Preußen und der Westen (Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Preußische Geschichte im Preußenmuseum Minden)

Preußen und der Westen (Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Preußische Geschichte im Preußenmuseum Minden)

Organisatoren
Arbeitsgemeinschaft für Preußische Geschichte; Prof. Dr. Bernd Sösemann (Berlin); Tagungsleitung: Prof. Dr. Heide Barmeyer-Hartlieb (Hannover), PD Dr. Ewald Frie (Duisburg-Essen)
Ort
Minden
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.10.2006 - 04.10.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Ewald Frie, (Duisburg-Essen)

Thema der Tagung waren die wechselnden Bilder und Bedeutungen, die der "Westen" für Preußen und Preußen für "den Westen" im 19. Jahrhundert erhielten. Der für die Tagung zentrale Begriff "Westen" wurde bewusst nicht inhaltlich definiert, um den Wandel der Bilder verfolgen und daraus Schlüsse für die preußische Geschichte im 19. Jahrhundert ziehen zu können.

In seinem einleitenden Referat nahm Ewald Frie die "Westwind"-Metapher des Fontane-Romans "Vor dem Sturm" zum Ausgangspunkt für einen Überblick über aktuelle außerpreußische Forschungen, die das Tagungsthema erläutern und strukturieren können. Er kam zu vier Schlussfolgerungen:

1. Gemeinschaftliche Selbst- und Fremdbilder waren im 19. Jahrhundert einem starken Wandel unterworfen. Daher kann weder der Westen ideologisch auf Fortschritt, Demokratie und Industrie, noch Preußen auf Tradition, Autorität und Agrarwirtschaft festgelegt werden.

2. Die Verstetigung der preußischen Herrschaft im Osten wie im Westen war ein "unselbstverständlicher", fragiler und von oben wie unten modellierter Prozess, der durch die Intensivierung der Staatstätigkeit im 19. Jahrhundert einen enormen Schub erhielt. Dabei wurden immer neue Argumentationszusammenhänge, Selbst- und Fremdbilder generiert.

3. Die Transfers und Beziehungen zwischen Preußen und dem Westen waren eingebettet in europäische Austauschprozesse, die nicht nur – und meist noch nicht einmal vor allem – in Ost-West-Richtung verliefen.

4. Das 19. Jahrhundert steht insgesamt vor einer Neubeschreibung, in der im weitesten Sinne kulturhistorische Phänomene wie Veränderungen von Raum und Zeitvorstellungen, wie die Ausbildung erfundener statt geborener Gemeinschaften, wie transnationale Netzwerke, wie regional unterschiedliche Konfigurationen von Adel, Bürgertum und anderen Schichten im Wandel eine große Rolle spielen werden.

Das Tagungsthema wurde in den Bereichen Politik und Recht (Barbara Vogel, Hamburg; Esther-Beate Körber, Berlin und Jürgen Regge, Greifswald), Religion und Kirchen (Jürgen Kampmann, Tübingen und Hans-Georg Aschoff, Hannover), Militär und Gesellschaft (Jutta Nowosadtko, Duisburg-Essen und Frank Becker, Münster) behandelt. Eckart Conze steuerte einen öffentlichen Abendvortrag über "Preußen im Westen nach 1945" bei. Eine wirtschaftshistorische Sektion wurde im Verlauf der Tagung schmerzlich vermisst.

Aus den Tagungsdiskussionen sind vor allem folgende Stränge herauszuheben:

1. "Westen" war, so Barbara Vogel, bis 1815 noch keine gebräuchliche Metapher. Erst danach trat an die Stelle der bis dahin verwendeten territorialen Begriffe (England, Frankreich etc.) immer häufiger die unbestimmte Metapher "Westen". Das war eine Folge des Auseinandertretens von Staat und Gesellschaft und der Verselbständigung des Politischen. Die neue Metapher "Westen" war lange variabel. Sie konnte territorial viele Bedeutungen annehmen, und politisch, ökonomisch oder kulturell eingefärbt sein. Im Bereich der preußischen Politik wurde die Metapher nicht nur in Auseinandersetzungen zwischen Konservativen und Liberalen verwendet, sondern war mindestens in den 1850er Jahren auch ein Signalbegriff bei den Auseinandersetzungen innerhalb des Konservativismus.

2. Beim mikrohistorischen Blick, so wurde vor allem im Anschluss an das Referat von Jutta Nowosadtko deutlich, zerfallen die großen Ost-West-Gegensätze, die allerdings im von Nowosadtko behandelten Zeitraum 1763-1803 auch noch nicht voll ausgebildet waren.

3. Mehrere Diskutanten hoben die Reichsgründungsära als wichtige Zäsur für das Selbstverständnis von Preußen wie auch seiner Westprovinzen hervor. Als Arbeitshypothese wurde formuliert, dass nach der Reichsgründung die mehrheitlich katholischen Westprovinzen sich als Deutsche verstehen konnten, während der Preußenbegriff sich auf die protestantischen ostelbischen Gebiete zurückziehen konnte. Frank Becker gab hierzu Hinweise aus dem militärischen Bereich. Da die "altpreußischen" Provinzen gleichzeitig an ökonomischer Bedeutung gegenüber dem prosperierenden Westen (Ruhrgebiet) einbüßten, konnte Preußen nun mehr und mehr als Inbegriff "traditioneller" Werte bezeichnet werden und der politischen, ökonomischen und kulturellen Moderne entgegentreten. Ältere Preußenbilder, die – vor allem gegen Habsburg – Traditionslosigkeit, ökonomische Modernität und religiösen Pluralismus als preußisch beschrieben hatten, verloren schnell an Bedeutung. Von dieser Bildverschiebung aus könnte, so Kurt Düwell, eine Linie führen bis in die Pläne zur Aufhebung Preußens nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Andererseits aber, so hob Barbara Vogel hervor, löste die Aufhebung Preußens als Staat nach dem Zweiten Weltkrieg Preußen als Idee aus seiner Verankerung. Seitdem ist Preußen ein freies und daher sehr vielgestaltig einsetzbares Argument.

4. "Westen" und "Osten" sind keine komplementären Begriffe. Der "Westen" wurde als Modell für Staatlichkeit diskutiert. Der "Osten" konnte abwechselnd oder gleichzeitig als politische Ordnungsmacht, religiöses Faszinosum oder kulturelle Avantgarde beobachtet werden. Als Staatsmodell war es selbst für die Kreuzzeitungspartei der 1850er Jahre kein Vorbild.

5. Ein Forschungsfeld "Mental Maps" entwickelte Eckart Conze. Wenn zeit- und gegenstandsbezogene Differenzierungen beachtet würden, ließen sich je zeitbedingte Verortungen von Ideen im Raum nachzeichnen, anhand derer sich Gruppen und Gesellschaften orientierten und von anderen abgrenzten.


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