb auch als Organisationsprinzipien wirtschaftlicher Interdependenzen zu sehen. In diesem Zusammenhang wies Teuscher explizit darauf hin, dass bei der Feinanalyse von Güterzirkulationen nach Art der weitergegebenen Güter zu unterscheiden sei. Dies sei vor allem dann zu berücksichtigen, wenn nach dem Erbe der nachgeborenen Söhne und Töchter gefragt werde, deren materielle Ansprüche oft genug nur dann befriedigt werden konnten, wenn das Gut des Herrschaftsnachfolgers beliehen wurde. Die weit verbreitete Verschuldung des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Adels sei daher auch als Ausdruck eines spezifischen Systems der Güterweitergabe zu interpretieren und nicht bloß als Verarmungsvorgang zu konstatieren.

Stefanie Walther (Bremen) stellte die "Geschwisterliebe auf den Prüfstand". Am Beispiel der Fürstäbtissin Elisabeth Ernestine von Gandersheim und ihres Bruders Anton Ulrichs von Sachsen-Meiningen ((1687-1763), der selbst noch als ein nachgeborener Sohn aus einer zweiten Ehe im Verständnis der Zeit eine unstandesgemäße Ehe einging, als er eine Bürgerliche heiratete, rekonstruierte die Referentin ein anschauliches Bild einer Bruder-Schwester-Beziehung an der Wende zum 18. Jahrhundert. Elisabeth Ernestine und ihr Bruder Anton Ulrich entstammten beide der zweiten Ehe Herzog Bernhards I. von Sachsen-Meiningen mit Elisabeth von Braunschweig-Wolfenbüttel. Da sich bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts in Sachsen-Meiningen die Primogenitur jedoch nicht als ein unhintergehbares Prinzip etabliert hatte, sondern bis in die späte frühe Neuzeit hinein die Belehnung zur gesamten Hand praktiziert wurde, war auch dieser spät geborene Sohn nicht notwendigerweise aus der Herrschaftsnachfolge ausgeschlossen, weshalb seine Heirat mit der Bürgerlichen bei den Verwandten auf Ablehnung stieß. Allein seine Schwester Elisabeth Ernestine, in deren Hofdiensten die bürgerliche Elisabeth Philippine Cäsar einst gestanden hatte, machte hier eine Ausnahme. Nach der Missheirat des Bruders nutzte die politisch bedeutende Schwester Anton Ulrichs ihre Position als Äbtissin von Gandersheim nämlich nicht nur dazu, zwischen den Verwandten zu vermitteln. Sie leistete auch konkrete Hilfe indem sie als Tante ihre Neffen und Nichten aus der unstandesgemäßen Ehe ihres Bruders unterstützte, nachdem diese von der Nachfolge im Herzogtum ausgeschlossen worden waren. Auf dringenden Rat seiner Schwester, die, wie Stefanie Walther herausarbeiten konnte, in der Sachsen-Meininger Verwandtschaft eine zentrale Position als Tante, Schwägerin und Schwester besetzte, schloss Anton Ulrich, der seit Mitte des 18. Jahrhunderts überraschend doch noch zur Herrschaftsnachfolge gelangt war, dann eine späte zweite, standesgemäße Ehe mit Charlotte Amalie, der Tochter des Landgrafen Karl I. von Hessen-Philippsthal aus der dann sukzessionsberechtigte Nachkommen hervorgingen.

Im Anschluss daran erläuterte Sylvia Schraut (Mannheim/München) ihre These "Eine Familie ist mehr als die Summe ihrer Mitglieder" durch die Analyse der Verwandtschaftsbeziehungen im stiftsfähigen katholischen Reichsadel am Beispiel des Hauses Schönborn. Da die enge Definition der Familie, wie sie sich im Verlauf der Frühen Neuzeit auf verschiedenen Ebenen herausbildete, die Seitenverwandten, also z.B. Schwestern und Brüder in ihrer sozialen, politischen und kulturellen Bedeutung nicht ausreichend berücksichtige, so Schraut, sei dieses Modell nur sehr eingeschränkt tauglich, um das machtpolitische Handeln des stiftsfähigen Adels im frühneuzeitlichen Reich zu verstehen, spielten hier doch auch die Beziehungen zwischen Onkeln und Neffen, bzw. Onkeln und Nichten eine nicht zu unterschätzende Rolle. So wurden z.B. ältere, bzw. besonders geeignete Neffen, zum Nutzen des gesamten Hauses auf eine geistliche Karriere vorbereitet, während andere Neffen - häufig, aber nicht immer waren es die jüngeren - die weltliche Herrschaftsnachfolge antraten und dann ihrerseits durch die Ehe mit einer stiftsfähigen Adeligen (diese konnte auch die eigene Kusine bzw. Nichte sein) wiederum für Nachkommen zu sorgen, die stiftsfähig, d.h. geeignet waren, die Nachfolge ihrer Großonkel resp. Onkel auf Bischofsstühlen anzutreten. Diese Strategien der Familien- und Karriereplanung konnten nur durch den Zusammenhalt der Familie auch überzeitlich erfolgreich sein. In seiner anschaulichen Geschlossenheit, die mit Hilfe kontinuierlicher und dichter Korrespondenz aufrecht erhalten wurde, diente das Beispiel der Schönborns der Referentin dazu eine Konstellation von Verwandten heraus zu arbeiten, deren Zentrum nicht ein Vater-Sohn-Paar bildete, sondern dessen Bruder, resp. der jeweils ranghöchste Onkel und seine Neffen.

