Archiv, Forschung, Bildung. 15 Jahre Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“

Archiv, Forschung, Bildung. 15 Jahre Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“

Organisatoren
Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ (ThürAZ)
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.11.2006 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Teresa Brinkel

Das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ (ThürAZ) in Jena ist ein nichtstaatliches Spezialarchiv mit dem Schwerpunkt Opposition, Widerstand und Zivilcourage in der DDR. Träger ist der Verein „Künstler für Andere.“ e.V. Aus Anlass seines 15-jährigen Bestehens führte das Archiv eine Tagung durch, die den Aufarbeitungs- und Wissensstand zur DDR-Geschichte in Überlieferungen zum Thema machte. Mit der Tagung wurde zudem eine Initiative der DFG aufgegriffen, die den wechselseitigen Dialog zwischen Archiven und der Geschichtswissenschaft unterstützt. Dementsprechend waren Referent/innen aus universitären Einrichtungen, Archiven und anderen Institutionen eingeladen. Den Ausgangspunkt bildete die Frage nach der Bedeutung nichtstaatlicher und staatlicher Dokumente für die Aufarbeitung von DDR-Geschichte, die seit den 1990er Jahren im politischen, wissenschaftlichen und bürgerschaftlichen Rahmen erarbeitet wird.

Die Tagung wurde zunächst durch zwei Impulsreferate von Marianne Birthler, der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), und Reiner Merker, Mitarbeiter des ThürAZ, eröffnet.
Birthler nannte in ihrem Referat „Von der Bürgerbewegung zur Aufarbeitung. Innenansichten“ einige wichtige Stationen auf dem Weg zur gegenwärtigen Aufarbeitungsarbeit der BStU. So liegen die Wurzeln der Bundesbeauftragten in der Besetzung der Stasizentrale am 4.12.1989, den anschließend gebildeten Bürgerkomitees und darin geführten Diskussionen über die mögliche Zukunft und den Nutzen der Akten. Als Meilenstein trat am 29.12.1991 das Stasiunterlagengesetz in Kraft, das den rechtlichen Rahmen für die verschiedenen Formen der Akteneinsicht gab, um die Öffentlichkeit über Struktur, Methoden und Wirkungsweise des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zu unterrichten. Birthler bewertete den Stand der Aufarbeitung zur DDR im Vergleich zu anderen Diktaturen als umfassend und komplex. Sie kritisierte jedoch die einschleichenden Normalisierungsdebatten, die versuchen, die „störende“ Vergangenheit zu verdrängen. Zusätzlich sei es oftmals zeitraubend, immer wieder begründen zu müssen, warum Aufarbeitungsarbeit heute noch notwendig ist. Trotz der vielen wissenschaftlichen Erkenntnisse herrsche noch immer eine weit verbreitete Unkenntnis in der Bevölkerung über die DDR-Geschichte. Birthler plädierte deshalb für ein Aufarbeiten nicht nur im Sinne der Historiographie. Sie sieht es vielmehr auch als Beitrag für Wertediskussionen, die die Ausrichtung der Zukunft entscheidend mitbestimmen. So müssten die Begriffe Demokratie, Freiheit, Zivilgesellschaft, Persönlichkeitsrechte und freier Wille immer wieder in der Aufarbeitung „blank geputzt“ werden, um dessen Werte sichtbar zu machen.

