Nationale „Schutzvereine“ in Ostmitteleuropa 1870-1950

Nationale „Schutzvereine“ in Ostmitteleuropa 1870-1950

Organisatoren
Collegium Carolinum; Historisches Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften; Südostdeutsche Historische Kommission; Peter Haslinger (LMU München)
Ort
Bratislava
Land
Slovakia
Vom - Bis
28.09.2006 - 30.09.2006
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Von
Angela Gröber, Leipzig / Pieter Judson, Swarthmore

Nationalisten fallen so wenig vom Himmel wie die Nation als gesellschaftliches Organisationsprinzip ihre Erfindung ist. Seit über 200 Jahren lassen sich moderne Nationsbildungs- und Nationalisierungsprozesse beobachten, die in ihrem Verlauf und hinsichtlich ihrer Akteure oder ihrer gesellschaftlichen Relevanz viele Gemeinsamkeiten aufweisen, deren Unterschiede aber eine Definition als notorisch schwierig erscheinen lassen. Das Thema der Kooperationstagung war im Spannungsfeld zwischen politischer Partizipation des Bürgers innerhalb einer Staatsnation und seiner postulierten Zugehörigkeit zu einer Kultur bzw. einem Volk angesiedelt. Dieser Veranstaltung war eine Nachwuchstagung vorgelagert, die Studierende und Doktoranden die Möglichkeit bot, sich dem Thema anzunähern und ihre eigenen Forschungen vorzustellen. Mit Blick auf das östliche Preußen und verschiedene Regionen der Habsburgermonarchie beschäftigten sich die Wissenschaftler mit der tragenden Rolle von „Schutzvereinen“ im Prozess nationaler Segmentierung.

Der Forschungsstand erwies sich für die verschiedenen Regionen Ostmitteleuropas als recht disparat. Vergleichende Untersuchungen liegen bisher kaum vor, so dass die Tagung für eine Präsentation und Zusammenschau der Erscheinungsformen des Phänomens „Schutzvereins“ genutzt wurde. Ausgehend von der Frage „Wen und wovor schützen Schutzvereine?“ warf Peter Haslinger (München), der die Tagung federführend betreute, einen Blick auf das Selbstbild dieser Vereine, die in der Regel durch ein breites Tätigkeitsprofil mit enger regionaler Begrenzung gekennzeichnet sind. Sie wurden in polyethnischen Regionen oder entlang von so genannten „Sprachgrenzen“ aktiv, um die unsicher scheinende nationale Zugehörigkeit der Bewohner explizit zu machen und sie gegen Angriffe abzusichern. In den Schutzvereinen, die sich meist in Städten konstituierten, ihrer Haupttätigkeit aber im ländlichen Raum nachgingen, so eine These Haslingers, wurde die Grunderfahrung nationaler Realität vom Rande her bestimmt. Der fremdnationale Gegner trat in den Mittelpunkt der Rezeption, dessen Aktivitäten Handlungsanleitung boten und gleichzeitig dringenden Handlungsbedarf signalisierten. Schutzvereine leisteten die Integration in ein nationales Selbstverständnis jedoch nicht nur nach innen. Ihr Wirken richtete sich vielmehr besonders auf national-indifferente Gruppen an der „Sprachgrenze“ bzw. auf den „Sprachinseln“. Sie propagierten die Wahrung des „nationalen Besitzstandes“, wobei das Bedrohungsszenario aus der Infragestellung des gesellschaftlichen status quo oder aus dem ökonomischen Machtverlust einer Bevölkerungsgruppe bezogen wurde.

Gerade das soziale Wirken der Schutzvereine wurde in vielen Vorträgen herausgearbeitet. Vor allem im Referat von Tara Zahra (Harvard) wurde deutlich, dass die Schutzvereine als Wohlfahrtsorganisationen oftmals an die Stelle des Staates traten. Zahra konnte am böhmischen Fall zeigen, dass die nationale Loyalität der Bewohner und insbesondere der Jugend über Zuwendungen gewonnen werden sollte, die von Weihnachtsgeschenken bis hin zur Alimentierung durch Waisenrenten und Stipendien reichten. Während des Weltkrieges wurden die Schutzvereine zu Wegbereitern des Wohlfahrtsstaates, indem die staatliche Verwaltung in ihrer Sozialpolitik auf deren gewachsene Infrastruktur und Legitimationsbasis zurückgreifen konnte.

Die Frage nach dem Verhältnis des Schutzvereins zum Staat wurde in mehreren Referaten aufgegriffen. Ganz anders als im Falle Ungarns, wo die Schutzvereine EMKE in Siebenbürgen und FEMKE in Oberungarn die Speerspitze des offensiven Sprachnationalismus bildeten, wie Joachim von Puttkamer (Jena) erläuterte, war das polnische Vereinswesen in Preußen auf gesellschaftliche Selbsthilfe hin ausgerichtet, ohne jedoch in eine offene Gegnerschaft zum Staat zu geraten, wie Rudolf Jaworski (Kiel) betonte – es war vielmehr unterhalb des Staates angesiedelt. Auch regionale und lokale Perspektiven wurden herangezogen, um den Erfolg der Schutzvereinsaktivitäten einschätzen zu können. Laurent Dedryvère (Paris) zeigte anhand des Vereins Südmark, wie sehr deren Publikationen bestrebt waren, eine regionale Identität genau zu definieren, um die Beziehung der Region (bzw. der Heimat, in diesem Fall der Steiermark) zur großen deutschen Nation in der lokalen Mentalität dauerhaft zu verankern.