Daniel Schönpflug (Berlin) stellte in seinem Beitrag zu den "Hohenzollernschen Hochzeiten im 17. und 18. Jahrhundert" dann die Frage nach den Repräsentationen eines kulturell differenten Familienverbandes. Indem er die Konzepte "Transkulturalität" und "Interkulturalität" gegeneinander hielt und prüfte, warf Schönpflug Fragen nach dem gelungenen bzw. gescheiterten ,Kulturtransfer" durch die zahlreichen verwandtschaftlichen Verbindungen des europäischen Hochadels auf. An ausgewählten Punkten von ‚cultural diplomacy', also etwa Brautfahrten und Hochzeitsfeiern arbeitete er heraus, dass fürstliche Räte z.B. im Vorfeld von Eheanbahnungen und im Zuge von folgenden Heiratsverhandlungen als kulturelle Vermittler zwischen den Dynastien auftreten konnten. Doch trotz aller Bemühungen, so argumentierte Schönpflug, sei es oft genug nicht gelungen, die trotz der bestehenden nahen Verwandtschaft existierenden kulturellen und sprachlichen Differenzen zu überwinden. Anhand von Einzelbeispielen vom Ende des 18. bzw. dem Beginn des 19. Jahrhunderts betonte er die Bedeutung interkultureller Beziehungen zwischen den verschiedenen fürstlichen Verwandten, die seit der späten frühen Neuzeit mehr und mehr auch zu Repräsentanten ihrer "Nationen" geworden waren. Von verwandtschaftlichen Beziehungen vermittelte Transkulturalität, wie sie wegen der engen verwandtschaftliche Beziehungen und Kontakte der europäischen Fürstenhäuser in der Frühen nahe liegt, sei, so Schönpflug, dagegen in den Hintergrund getreten.

Mit Bettina Joergens, der Dezernatsleiterin des Personenstandsarchiv Westfalen-Lippe kam schließlich eine Referentin zu Wort, die epochen- und themenübergreifend die Vielfalt von Quellenmaterial mit Blick auf das Forschungsfeld "Verwandtschaft" anschaulich und in seiner archivalischen Komplexität zum Vortrag brachte. In ihrem Beitrag: "Tanten im Archiv. die Schnittstellen zwischen Biographie und Genealogie" bezog sie die beiden Bereiche Biographie und Genealogie praktisch und konzeptuell auf das engste aufeinander und betonte die Erkenntnis erweiternden Chancen eines solchen Vorgehens für die klassische Familienforschung im lokalen und regionalen Umkreis von Archiven, aber auch für die wissenschaftliche Arbeit. In diesem Kontext machte sie deutlich, dass die genealogische Überlieferung immer auch an ihren Entstehungszusammenhang zurück zu binden sei. Geschehe dies konsequent, so sei es sogar möglich, höchst verschiedene Repräsentationen von Verwandtschaft und Familie zu ermitteln, die sich nicht leicht unter nur ein umfassendes Modell oder ein gültiges Konzept von "der Familie" oder von "der Verwandtschaft" subsumieren ließen. Dies sei z.B. auch daran abzulesen, dass in manchen frühneuzeitlichen Quellen die "Muhme" und die "Base" oder der "Oheim" und der "Vetter", also die heutigen Tanten und Cousinen bzw. Onkel und Cousins, ein und dieselbe Person meinten, Verwandtengrade also aus heutiger Perspektive in der Frühen Neuzeit nicht immer eindeutig und korrekt unterschieden worden seien.