Anschließend referierte Reiner Merker zum Thema „15 Jahre ThürAZ. Versuch einer Standortbestimmung“. Merker demonstrierte über einige der im ThürAZ entstandenen Publikationen die Entwicklung und Verortung des Archivs in der Wissenslandschaft. Anhand der 1993 erschienenen Publikation „Die andere Geschichte. Kirche und MfS in Thüringen“ 1, zeigte er, dass die Funktion des ThürAZ nach seiner Gründung 1991 zunächst in der klassischen Aufarbeitung und Begutachtung von MfS-Akten bestand und einen Beitrag zur Versachlichung emotionaler Diskurse leistete. Sehr bald wurde deutlich, dass die Perspektive des MfS einseitig ist und nichts über die Verhältnisse, Bedingungen und Lebenswirklichkeit derjenigen aussagt, die unter dem Herrschaftssystem lebten. Die neue Sichtweise, die ab Mitte der 1990er Jahre im ThürAZ verfolgt wurde, lässt sich in den beiden Publikationen „Opposition in Jena“ 2 nachvollziehen: Statt der Konzentration auf das Diktatursystem, rückten nun die Akteure in den Fokus. Authentische Materialien und Samisdat 3, Zeitzeugeninterviews und Privatsammlungen ehemaliger Bürgerrechtler und Oppositioneller ließen einen großen Bestand zur Thematik Opposition, Widerstand und Zivilcourage in der DDR entstehen. Die Vielfalt der dokumentierten Ebenen ermöglicht eine weniger verzerrte Annäherung an historische Geschehnisse, so Merker. Als dritten Schritt bezeichnete er die Professionalisierung des ThürAZ, dessen Tätigkeiten sich nicht nur auf Verzeichnung und Verwahrung von Dokumenten beschränken. Weitere Aufgaben bestehen in der Vermittlung zwischen Forschung und Zeitzeugen sowie in der Anfertigung eigener Dokumentationsarbeiten.

An diese beiden Referate schloss sich der erste Themenschwerpunkt an, der sich mit den Überlieferungsbedingungen unter den spezifischen Bedingungen der SED-Diktatur auseinandersetzte und nach den Grundlagen der Bestandsbildung sowie der Unterschiedlichkeit der Problemlagen fragte. Moderiert wurde das Podium von Lutz Schilling (Thüringisches Staatsarchiv Gotha). Zunächst sprach Katharina Lenski (ThürAZ) über die Entstehung, Überlieferung und Bedeutung der privaten Sammlungen im ThürAZ. Die privaten Materialien des Zeitraumes 1949-1989 sind vorrangig durch das Interesse von Privatpersonen entstanden, die oftmals unter schwierigsten Umständen Dokumente des Widerstandes aufbewahrten. Formal handelt es sich bei den Überlieferungen um Plakate, Erklärungen, Eingaben, Gedächtnisprotokolle, Fotografien und Filme, Tonbänder und Kassetten, Zeitungsausschnittsammlungen, graue Literatur sowie politischen und künstlerischen Samisdat. Lenski stellt diese Art der Sammlungen als „Gegenüberlieferung“ und neue Dimension des Wissens gegen die klassischen Nachlässe der DDR-Aufarbeitung, die vorrangig Herrschaftswissen (z.B. Parteiakten) repräsentieren.

Katrin Beger (Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt) setzte sich im zweiten Beitrag mit der „Bestandsbildung des Bezirksparteiarchivs der SED Gera“ auseinander. Beger erläuterte zunächst die Struktur des Bezirksparteiarchivs, das nach 1990 in das Staatsarchiv Rudolstadt übernommen wurde. Festzustellen sei ein Bestandsgebilde aus abgabepflichtigen und nicht-abgabepflichtigen Dokumenten, die der Organisationsstruktur und den normativen Vorgaben der SED entsprechen. Überraschend sei, dass die Bestände heute noch existieren und nur geringe Verluste aufweisen, denn normalerweise wurden Dokumente nach zehn Jahren vernichtet. Beger plädierte für eine Aufarbeitung aller Bezirksparteiarchive, um komplexere Ergebnisse über Parteiarchive zu erhalten.

