Dichtung und Wahrheit – Zum Verhältnis von Narration und Erklärung in den Geistes-, Kultur-, und Sozialwissenschaften

Dichtung und Wahrheit – Zum Verhältnis von Narration und Erklärung in den Geistes-, Kultur-, und Sozialwissenschaften

Organisatoren
Johannes Marx; Andreas Frings; mit freundlicher Unterstützung der Gerda-Henkel-Stiftung und des Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums Mainz/Trier
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.11.2006 - 18.11.2006
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Von
Carina Schmitt, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Die Frage nach einem angemessenen methodologischen Zugriff auf soziale und kulturelle Phänomene in Vergangenheit und Gegenwart stand im Mittelpunkt der interdisziplinären Tagung „Dichtung und Wahrheit - Zum Verhältnis von Narration und Erklärung in den Geistes-, Kultur-, und Sozialwissenschaften“. Da in den meisten Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften der sozial handelnde Mensch als gemeinsames Erkenntnisproblem identifiziert werden kann, wurden mögliche Verbindungen zwischen den verschiedenen Zugängen einzelner Disziplinen thematisiert. Dabei spielten die Begriffe Erklären, Erzählen und Verstehen sowie Rationalität und Handlung eine zentrale Rolle. Ziel der Tagung war die Aufarbeitung der methodologischen Grundlagen der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie die Überprüfung neuerer integrativer Konzepte aus der analytischen Philosophie auf deren Anwendbarkeit in anderen Disziplinen.

Diese Fragen wurden in einem Kreis von Referenten, der Soziologen, Politikwissenschaftler, Historiker, Philosophen und Ökonomen umfasste, unter der Leitung des Politikwissenschaftlers Dr. phil. Johannes Marx (Mainz) und des Historikers Dr. phil. Andreas Frings (Mainz) diskutiert.

Der Wirtschaftshistoriker und Volkswirt Hansjörg Siegenthaler aus Zürich eröffnete das Tagungsprogramm mit seinem Vortrag zum Rationalitätsprinzip der Ökonomie. Provokant stieg er mit der These ein, dass er sich in Grundseminaren zur Methodologie der Neoklassik die Hermeneutik aneignete. Schließlich sei das Rationalitätsprinzip, auf das schon Adam Smith zur Erklärung individueller Handlungen zurückgegriffen habe, gleichzeitig die methodologische Grundlage für das Konzept des hermeneutischen Verstehens. Um Handlungen verstehen zu können, müsse man ihnen Rationalität unterstellen. So könne die Rationalitätsunterstellung als Empfehlung für einen adäquaten wissenschaftlichen Zugriff auf Handlungen betrachtet werden. Der Rationalitätsbegriff der Ökonomie sei demnach das verbindende Element zwischen Ökonomie, Geistes- und Sozialwissenschaften. Im Hinblick auf die beiden Begriffe Erklären und Erzählen betonte Siegenthaler, dass es sich hierbei nicht um konkurrierende, sondern vielmehr um sich ergänzende Begriffe handelt.

Im Anschluss referierte der Soziologe Karl Acham aus Graz über Geschichte und Sozialtheorie und verwies auf die Komplementarität kulturwissenschaftlicher Erkenntnisorientierungen. Er bot in seinem Vortrag einen breiten Überblick kulturwissenschaftlichen Denkens und skizzierte dessen Entwicklungspfade von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis in die heutige Zeit. Dabei könnten verstehende und deduktiv-erklärende Zugriffe auf menschliche Handlungen als gleichberechtigte methodologische Herangehensweisen verstanden werden. Er hob hervor, dass der Gegenstand der Beschreibung stark von der Methode abhänge. Acham zeigte, dass die Auseinandersetzung um die zentralen Fragen der Tagung nicht neu, sondern vielmehr in der Geschichte des soziologischen Denkens verwurzelt sei.