Diese offene, dezentrierende Perspektive auf Verwandtschaft und Familie setzte Jon Mathieu (Luzern) in seinem Vortrag über "Schlüsselbeziehungen in der ländlichen Verwandtschaft des 18. Jahrhunderts" fort, indem er Verwandtschaft nicht einfach als durch Verwandtengrade bestimmte Figuration betrachtete, sondern nach der Intensität verwandtschaftlicher Beziehungen fragte, nach ihrer Zentralität und ihrer je spezifischen gesellschaftlichen Bedeutung. In solchen geographischen und sozialen Regionen, in denen die Erbfolge sich auf einen Sohn verengte, konnte Mathieu z.B. zunächst den Onkel mütterlicherseits als zentrale Figur identifizierten. Denn in solchen Fällen, so Mathieu, entwickele sich dieser "Mutterbruder" für die vom Erbe ausgeschlossenen nachgeborenen Söhne zu einer wichtigen Bezugsgröße. Während hingegen in Gebieten mit Realerbteilung, in denen Töchter und Söhne zu gleichen Teilen erbten, auch die Beziehungen zwischen Cousins sich als "Schlüsselbeziehung" identifizieren ließen, eine Einsicht, die Mathieu anhand einer Einzelfallanalyse, nämlich am Beispiel des in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der rätoromanischen Schweiz lebenden und arbeitenden Martin Peter Schmid, auf das anschaulichste herausarbeitete. Indem Mathieu die Überlieferungsgeschichte der Schriften des Geschichte(n) schreibenden Martin Peter Schmid mit dessen verwandtschaftlicher, sozialer und lebensgeschichtlicher Verortbarkeit kreuzte, arbeitete Mathieu beispielhaft die besondere Bedeutung der bilateralen Seitenverwandtschaft heraus, für die speziell in der rätoromanischen Sprache sogar Bezeichnungen existieren, die es ermöglichen auch noch den Vetter 3. Grades mit einem eigenen Wort zu benennen.

Margareth Lanzinger (Wien) erläuterte in ihrem Vortrag dann das "Spektrum von geschlechtsbezogenen Positionen und Zuschreibungen, Bedarfslagen und Interessen" anhand der Schwägerschaftsehen im Bistum Brixen im 19. Jahrhundert. Ungeachtet der Tatsache, dass Schwägerschaftsehen in der Regel nur mit vorher erteiltem päpstlichen Dispens möglich waren - ein äußerst aufwändiges und langwieriges Verfahren - und auch ungeachtet der Tatsache, dass für das Gebiet der Diözese Brixen eine vergleichsweise strenge Handhabung der Dispenspraxis auch noch im 19. Jahrhundert festzustellen ist, die sich recht strikt am kanonischen Eherecht orientierte, waren Schwägerschaftsehen im von Lanzinger untersuchten Zeitraum doch Praxis. In ihrem Vortrag konzentrierte sich Margareth Lanzinger dann vor allem auf zwei Varianten der Schwägerschaftsehe: nämlich erstens auf solche Fälle in denen Witwer mit Kindern die Schwester ihrer verstorbenen Frau heirateten, also ihre Schwägerinnen sowie auf Witwen mit Kindern, die ihren Schwager, d.h. den Bruder ihres verstorbenen Mannes heiraten wollten. Denn werden diese Ehetypen aus der Perspektive der jeweiligen halb verwaisten Kinder betrachtet, dann waren ihre Stiefväter bzw. ihre Stiefmütter auch gleichzeitig ihre Tanten bzw. Onkel und umgekehrt. Zweitens bezog sich Lanzinger auf jene Fälle von Schwägerehen in denen ein Witwer die Nichte seiner verstorbenen Frau heiraten wollte bzw. eine Witwe den Neffen ihres verstorbenen Mannes. Anders als die Ehen zwischen leiblichen Nichten-Onkeln bzw. Neffen und Tanten waren Eheschließungen zwischen angeheirateten Nichten-Onkeln und Neffen-Tanten-Paaren nämlich durchaus möglich. Anhand ihres vorgestellten Materials kam Lanzinger zu dem Ergebnis, dass solche Schwägerschaftsehen durchaus erwünscht und zur Konzentration von Besitz wirtschaftlich auch als nützlich anzusehen waren. Wie Lanzinger darüber hinaus ausführen konnte, führten die jeweils heiratswilligen Schwäger bzw. Schwägerinnen dabei durchaus unterschiedliche und situativ bedingte Argumente für ihr Dispensgesuch an, die bspw. die Arbeitssituation oder die persönliche Eignung als Stiefmutter oder Stiefvater betrafen, oder auch die berufliche Kompetenz der Braut, die Versorgung der Schwester-Kinder, oder auch des älteren Mannes. Insgesamt konnte Lanzinger zeigen, dass die Wiederverheiratung von Witwern mit unmündigen Kindern häufiger vorkam als die von Witwen. Ehen zwischen Witwern und ihren angeheirateten Nichten waren ebenfalls häufiger als solche zwischen Witwen und ihren angeheirateten Neffen. Lanzinger konnte abschließend zeigen, dass im Verlauf des 19. Jahrhunderts dieses Konzept gelebter Verwandtschaft aber immer brüchiger wurde. Denn der rhetorisch strategische Referenzkosmos war durchzogen von moraltheologischen, zivilrechtlichen und medizinischen Diskursebenen, die solche Eheschließungen mehr und mehr mit negativen Konnotationen belegten. Als zentralen Punkt ihres Vortrags hob Lanzinger noch hervor, dass die von ihr untersuchten Schwägerschaftehen als ein Faktor bei der Aufrechterhaltung von ökonomischer Reziprozität zu werten seien, die weit über die singulären Interessen eines Paares hinausreichten und gewissermaßen der "Reparatur", des Gütertranfers im Kreis einer weiteren Verwandtschaft dienten.