Das dritte Referat in diesem Themenkreis wurde von Constanze Mann aus dem Jenaer Stadtarchiv zum Thema „kommunale Überlieferungen am Beispiel des Rates der Stadt Jena“ gehalten. Mann berichtete von ihrer Arbeit zur Auswertung des Bestandes „Rat der Stadt Jena 1945-1989“ und wertete insbesondere die Bestandsentwicklung aus: Während für die 50er und 60er Jahre noch von einem großen Bestand gesprochen werden kann, ist für die 70er und 80er Jahre ein besonders rapider Rückgang zu verzeichnen. Für die 80er Jahre sind nicht mehr als 100 Akten, die zudem unvollständig sind, vorhanden. Mann fragte nach den Ursachen dieser Entwicklung und erwähnte in diesem Zusammenhang, dass für die 60er-80er Jahre viele Verwaltungsakten nicht ins Archiv gelangten oder nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen vernichtet wurden. Durch staatlich angeordnete Kassationen und unverantwortliche Archivare wurden serienweise Dokumente zum Wirtschafts- und Politikgeschehen vernichtet. Zudem gingen viele Materialien im Zuge der Wende und folgender Auflösung von Verwaltungsinstitutionen verloren. Letztlich ist die Überlieferungslage für die zweite Hälfte der DDR-Zeit im Hinblick auf einzelne Strukturen, Aufgaben und Personen in Jena sehr beschränkt.

Im letzten Beitrag des ersten Themenschwerpunktes referierte Wolfgang Brunner (BStU Archiv) über „die Archivordnung des MfS und Auswirkungen auf die Bestandsbildung“. Der Bestand MfS gliedert sich zum einen in die Teilbestände der Diensteinheiten des MfS, die allerdings stark von den Vernichtungsaktionen der Wendezeit 1989/90 betroffen waren, und zum anderen in die MfS-Archivbestände, die nahezu komplett von der BStU übernommen wurden. Die Archivbestände der Abteilung XII umfassen die bis zum Jahr 1989 vom MfS selber archivierten, vorwiegend personenbezogenen Akten. Den bedeutendsten Anteil nimmt dabei die Operative Hauptablage ein, in der Akten zu inoffiziellen Mitarbeitern, Operativen Vorgängen und Personenkontrollen abgelegt sind. Daneben existieren weitere Bestände zu hauptamtlichen Mitarbeitern, Staatsanwaltschaft, geheimen Vorgängen u.a. Brunner zeigte, auf welche Weise die „Archivordnung“ der Arbeit einer Detektei gleicht, die auf die Verfolgung politischer Ziele und Ausschaltung staatlicher Feinde zielte. Das MfS war, so Brunners Fazit ein eigener „Staat“ im Staat, der sich Zugang zu allen Sach- und Personenvorgängen in der DDR verschaffen konnte. Im Gegensatz zu den Dokumenten im ThürAZ, müssen die MfS Akten immer als Herrschaftswissen betrachtet und interpretiert werden.

In der anschließenden Diskussion wurde neben den Richtlinien zur Veröffentlichung von Akten auch die Führung der Stasiakten in der Tschechischen Republik angesprochen. Diese würden dort vom Innenministerium verwaltet und seien nur Staatsangehörigen zugänglich. Im Gegensatz zu Deutschland sei es in Tschechien aber möglich, die Akten online einzusehen. Als Idee zukünftiger Forschung könne ein Vergleich der Staatssicherheitssysteme der ehemaligen sozialistischen Länder gezogen werden.

