Kirche, Recht und territoriale Ordnung – 2. Graduiertenforum der Europäischen Melanchthon-Akademie Bretten

Kirche, Recht und territoriale Ordnung – 2. Graduiertenforum der Europäischen Melanchthon-Akademie Bretten

Organisatoren
Europäische Melanchthon-Akademie Bretten
Ort
Bretten
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.09.2006 -
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Von
Konrad Fischer, Melanchthonbeauftragter der Evang. Landeskirche in Baden

Die Europäische Melanchthon-Akademie Bretten hat das 450jährige Reformationsjubiläum der Evangelischen Landeskirche in Baden zum Anlass genommen, jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die mit Projekten zur religiösen, politischen und sozialen Ordnung im Europa des Reformationszeitalters befasst sind, ein Diskussions- und Kommunikationsforum zu bieten.

Anders als in der Geschichte der bedeutenden Reichsstädte ist die Forschungslage bei den kleineren und mittleren landesherrlichen Städten ausgesprochen dünn. Katja Leschhorn, Heidelberg, untersucht deshalb in ihrem Dissertationsvorhaben die Entwicklung landesherrlicher Städte in Südwestdeutschland zu Beginn des 16. Jahrhunderts mit Schwerpunkt in der Markgrafschaft Baden. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts setzte dort wie in zahlreichen anderen Territorien des Reiches eine umfassende gesetzgeberische Tätigkeit ein, die den Anfang einer Epoche der schriftlichen Fixierung von Rechtsnormen und Kodifikationen einleitete. In den landesherrlichen Städten Badens wurden zahlreiche Ordnungen und Gesetze aufgezeichnet, die verfassungsrechtliche, wirtschaftliche und soziale Aspekte in der jeweiligen Stadt regelten und quasi jeden Lebensbereich verrechtlichten. Bisher geltendes Recht wurde zum ersten Mal schriftlich niedergelegt, aber auch neues Recht fand Eingang in die Verfassung der Städte. Gleichzeitig begann in Baden mit der Verleihung umfassender Stadtprivilegien an Pforzheim (1486 ) und Baden-Baden (1507) eine gezielte Förderung der bedeutendsten landesherrlichen Städte. Die Bürger und Einwohner dieser Städte wurden persönlich frei, was nicht nur zu einem gewissen Selbstbewusstsein und Selbstverständnis der Bürger und Einwohner führte, sondern diesen auch eine besondere rechtliche Stellung gegenüber anderen Untertanen der Markgrafschaft verlieh. Die Stadtprivilegien dienten zum Aufschwung der Städte und zur Anhebung der Bevölkerungszahl. Die Städteförderung wurde bis ins 17. Jahrhundert hinein fortgesetzt. Vorbild war die Kurpfalz, in der bereits Mitte des 15. Jahrhunderts landesherrliche Städte gezielt gefördert wurden.