In einem Zeitalter der Massenmobilisierung wurden Versuche, eine regionale Kultur oder Heimatbewusstsein zu befördern, zudem oft zu Versuchen, bürgerliche Werte zu verbreiten. Elitenkultur und Geschmack wurden als eine totalisierende Nationalkultur rekonzipiert. Elena Mannová (Bratislava) führte am Beispiel der mentalen Anpassung der Bevölkerung an neue Machtkonstellationen aus, wie diese in der Südslowakei im Laufe weniger Jahre mit veränderten staatlichen Bezugsrahmen konfrontiert und zur Positionierung gezwungen war. Róbert Letz (Bratislava) ergänzte diesen Befund am Beispiel der nach dem Muster der Schutzvereine in den böhmischen Ländern zu Beginn der Zwischenkriegszeit gegründete „Slowakische Liga“ (Slovenská Liga). Mit Jörg Hackmann (Greifswald) weitete sich der Blick auf die russischen Ostseeprovinzen, in denen der prekärer werdenden Stellung der deutschen Eliten vor allem durch die Gründung von Schulvereinen begegnet wurde.

Pieter Judson (Swarthmore) ging in seinem Vortrag auf das Konzept der „imagined borderlines“ ein, wobei das Schützenswerte – die Nation – überhaupt erst geschaffen werden musste. Die Volkszählungen der 1880er und 1890er Jahre im österreichischen Teil der Habsburgermonarchie ermöglichten, den territorialen Umfang der Nation festzulegen. Die systematisch-wissenschaftliche Auswertung der statistischen Ergebnisse förderte den öffentlichen Diskurs und bildete die Grundlage des Kampfes um national indifferente Bevölkerungskreise, wie Judson durch vielgestaltige Beispiele aus dem slowenisch-deutschen Kontaktbereich belegen konnte. Die Betrachtung des slowenisch-deutschen Beispiels eröffnete auch den Blick auf das Verhältnis Schutzverein und Kirche. Christian Promitzer (Graz) wies die Schutzverbände als säkular aus, deren Terminologie aber durchaus religiös geprägt sein konnte, wie er am slowenischen Cyrill-und-Method-Verein erläuterte. Die Mitwirkung kirchlicher Institutionen in Nationalisierungsprojekten bildet trotz dieser Befunde sicher noch ein Desiderat der Forschung.

Ebenso mangelt es an Untersuchungen zu den ökonomischen Bedingungen von Nationalisierungsprozessen, wie Robert Luft (München) anmerkte, der mit Blick auf die tschechischen und deutschen Schutzvereine in den böhmischen Ländern eine Neuperiodisierung der durch Vereine betriebenen Schutzarbeit vornahm, deren Vorläufer er schon im Vormärz in Gestalt von kulturellen, landsmannschaftlich-regionalen Vereinigungen ausmachte. In die Richtung einer notwendigen Ausweitung der chronologischen Rahmens wies auch das Referat von Roman Holec (Bratislava) zur Schutzbewegung in Ungarn in den 1840er Jahren.

In Hinblick auf die Vermittlung von geschlechterspezifischen Rollenvorstellungen und bürgerlicher Werte erwies sich vor allem der Vortrag von Heidrun Zettelbauer (Graz) über Geschlechteridentitäten im Verein Südmark als weiterführend. Denn gerade die lockeren Organisationsmuster der Schutzvereine ermöglichten es bürgerlichen Frauen, viel an Initiative und Einfluss zu entwickeln, ohne dabei ihre gesellschaftliche Stellung zu gefährden. Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern in den Schutzvereinen spiegelte durchaus die allgemeinen bürgerlichen Werte der Gesellschaft in einer „nationalen“ Form wider und verstärkte diese damit noch. Die Polarität zwischen einer männlichen – Öffentlichkeit – und einer weiblichen – Privatsphäre sowie einer nationalen Erziehung der Kinder – ermöglichte eine breite Mobilisierung ohne dabei den politischen status quo in Frage zu stellen. In der bürgerlichen Welt wurden Frauen zwar als unmündig in einem formalen politischen Sinne angesehen, gerade die Schutzvereine ermöglichten bürgerlichen Frauen jedoch eine rege Teilnahme in allen nationalistischen Lagern. Im weiteren Sinne könnte man behaupten, so Zettelbauer, Frauen seien auch die Hüter der körperlichen Grenzen zwischen Nationen.

Die transregionale Erhärtung des Begriffes „Schutzverein“ für einen speziellen Vereinstypus deutete sich an, konnte durch die Tagung aber nicht endgültig geleistet werden. Einen wenig erforschten Aspekt stellte ebenso die Beharrlichkeit der dörflichen Bevölkerung in vornationalen Verhaltensmustern dar, die Bildungs- und Wirtschaftsförderungsangebote der Schutzvereine zwar bereitwillig akzeptierte, ohne aber deren Ideologie zu übernehmen. Neben dem Schutzaspekt, der sich in der Rhetorik, in den Tätigkeitsfeldern oder in der personalen Zusammensetzung von Schutzvereinen niederschlug, scheint vor allem deren „interventionistisch angelegtes, lokalisiertes Totalprogramm“ (Haslinger) die Heraushebung dieses besonderen Typus aus dem Spektrum der bürgerlichen Vereine zu rechtfertigen.

Als Phänomen, das an der Ausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit teilhatte, Erlebnisräume schuf, modernisierend wie konservierend wirkte, der Selbstvergewisserung seiner Mitglieder diente, Verhaltensmuster universalisierte und als national normierte, an der Herstellung sozialer Gerechtigkeit arbeitete sowie lokale Perspektiven an die Nation band, findet sich im „Schutzverein“ ein Untersuchungsgegenstand, der vielfältige Zugänge zu europäischen Nationalisierungsprozessen – und vielleicht nicht nur zu diesen – bietet.


Redaktion
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