Der zweite Themenschwerpunkt stand unter dem Titel „Erinnerungskultur versus Wissenschaftslandschaft? Entwicklungen und Perspektiven“. Die seit den 1990er Jahren ausdifferenzierte Geschichtslandschaft wird zwischen gesellschaftlicher Aufarbeitung und wissenschaftlicher DDR-Forschung positioniert. Die damit verbundenen Diskussionen innerhalb bürgerrechtlichen, politischen und wissenschaftlichen Engagements waren Thema der folgenden Beiträge, die von Lutz Niethammer (FSU Jena) moderiert wurden. Zunächst referierte Marc-Dietrich Ohse (Deutschland Archiv) zum Thema „Ende einer Ära? Zum Stand der DDR-Forschung“. Ohse stellte heraus, dass es trotz der hohen Anzahl von Forschungsarbeiten ein immenses Transferproblem zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit gebe. Häufig seien die Arbeiten zu stark spezialisiert und damit für Laien uninteressant, zudem mangele es an einer klaren, verständlichen Sprache. Ein zentraler Forschungsschwerpunkt liegt bisher auf dem Herrschaftssystem der SED und der Geschichte der Sicherheitsapparate. Auf diese Weise entstanden Desiderata in der Forschung, die die Geschichte der SED thematisieren, Ausschnitte der Herrschaft und Biographien wichtiger Personen untersuchten. Ohse betonte die Bedeutung internationaler Außenperspektiven und Forschungsrichtungen, die Kontinuitäten untersuchen, anstatt von der „Stunde Null“ auszugehen. In der Forschung mangele es zudem an motivationalen Ansätzen, die den Diktaturalltag erfassen, individuelle Verhaltensweisen und gesellschaftliche Verantwortung untersuchen. Während sich in Parteiakten zwar Normabweichungen oder Normverstöße erkennen lassen, werden Lebenserfahrungen darin nicht sichtbar. Genau diese sollten aber stärker fokussiert werden, um die Öffentlichkeit mehr für DDR-Geschichte zu interessieren und zu sensibilisieren. Die eingangs gestellte Frage, ob die DDR-Forschung am Ende einer Ära sei, verneinte Ohse. Sie sei gerade erst am Anfang, wenn es darum gehe, Forschung in Bildung und Öffentlichkeit zu transferieren. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum kein Vertreter alltags- und lebensgeschichtlicher Ansätze (z.B. Kulturwissenschaft) einen Tagungsbeitrag präsentierte, um Gegenstand und Methodik der durchaus vorhandenen Untersuchungen zum Thema Leben und Alltag in der DDR vorzustellen. Ein Dialog zwischen Historikern und Kulturwissenschaftlern hätte die Tagung konstruktiv ergänzt und der propagierten Forderung, Lebenswirklichkeit unter der Diktatur zu untersuchen, nützliche Impulse verliehen.

Ilko-Sascha Kowalczuk (BStU Abteilung Bildung und Forschung) referierte anschließend „zur Rolle der Bürgerrechtsbewegung bei der Aufarbeitung von DDR-Geschichte“. Kowalczuk hob zunächst hervor, dass die DDR-Bevölkerung keine dumpfe Masse war, die sich ein Geschichtsbild aufdrücken ließ, sondern schon vor der Wende von einem neuen Geschichtsbewusstsein geprägt war. Beherzte Bürgerrechtler, die zu Demonstrationen aufriefen, die Besetzung der Stasizentrale, das Eintreten gegen die Vernichtung der Akten unter dem Slogan „Meine Akte gehört mir“ und die friedliche Revolution selbst sind Beispiele dafür, dass das öffentliche Schweigen zur Propagierung eines idealistischen Geschichtsbildes gebrochen war. Schließlich leitete das Buch von Mitter und Wolle „Ich liebe euch doch alle“ 4 eine neue Form der Geschichtsproduktion ein. Die Sicherstellung und Erforschung von Akten und Unterlagen bildete die Grundlage für die DDR-Forschung, dessen Wurzeln in der Revolution liegen. In einem nächsten Schritt differenzierte Kowalczuk die bisherige Aufarbeitungslandschaft in gesellschaftliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung. Für die gesellschaftliche Aufarbeitung nannte er die Aktivitäten der zahlreichen Vereine, Initiativen und Opferverbände, die sich mit Erinnerungskultur in einem weit verzweigten Aufarbeitungsnetz im öffentlichen Interesse auseinandersetzen. Für die Wissenschaft konstatierte Kowalczuk „eher ein nebeneinander, als ein miteinander“ und bezog sich damit auf die fehlende Zusammenarbeit zwischen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen. Zudem kritisierte er, dass der wissenschaftliche Diskurs über DDR stark westdeutsch geprägt sei, was Auswirkungen auf Forschung, Debatten, Finanzierung, Förderung und Zusammensetzungen von Kommissionen habe. Kowalczuk betonte, dass eine sinnvolle DDR-Aufarbeitung ohne ostdeutsche Erfahrungshintergründe chancenlos sei. Prinzipiell sei es egal, womit man sich beschäftige, aber nicht egal sei, wer sich damit beschäftigt und welche Finanzierung dahinter stehe. Den Streit um die Aufarbeitung bezeichnete er daher weniger als ein Streit um Themen, als vielmehr ein Streit um Ressourcen.