Einen historischen Sonderfall stellt die kurpfälzische Stadt Frankenthal dar, deren Geschichte im Reformationszeitalter wesentlich durch die 1550 gegründete und von Johannes a Lasco geprägte autonome Londoner Fremdengemeinde und deren Wanderungsgeschick nach ihrer Vertreibung unter Maria Stuart mitbestimmt ist. Darüber referierte Judith Becker, Heidelberg, in ihrem Beitrag über Migration und reformierte Identitätsbildung am Beispiel Frankenthal. Sie fragte einerseits, wie Frankenthal zur Bildung einer reformierten Gemeinschaft in Westeuropa beigetragen hat, und andererseits, inwieweit in dem Ort selbst ein reformiertes Selbstbewusstsein entstand. Frankenthal war von den niederländischen Glaubensflüchtlingen gegründet worden und wurde in seinen ersten Jahren ausschließlich von reformierten Niederländern bewohnt. Die Ausbildung einer reformierten Identität durch Frankenthal geschah in den vielfältigen nationalen und internationalen Beziehungen von Stadt und Gemeinde. Die Glaubensflüchtlinge überlieferten Riten der ersten Londoner Fremdengemeinde in die entstehenden Kirchen der Niederlande sowie in die Kurpfalz. Zudem trug Frankenthal durch seine enge Vernetzung zur Gemeinschaftsbildung bei. Die Gemeinde war in verschiedene Netzwerke eingebunden, nahm so unterschiedliche reformierte Ansätze auf und entwickelte sie zu einer neuen Einheit. Die Auswertung von Stadtrats- und Gerichtsprotokollen aus Frankenthal zeigt eine sehr enge Zusammenarbeit von Kirche und Stadt bei gleichzeitiger organisatorischer und personeller Trennung auf. Wechselseitige Einflussnahmen lassen sich ebenso wie unbewusste Einwirkungen nachweisen. Städtisches und kirchliches Leben waren aufeinander abgestimmt. Möglicherweise machte genau dies Frankenthals innere Identität aus: Der kleine Ort inmitten einer fremden Umgebung hielt – bei aller Orientierung nach außen – zusammen. Stadt- und Kirchenleitung unterstützten sich gegenseitig in dem Versuch, Frankenthal zu einer rechten reformierten Stadt zu machen.

Nach dem Ursprung "der finsteren Geschichten von der Täuferherrschaft" fragte Bernward Schmidt, Münster, in seinem Beitrag: Münster und sein "Täuferreich" - Konstruktion eines Geschichtsbildes. Anhand einschlägiger Äußerungen u. a. von Cochläus, Luther und Melanchthon sowie in der Analyse zeitgenössischer Flugschriften wurde deutlich, in welchem Umfang öffentliche Bilder und Stimmungen bereits in der frühen Neuzeit durch Medieneinfluss geprägt wurden. Die früh einsetzende propagandistische Verketzerung und Kriminalisierung einer derivaten religiösen Gruppe und ihres spezifischen Versuchs auf den Nahtlinien von Religion, Politik, Wirtschaft und gesellschaftlicher Ordnung blieb bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert hinein auch in der seriösen Geschichtsschreibung bestimmend und wird gelegentlich noch heute unkritisch reproduziert. Erst neuere Arbeiten 1 unternehmen den Versuch der nüchternen Aufarbeitung einer Geschichte, deren innere Rationalität unter dem Druck einer tief eingeprägten und verzerrenden Überlieferung nur äußerst schwer zu eruieren ist.

Unter dem Titel: Von Regensburg nach Köln. Melanchthons Teilnahme am Religionsgespräch auf dem Regensburger Reichstag 1541 und sein Beitrag zum Reformationsversuch in Köln 1543 trug Wibke Janssen, Bonn, Forschungsergebnisse aus ihrer inzwischen abgeschlossenen Dissertation zum Beitrag Philipp Melanchthons zu den Religionsgesprächen von 1540/41 in Hagenau, Worms und Regensburg vor. Während Melanchthon und Eck auf Grundlage der Confessio Augustana Variata im Januar 1541 in Worms intensiv verhandelten, erarbeiteten Johannes Gropper (Köln) und Martin Bucer (Straßburg) zeitgleich in geheimen Gesprächen ohne Wissen Melanchthons einen Vergleichsentwurf (das "Wormser Buch"), von dem sich der Beauftragte des Kaisers, Nikolaus Perrenot de Granvella, eine grundsätzliche Lösung der Religionsfrage auf Reichsebene erhoffte. Er vertagte die Wormser Verhandlungen auf den anstehenden Regensburger Reichstag, auf welchem die Gespräche im Beisein des Kaisers fortgesetzt werden sollten. Melanchthon, der unwürdigen und unangemessenen Geheimverhandlungen wegen erheblich verstimmt, nahm dennoch, mit einem eher engen Mandat seines Kurfürsten versehen, an der Seite von Bucer und Pistorius an den Regensburger Gesprächen teil. Nach deren Scheitern – das "Wormser Buch" wurde mit 16 verglichenen und 7 unverglichenen Artikeln als "Regensburger Buch" dem Kaiser zurückgegeben – ergriff Hermann von Wied, Erzbischof und Kurfürst von Köln, der sich bereits in der 30er Jahren als reformwillig gezeigt hatte (Regionalkonzil 1536), für sein Erzbistum die Initiative. In seinem Auftrag entwickelte Bucer unter Nutzung bereits vorliegender Kirchenordnungen in Zusammenarbeit mit Melanchthon eine nach Lehre, Zeremonien und äußerer Ordnung gegliederte Kirchenordnung, die unter dem Titel "Einfältiges Bedenken" am 23. Juli 1543 den Ständen des Kölner Hochstifts vorgelegt wurde. Die weltlichen Stände befürworteten ihre Einführung, das Domkapitel protestierte scharf. Trotz günstiger Mehrheitsverhältnisse sah Hermann von Wied daraufhin von der Einführung des "Einfältigen Bedenkens" ab. In den Folgejahren verstärkte sich unter Federführung Johannes Groppers der Widerstand gegen das Kölner Reformationsprojekt. Politischer Druck und endlich der Entzug der Kurwürde durch Kaiser Karl V. führten schließlich zum Rücktritt Hermann von Wieds.