Der Mainzer Philosoph Andreas Hütig arbeitete in seinem Beitrag die außerordentlich heterogene Landschaft der Kulturwissenschaften nach Erkenntnisinteresse und Methodologie systematisch auf. Er umriss deren Erkenntnisgegenstand und zeigte die unterschiedlichen Möglichkeiten einer Annäherung an kulturwissenschaftliche Phänomene und die damit verbundenen Fragestellungen auf. Hütig untersuchte anschließend die Frage, ob es sich im Selbstverständnis der Kulturwissenschaften um eine Metawissenschaft, eine neu entstandene Wissenschaft oder um die Modifizierung einer bereits bestehenden handelt. Anschließend skizzierte er Problemstellungen innerhalb der Kulturwissenschaften, die eines handlungstheoretischen Zugriffs bedürften, der bisher nur unzureichend in den Kulturwissenschaften verwirklicht wurde. Damit stellte er eine Verbindung zwischen den Kulturwissenschaften und den handlungsorientierten sozialwissenschaftlichen Disziplinen her und zeigte so die Potenziale eines integrativen Zugriffs auf.

Der Historiker Rüdiger Graf aus Berlin stellte die Ironie ins Zentrum seiner Betrachtung. Mit dem Titel seines Vortrags „Geschichtswissenschaft zwischen Ironie und Bullshit. Überlegungen zum Problem historischer Wahrheit“ knüpfte er an einen Aufsatz von Harry G. Frankfurt an, der die verschiedenen Möglichkeiten des Umgangs mit Wahrheit thematisiert. Dabei sei, so Graf, die ironische Position dadurch gekennzeichnet, dass sie grundsätzlich an der Möglichkeit zweifle, historische Wahrheiten erkennen zu können. Daher solle der Historiker weniger nach historischen Wahrheiten suchen, sondern sich vielmehr um neuartige Interpretationsmöglichkeiten historischer Prozesse bemühen. Geschichtswissenschaft möchte er nicht als bloßes Datensammeln verstanden wissen, sondern als Denken des Unmöglichen. Inwieweit eine so verstandene Geschichtswissenschaft kontrafaktisch argumentiert oder einen konstruktivistischen Zugriff für sich beansprucht, wurde im Anschluss kontrovers diskutiert. Zentral scheint aus dieser Perspektive die Frage zu sein, wie es noch und ganz anders hätte sein können?

Dem Erklären und Verstehen von Handlungen in der Philosophie Georg Henrik von Wrights wandte sich die Politikwissenschaftlerin Ruth Zimmerling aus Mainz zu. Georg Henrik von Wright stelle grundsätzlich in Frage, ob der Erklärungsbegriff, wie er in den Naturwissenschaften Verwendung findet, für die Geistes- und Sozialwissenschaften fruchtbar gemacht werden könne. Da Handlungen aus Intention und Bewegung bestünden, sei die Handlung begrifflich auch nicht von der Intention zu trennen. Aufgrund dieser begrifflichen Verknüpfung könne der Zusammenhang zwischen dem Handlungsgrund und der Handlung selbst nicht empirisch geprüft werden. Handlungen könnten demnach nicht erklärt, sondern nur verstanden werden. In der Diskussion wurden die Konsequenzen einer solchen Position für die empirischen Sozialwissenschaften erörtert.

Für den Philosophen Oliver Scholz aus Münster sind die Begriffe Erklären und Verstehen hingegen Korrelativbegriffe, die stark zueinander in Beziehung stehen. Er machte darauf aufmerksam, dass Verstehen keine Methode sei, sondern man interpretative Methoden benötige, um Verstehen zu können. Bei dieser Annäherung durch Interpretation müsse der Geschichtswissenschaftler bestimmte Präsumtionsregeln beachten. Diese Präsumtionsregeln beinhalteten Rationalitäts- Konsistenz- und Wahrheitsunterstellungen, die solange aufrechterhalten werden müssten, bis zureichende Gründe vorliegen, dass sie nicht mehr gelten. Handlungen werden nach Oliver Scholz dann verstanden, wenn ein (subjektiv) zielgemäßes Mittel für die Umsetzung einer Absicht eingesetzt werde. Wenn nun Historiker das Verstehen historischer Zusammenhänge in ihren Arbeiten stark machen, müssen sie damit notwendigerweise den handelnden Akteuren Rationalität unterstellen.