Den Abschluss der gelungenen Tagung bildete die Buchvorstellung von Christiane Coester (Berlin). Coester präsentierte ihre in Kürze unter dem Titel "Schön wie Venus, mutig wie Mars" erscheinende Biographie der Anna d'Este, Herzogin von Guise und von Nemours (1531-1607), die, wie sie ausführte, sowohl als systematisch gegliederte Biographie über eine der zentralen Figuren der französischen Religionskriege zu lesen sei als auch als Studie über adeliges Frauenleben im 16. Jahrhundert, das sich in seiner Multiperspektivität einer schnellen und glatten Einordnung entziehe.

Zum Schluss dieses Tagungsberichtes bleibt als Fazit fest zu halten, dass die vor wenigen Jahren begonnene historiographische Lösung von kernfamilialen Konzepten zu Gunsten offenerer Modelle von Familie und Verwandtschaft, wie sie sich bislang vor allem in Arbeiten zu bäuerlichen Gesellschaften niedergeschlagen hat, inzwischen auch im Bereich der Forschungen zu bürgerlichen und adeligen Lebenswelten Ergebnisse zeitigt, die geeignet sind, das Konzept bzw. das Prinzip der Primogenitur neu zu perspektivieren bzw. es als Knotenpunkt eines interdependenten Verwandtennetzes mit Tanten, Nichten, Onkeln, Neffen, Brüdern, Schwestern, Cousins und Cousinen sowie Schwäger und Schwägerinnen usw. zu erforschen.

Anmerkungen:
1 Mathieu, Jon; Teuscher, Simon; Sabean, David (Hgg.), "Kinship in Europe: Approaches to the Long-Term Devel-opment (1300-1900)" (demnächst bei Berghahn/New York)
2 Vgl. Duhamelle, Christophe, L´Héritage Collectif. La noblesse d´Eglise rhénane., 17. et 18. siècle (Editions de L´Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales : Recherches d´histoires et de sciences sociales 82), Paris 1998.
3 Ruppel, Sophie, "Geschwisterbeziehungen im Adel und Norbert Elias´ Figurationssoziologie," in: Opitz, Claudia (Hg.), Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozeß. Norbert Elias´ Werk in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Köln 2005, S. 207-224; Ruppel, Sophie, Zwischen Konflikt und Kooperation. Geschwisterbeziehungen im deutschen Hochadel des 17. Jahrhunderts (Diss. Universität Basel 2005), Frankfurt am Main 2006; vgl. auch Hufschmidt, Anke, Adelige Frauen im Weserraum zwischen 1570 und 1700. Status - Rollen - Lebenspraxis (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Bd. XXII A - Geschichtliche Arbeiten zur Westfälischen Landesforschung. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Gruppe 15), Münster 2001, S. 363ff.
4 Siehe jetzt Hohkamp, Michaela, Die Transmission von Herrschaft und Verwandtschaft in der frühneuzeitlichen Fürstengesellschaft des Reiches (unveröffentlichte Habilitationsschrift, Berlin 2006).
5 Severidt, Ebba, Artikel: Barbara Gonzaga, in: Lorenz, Sönke; Mertens, Dieter; Press, Volker (Hgg.), Das Haus Württemberg. Ein biographisches Lexikon, Stuttgart 1997, S. 95f.; Dies., Familie, Verwandtschaft und Karriere bei den Gonzaga. Struktur und Funktion von Familie und Verwandtschaft bei den Gonzaga und ihren deutschen Verwandten (1444-1519) (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 45), Leinfelden-Ech.


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