Welch weitreichender Wirkung die Reformation auf die Neugestaltung des Sozial- und Fürsorgewesens in den protestantischen Territorien ausübte, verdeutlichte Tim Lorentzen, München, mit seiner Untersuchung zu Johannes Bugenhagen als Reformator der öffentlichen Fürsorge. Die Arbeit nimmt ihren Ausgang bei den Regelungen zur Armen- und Krankenfürsorge in den Kirchenordnungen der Reformationsterritorien und versteht sich als Klärungsbeitrag auf dem Hintergrund der kontroversen Interpretationsmuster "Fürsorge als Modell sozialer Disziplinierung" vs. "Fürsorge aus christlicher Nächstenliebe". Johannes Bugenhagen, dessen Ordnungen für den norddeutschen und den gesamten Ostsee-Raum bestimmend geworden sind entfaltet sein sozialethisches Programm als eine Theologie der guten Werke, in welcher sich der auf das Evangelium gegründete Glaube zu seiner Heiligung unter Inanspruchnahme des tertius usus legis zum Handeln nach dem Kanon der christlichen Liebe sowohl befreit wie verpflichtet weiß. Kirche und Kommune sind aufs dichteste aufeinander bezogen. Die Gemeinschaft ihrer Glieder bestimmt sich als Gemeinschaft von Nächsten. Die besondere Nähe des Evangeliums zu den Armen, wie sie in der großen Vision vom Weltgericht Mt 25 und im Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16) zum Ausdruck kommt, bedeutet insoweit nicht nur individualethisch, sondern für die gesamte kirchliche wie politische Gemeinde eine herausragende und unhintergehbare soziale Verantwortung. An der Stelle, an welcher im mittelalterlichen Kirchraum sich das Kirchenvolk im Anblick eines Heiligenbildes in das Ordnungsgefüge der kirchlichen Hierarchie einfügte, steht jetzt der "Gemeine Kasten", aus welchem die Diakone in Rechenschaftspflicht gegenüber der Obrigkeit die Versorgung der Armen zu bewältigen haben und dessen Funktionsfähigkeit von der Liebesbereitschaft der Gemeindeglieder und Bürger gewährleistet werden muss. Bugenhagens Fürsorgemodell erweist sich in allen Belangen als orientiert an und konstruiert aus dem Primat der christlichen Liebe. Anders als in süd- und südwestdeutschen Armenordnungen bleiben sozialdisziplinierende und ordnungspolizeiliche Rücksichten vollständig außer Betracht.

