Das Gericht als Tribunal oder: Wie der NS-Vergangenheit der Prozess gemacht wurde

Das Gericht als Tribunal oder: Wie der NS-Vergangenheit der Prozess gemacht wurde

Organisatoren
Zeitgeschichtlicher Arbeitskreis Niedersachsen (ZAKN)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.11.2006 - 25.11.2006
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Von
Rüdiger Graf, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die diesjährige Tagung des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen (ZAKN), die am 24. und 25. November unter Leitung von Bernd Weisbrod in Göttingen stattfand, widmete sich dem „Gericht als Tribunal“ oder genauer der Frage, wie der NS-Vergangenheit – vornehmlich in der Bundesrepublik Deutschland – der Prozess gemacht wurde. In seinem Einführungsvortrag umriss Georg Wamhof (Göttingen), der die Tagung organisiert hatte, das Programm einer methodischen Akzentverschiebung bei der Analyse der Geschichte der NS-Prozesse. Während der älteren Forschung die NS-Prozesse und deren Akten zum einen als Quellen für die Untersuchung der Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen und zum anderen als Indikatoren für den jeweils erreichten Stand des Geschichtsbewusstseins und der „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik Deutschland dienten, zeichne sich im Rahmen der allgemeinen kulturhistorischen Wende der Geschichtswissenschaft eine genauere Fokussierung der Gerichtspraxis und der medialen Repräsentation der NS-Prozesse ab. Es gehe darum, wie der NS-Vergangenheit der Prozess gemacht wurde, wie die Verbrechen in den juridischen Praktiken konstituiert und repräsentiert wurden, wie eine spezifische „courtroom-culture“ das Kommunikationsverhalten von Tätern und Opfern und damit auch das, was kommuniziert werden konnte, prägte – mithin gehe es also um die Erforschung des performativen Charakters der Gerichtskultur. Eine hohe Bedeutung komme der Performativität und den narrativen Strukturen nicht nur auf der Ebene der konkreten Gerichtsverhandlungen zu, die nur Wenige miterlebten, sondern auch bei ihrer medialen Repräsentation. Diese kulturgeschichtliche Perspektivverschiebung sei nun – so die Ausgangshypothese der Tagung – keine beliebige Erweiterung unserer bisherigen Kenntnis der NS-Prozesse, sondern vielmehr eine konstitutive Bedingung für die Untersuchung ihrer Bedeutung sowohl als Repräsentationen der NS-Vergangenheit wie auch als Indikatoren der bundesdeutschen „Vergangenheitsbewältigung“.

Diesem methodischen Programm entsprechend, widmeten sich die Vorträge der ersten beiden Sektionen vor allem dem Geschehen im Gerichtssaal, während die Sektionen drei und vier den Akzent auf die mediale Repräsentation und öffentliche Wirkung der NS-Prozesse legten und eine abschließende Sektion genauer ihre Darstellung in Film und Fernsehen untersuchte. Unter dem Stichwort „Rechtspraxis als öffentlicher Akt“ entwickelte zunächst Henning Grunwald (Nashville, Tennessee) in einem historischen Rückgriff am Beispiel der politischen Prozesse gegen Rosa Luxemburg im Kaiserreich und gegen Kommunisten in der Weimarer Republik einige allgemeine Überlegungen zum Gericht als Theaterbühne, auf der die Akteure bestimmte Rollen einnehmen und ein Stück zur Aufführung zu bringen suchen. Genauer schilderte er die Praxis der KPD, das Wohl des Angeklagten der Politisierung und öffentlichen Wirkung des Prozesses unterzuordnen. Dabei wirkte die Analogisierung von Gericht und Theater als ritualisierte Praktiken intuitiv plausibel, so dass im Verlauf der Tagung oft auf sie rekurriert wurde, wobei ihr analytisches Potential jedoch bisweilen undeutlich blieb. Hatten die Rechtsanwälte der Roten Hilfe die Prozesse gegen ihre Genossen als Exempel genutzt, um die Weimarer „Klassenjustiz“ vorzuführen und so das Bewusstsein der Proletarier für die Notwendigkeit der Weltrevolution zu schärfen, maß Fritz Bauer den Gerichtsprozessen eine deutlich andere, aber nicht weniger bewusstseinsbildende Funktion zu. Wie Claudia Fröhlich (Berlin) am Beispiel des Braunschweiger Prozesses gegen Otto Ernst Remer im Februar 1952 darlegte, versuchte Bauer diesen Prozess zu einem Lehrstück über die NS-Vergangenheit zu machen und war auch sonst von der potentiellen Bedeutung der NS-Prozesse als „historischer, rechtlicher und moralischer Unterricht“ überzeugt. Gegen elitäre Auffassungen von Staat und Demokratie, habe Bauer die Rechtmäßigkeit vor allem des konservativen Widerstandes zu begründen und im öffentlichen Bewusstsein zu verankern gesucht.