Der Frage nach der Wirkung von Kultur auf individuelles menschliches Handeln stellte sich der Politikwissenschaftler Johannes Marx. Dafür griff er auf das ökonomische Forschungsprogramm zurück, das für die Behandlung kultureller Phänomene üblicherweise als ungeeignet gilt. Dies resultiere, so Marx, aus einer verzerrten Wahrnehmung der ökonomischen Theorie. Irrtümlicherweis würde die neoklassische Variante mit deren Annahme eines nur auf materielle Anreize ausgerichteten Akteurs mit dem ökonomischen Forschungsprogramm gleichgesetzt. Es gebe jedoch innerhalb des ökonomischen Forschungsprogramms empirisch ausgerichtete Theoriemodelle, die im Gegensatz zu den analytischen Varianten für die Integration kultureller Phänomene offen seien. Mit der Theorie sozialer Produktionsfunktionen skizzierte Johannes Marx eine Möglichkeit, Fragen der kulturellen Prägung und damit der Präferenzentstehung im Rahmen des ökonomischen Ansatzes zu bearbeiten.

In seinem Vortrag über das Verhältnis von Erklären und Erzählen beim Umgang mit historischen Prozessen ging der Mainzer Historiker Andreas Frings zunächst auf die Position Hayden Whites ein. Dieser betrachte Geschichtswissenschaft als notwenig narrativ, auch da, wo sie vorgibt, es nicht zu sein. White lehnt damit die Möglichkeit von Erklärungen in der Geschichtswissenschaft ab. Stattdessen müssten historische Arbeiten in literaturwissenschaftlichen Kategorien beschrieben werden. Andreas Frings distanzierte sich deutlich von dieser Position. Für ihn ist historische Geschichtswissenschaft nicht nur Erzählung, sondern müsse darüber hinaus auch erklären können. Dafür sei es notwendig, historische Sachverhalte auf individuelle Handlungen zurückzuführen, denen Rationalität unterstellt werden müsste. Für die Erklärung individueller Handlungen gilt es Gründe zu benennen, die im Ziel- und Wertesystem des Akteurs und der Situation verortet werden können, in der sich der Handelnde befindet.

Thomas Spitzley (Philosophie) aus Duisburg stellte in seinem Beitrag die Philosophie Donald Davidsons vor, die über den Begriff der Rationalität verspricht, die Dichotomie von Erklären und Verstehen aufheben zu können. Auch Davidson legt individuellen Handlungen Rationalität, Konsistenz und Wahrheit zugrunde. Handlungen seien Ereignisse, die ein Akteur unter einer Beschreibung absichtlich tut. Eine Handlung könne dann als minimal rational bezeichnet werden, wenn es einen (Primär)grund gebe, der sie rationalisiert. Die Rationalitätspräsumtion stelle eine notwendige Bedingung für das Verstehen individueller Handlungen dar. Damit fallen in Donald Davidsons Philosophie Handlungs- und Interpretationstheorien zusammen. In der Diskussion blieb offen, ob der Davidsonsche Rationalitätsbegriff tatsächlich mit den Konkretisierungen des Rationalitätsbegriffs in den unterschiedlichen Disziplinen kompatibel ist.

Abgerundet wurde die Tagung durch die systematische Einordnung und Zusammenfassung der unterschiedlichen Beiträge durch die Mainzer Philosophin Mechthild Dreyer. Sie arbeitete die Gemeinsamkeiten der Disziplinen und die vorhandenen Problemfelder heraus. So stände in den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften das individuelle menschliche Handeln im Zentrum der Betrachtung. Diesem Handeln müsse, um es überhaupt wissenschaftlich behandeln zu können, Rationalität unterstellt werden. Die Frage, inwieweit der Rationalitätsbegriff einer ökonomischen Handlungstheorie mit der Rationalitätspräsumtion der analytischen Hermeneutik zusammenfalle, bedürfe jedoch weiterer Forschung. Allerdings berge ein so verstandener Rationalitätsbegriff das Potenzial eines minimalen methodologischen Konsenses der Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Hier zeigte Frau Dreyer lohnende Problemfelder für zukünftige Forschungsvorhaben auf.

Insgesamt zeigte die Tagung, wie wichtig und doch sogleich problematisch die Auseinandersetzung um den angemessenen methodologischen Zugriff auf kulturelle und soziale Sachverhalte ist. Selbst bei zentralen Begrifflichkeiten wie Handlung und Rationalität handelt es sich keineswegs um eindeutige Begriffe. So grundlegend die Diskussion dieser Fragen ist, so selten wird sie konstruktiv innerhalb und zwischen den einzelnen Disziplinen geführt. Dies ist jedoch notwendig, damit Interdisziplinarität nicht nur Programm bleibt, sondern Wirklichkeit wird.


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