Einen Einblick in zeitgleiche Entwicklungen im osteuropäischen Raum gewährte Oleksander Svyetlov, Odessa und Kiew, mit Hinweisen zur Territorialentwicklung in der Ukraine des 16. Jahrhunderts. Sein Beitrag verdeutlichte die Schwierigkeiten, vor die sich die gegenwärtige unkrainische Geschichtsschreibung angesichts einer Jahrhunderte währenden russischen Dominanz gestellt sieht. Die ukrainische Republik, seit 1991 erstmalig in ihrer Geschichte (nach kurzen Epochen nationaler Selbstständigkeit in der Mitte des 17. Jahrhunderts sowie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts) in vollem Umfang souverän, sieht sich nicht nur massiven Orientierungsproblemen im Spannungsfeld zwischen EU und Russland ausgesetzt; sie hat darüber hinaus, zusammen mit der Ablösung eines auf Moskau zentrierten Geschichtsbildes, die Neukonstruktion eines den ethnischen, sozialen, religiösen und kulturellen Eigenheiten des Landes angemessenen neuen Geschichtsbildes und damit zugleich eine Neudefinition ihrer eigenen Identität zu leisten. Dass die reformatorische Bewegung, die im 16. Jahrhundert mit Ungarn und Siebenbürgen insbesondere auch den ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Raum erfasste, die Ukraine allenfalls peripher berührte (die heutigen reformierten Gemeinden des ukrainischen Karpatenraums sind eher in das Weichbild des ungarischen Reformiertentums einzuzeichnen), ist für ein westeuropäisch geprägtes Geschichtsbewusstsein überraschend und gleichwohl geeignet, für die aktuelle Frage nach der Bedeutung des Protestantismus im europäischen Prozess zu einer relativierenden Nüchternheit beizutragen.

In einer Skizze zu Wesen und Eigenart reformatorischer Kirchenordnung verwies Konrad Fischer, Bretten, unter Bezug auf einschlägige rechts- und verfassungsgeschichtliche Untersuchungen auf die Bedeutung der Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts für die Genese des modernen Verfassungsstaates mit Ausstrahlung bis in den aktuellen europäischen Verfassungsdiskurs hinein. Mit der Zuweisung einer alle gesellschaftlichen Lebensbereiche umfassenden territorialen Gesetzgebungskompetenz an die Obrigkeit und insbesondere mit der Verantwortungszuschreibung für das öffentliche Religions-, Verwaltungs-, Bildungs- und Sozialwesen lassen sich die Kirchenordnungen des Reformationszeitalters als wesentliche Bausteine in der staatlichen Entwicklung der Neuzeit verstehen.

In der Zielstellung des Forums stand anlässlich des 450jährigen kurpfälzisch-badischen Kirchenordnungsjubiläums die Absicht, Arbeitsvorhaben und Forschungsprojekte zur Territorialentwicklung in Deutschland und angrenzenden Regionen während des 16. Jahrhunderts auf einem gediegenen wissenschaftlichen Niveau miteinander ins Gespräch zu bringen, um damit zur Horizonterweiterung wie zur Selbstvergewisserung der Teilnehmer in ihrer wissenschaftlichen Arbeit beizutragen. Verlauf und Ergebnis der Tagung ermutigen dazu, für das Jahr 2007 (22./23.9.2007) erneut ein Graduiertenforum in Planung zu nehmen. Beabsichtigter Themenschwerpunkt: Theologie im Lied. Die Carmina Melanchthons im Vergleich zu Paul Gerhardts Gedichten.

Verantwortlich: Dr. Konrad Fischer, Pfarrer; Melanchthonbeauftragter der Evang. Landeskirche in Baden.

Anmerkung:
1 Klötzer, Ralf, Die Täuferherrschaft von Münster. RGST 131, Münster 1992; Rommé, Barbara (Hg.), Das Königreich der Täufer. 2 Bde., Münster 2000; Lutterbach, Hubertus, Der Weg in das Täuferreich von Münster. Geschichte des Bistums Münster, Münster 2006.


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