Gegenstand der zweiten Sektion war der „Gerichtssaal als Kommunikationsraum“. Hier explizierte zunächst der Literaturwissenschaftler Stephan Braese (Berlin) den Unterschied von Zeugnis und Zeugenschaft. Das Zeugnisablegen sei ein spezieller Fall der Erinnerungsrede, die auf eine bestimmte Form des Zuhörens angewiesen sei und daher weder vor Gericht noch in der Geschichtswissenschaft in ihrem Eigenrecht zur Geltung kommen könne. Denn in beiden Kontexten werde das Zeugnis auf die Zeugenschaft reduziert und damit den Kriterien von wahr und falsch unterworfen. In der Diskussion fragten die versammelten Historikerinnen und Historiker vor allem danach, welche Konsequenzen die Autonomie und Dignität der Zeugenschaft für die Geschichtswissenschaft habe, und widersprachen darüber hinaus der Kritik, die Braese an Martin Broszats Zeitzeugenkritik geübt hatte. Anschließend beschäftigte sich Kathrin Stoll (Bielefeld) mit der Kommunikationskultur im Bielefelder Białystok-Prozess, der für eine solche Untersuchung besonders gute Möglichkeiten bietet, da ein Tonbandmitschnitt der Verhandlung existiert. Mit langen Originaltoneinspielungen zeigte Stoll zum einen, wie die forensiche Logik die Kommunikation über die Vergangenheit prägte und lieferte zum anderen überaus eindrückliche Beispiele der Verteidigungsstrategie der Angeklagten, sich nur noch an Dinge zu erinnern, an denen sie nicht beteiligt waren.

Der zweite Tag begann mit einer Sektion zur Repräsentation der NS-Prozesse in der Presse. Im Mittelpunkt der Diskussion standen hierbei die Prozessberichterstatter sowie die Mittel und Stereotypen ihrer Darstellungen. Cord Arendes (Heidelberg) entwickelte einige allgemeine Überlegungen zu Funktion und Bedeutung der Prozessberichterstatter und entwarf eine Typologie der von ihnen produzierten Täterbilder. Diese seien im Verlauf der Bundesrepublik relativ konstant geblieben und in den häufig nur sehr kurzen Prozessberichten in den Tageszeitungen immer wieder aktualisiert worden. Annette Weinke (Berlin) arbeitete anhand des Auschwitzprozesses das komplizierte Wechselverhältnis von Gerichten und Medien heraus und analysierte das Missverhältnis von öffentlicher und veröffentlichter Meinung zur NS-Vergangenheit in den 60er Jahren. Ausgehend von den Vorträgen wurde in der Diskussion gefordert, die Gruppe der Prozessberichterstatter wie auch der vor Gericht hinzugezogenen Experten sozial und kulturell genauer zu erfassen sowie das Fernsehen und vor allem das Radio in die Medienanalyse einzubeziehen. Darüber hinaus müssten die Spezifika der Gerichtskultur, der Rollen- und Stereotypenbildung und der medialen Repräsentation der NS-Prozesse gegenüber anderen Strafprozessen deutlicher akzentuiert werden.

Unter dem Titel „Erwartungsdruck und Rechtsbegehren“ verließen die Vorträge der folgenden Sektion geographisch die alte Bundesrepublik. Christian Dirks (Berlin) schilderte den Prozess gegen den SS-Arzt Fischer und die Reaktionen der Bevölkerung in der DDR im Jahr 1966. Nach dem vom MfS inszenierten Schauprozess habe es in der Bevölkerung eine weit verbreitete Schlussstrich-Mentalität gegeben, auf die von staatlicher Seite mit Bürgerforen zur Aufklärung über den Nationalsozialismus reagiert worden sei. Anschließend untersuchte Nina Burkhardt (Gießen) die mediale Berichterstattung über den Auschwitzprozess in Belgien und den Niederlanden. Dort sei ein differenziertes Bild nicht nur der Prozesse, sondern auch der öffentlichen Reaktionen in der Bundesrepublik gezeichnet worden, woran sie einen Wandel des Deutschlandbildes in den Nachbarländern festmachte. In der anschließenden Diskussion wurde die Konsequenz gezogen, dass die NS-Prozesse grundsätzlich nicht nur in nationalen Kontexten rekonstruiert werden dürften, sondern unter den Bedingungen des Kalten Krieges und der Deutschland international entgegengebrachten Erwartungshaltung immer auch in ihren internationalen Zusammenhängen betrachtet werden müssten. Letztere seien wesentlich über Massenmedien hergestellt worden.

In der letzten Sektion untersuchte zunächst Ulrike Weckel (Florenz) Stanley Kramers 1961 mit internationaler Starbesetzung gedrehten Film „Judgment at Nuremberg“, der auf dem so genannten Nürnberger Juristenprozess basiert. Dabei wandte sich Weckel gegen Filmanalysen, die versuchten, durch den Vergleich mit der historischen Wirklichkeit die Fiktionalisierungselemente zu entlarven, und plädierte stattdessen für eine Lesart des Films als Utopie der Entnazifizierung. Durch das Abweichen vom Original entwerfe der Film einen idealen Entnazifizierungsprozess und kritisiere so dessen reale Defizite, sei aber darüber hinaus nicht nur auf Deutschland, sondern auch auf die USA der McCarthy-Ära zu beziehen. Nicht imposanten Hollywood-Produktionen, sondern unspektakulären Dokumentarfilmen und Jugendsendungen widmete sich Sabine Horn (Göttingen) in ihrer Analyse der Fernsehberichterstattung über den Auschwitz- und den Majdanek-Prozess. Dabei konstatierte sie einen Wandlungsprozess von einer „Zeigefingerpädagogik“ zum Ideal „demokratischen Lernens“, den sie wesentlich auf den Einfluss Theodor W. Adornos zurückführte. Interessanterweise wirkten auch die von ihr angeführten Beispiele des demokratischen Lernens am Ende der 70er Jahre auf die Zuhörer heute eher wie Zeigefingerpädagogik.

Am Schluss der Tagung, die so interessante wie heterogene Vorträge zusammenführte, stand kein einheitliches und synthetisierendes Fazit, sondern eine Diskussion, die um zwei verschiedene Schwerpunkte kreiste. Zum einen ging es um die Fruchtbarkeit des methodischen Ansatzes, die Gerichtsprozesse zunächst einmal im Hinblick auf die Performanz des Juridischen zu lesen. Wurde dieses Unternehmen einhellig positiv bewertet, so schienen doch die Vorträge für die meisten nur einen ersten Schritt in diese Richtung zu bedeuten. Gefordert wurde eine konsequentere Lektüre der Quellen nicht primär als Gerichtsakten, sondern vielmehr in allgemeiner kultur- und gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive. Schon im Verlauf der Tagung war dazu allerdings einschränkend bemerkt worden, dass die Struktur der juristischen Quellen einer Performanzanalyse in den meisten Fällen enge Grenzen setzt. Fraglich erschien daher auch, inwieweit es möglich sein würde, Spezifika der juridischen Kommunikation über die nationalsozialistischen Verbrechen jenseits der allgemeinen Regeln des juristischen Spiels herauszuarbeiten. Auch die Frage, ob das Geschehen im Gerichtssaal mit der Theatermetaphorik angemessen zu beschreiben sei, blieb kontrovers. Während viele Aspekte des Prozesses offensichtlich theatralischen Charakter haben, scheinen doch – abgesehen von Schauprozessen wie im Fall des SS-Arztes Fischer – die Regie und das den Ausgang festlegende Stück zu fehlen.

Neben diesen methodischen Fragen kreiste die Diskussion zum anderen um das Problem, ob und in welcher Weise die NS-Prozesse als Katharsis begriffen werden könnten. Es wurde argumentiert, dass bei den so genannten Wandlungstätern, die nach 1945 ein moralisch einwandfreies Leben geführt hätten, die Prozesse die Funktion erfüllten, biographische Konsistenz wiederherzustellen. Diese Position erntete vor allem deshalb Widerspruch, weil sie von zu hohen Ansprüchen an personale Identität ausgehe. Nichtsdestoweniger drückten andere Diskutanten ihr Unverständnis und ihre Fassungslosigkeit gegenüber einigen der vorgestellten Täter-Psychogramme aus und betonten die Notwendigkeit der moralischen Stellungnahme nicht nur in Bezug auf die Tat selbst, sondern auch auf die Aufarbeitungsleistung in Gericht, Medien und Gesellschaft. Insgesamt wiederholte sich auf der Tagung so bis zu einem gewissen Grade das, was der NS-Prozessberichterstattung von ihren Kritikern oftmals als Personalisierung und Fokussierung auf individuelle Fälle vorgeworfen wurde. Als allgemeines Fazit kann daher festgehalten werden, dass zwar von allen anerkannt wurde, wie wichtig die oben skizzierte methodische Ausrichtung der Untersuchung der NS-Prozesse auf die Performanz des Juridischen ist. Zugleich zeigten die Vorträge und Diskussionen aber auch, wie schwierig es angesichts der Dimension der Verbrechen und ihrer zentralen Bedeutung für die bundesdeutsche Identitätsbildung ist, sich von der Perspektive darauf, was im Nationalsozialismus geschehen ist und ob es in der Bundesrepublik angemessen aufgearbeitet wurde, auch nur methodisch zu lösen.


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