In Anlehnung an Kowalczuks Gegenüberstellung von gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Aufarbeitung stellte Niethammer dar, was er unter den Aufgaben eines Historikers verstehe. Er sehe sich nicht als wissenschaftlicher Gegenpart von Opfergruppen. Seine Aufgabe liege vielmehr in der Offenlegung und Aufklärung unterschiedlicher Facetten der Zeitgeschichte. Sein Anliegen sei es, den Prozess der Geschichtsaufarbeitung zu versachlichen, wofür die Wissenschaft ein Dienstleister sei. Für unsachlich halte er es, wenn Opfergruppen ihre eigene Geschichte schrieben. Weitere Diskussionsbeiträge drehten sich um die Zukunft der DDR-Aufarbeitung und den Konflikt um die westdeutsche Prägung der Aufarbeitung. Entgegen der Meinung Kowalczuks stellte Ohse die behauptete westdeutsche Prägung in Frage. Er sehe die Verantwortung ebenso bei den ostdeutschen Akademikern, die sich in diesem Diskurs abdrängen ließen.

Zwei weitere Referate in diesem Themenschwerpunkt folgten. Ulrike Poppe (Evangelische Akademie Berlin) setzte sich mit der „DDR-Geschichte in der Erwachsenenbildung“ auseinander. Sie zog zunächst eine jüngst durchgeführte Umfrage unter Schülern heran, die deren Wissen zur DDR-Geschichte abfragte. Im Ergebnis sei festzustellen, dass sich die Kenntnisse der Schüler auf geringem Niveau befinden, obwohl in Schulen eine Vielfalt an didaktisch aufbereiteten Themen angewendet wird. Weitere Untersuchungen weisen darauf hin, dass sich Schüler ihr Wissen um die DDR in entscheidendem Maße im außerschulischen Umfeld aneignen, insbesondere durch Erzählungen der Eltern. Wenn Schüler schließlich versuchen, Zusammenhänge zwischen der individuellen Vergangenheit der Eltern und dem schulisch vermittelten Wissen herzustellen, sei dies meist mit Irritationen und folglich Desinteresse verbunden, so Poppe. Daher sei es äußerst wichtig, im Unterricht einen viel stärkeren Bezug zwischen ausschnitthaftem, individuellen Erleben und der „großen“ Geschichte herzustellen. Schüler mehr für Zeitgeschichte zu interessieren, könne nur gelingen, wenn individuelle Erfahrungen und lebendige Erinnerungen im kommunikativen Gedächtnis in die Geschichte der Diktatur integriert werden. Auf diese Weise erscheine DDR-Geschichte glaubwürdiger und vermittele ein begreiflicheres Geschichts- und Demokratieverständnis. Eine Integration von Referenten, die direkt in die Vermittlung von DDR-Geschichte in Schulen eingebunden sind, wäre an dieser Stelle sicherlich sinnvoll gewesen, um deren Erfahrungen zu diskutieren und die diskutierten Impulse direkt weiterzugeben.

Im letzten Beitrag beschäftigte sich Karl-Heinz Hänel (Thüringer Kultusministerium) mit dem Thema „Perspektiven des Umgangs mit der DDR-Geschichte in den Museen des Freistaats Thüringen“. Hänel gab einen kurzen Überblick über die Struktur der Thüringer Museumslandschaft und stellte einige Beispiele museal verarbeiteter DDR-Geschichte dar. Als Schwerpunkt seien hier die Grenzmuseen zu nennen, die in den 1990er Jahren zunächst kaum Akzeptanz in der Bevölkerung erhielten. Große Sammelbestrebungen kennzeichneten die Grenzmuseen in dieser Zeit, die mit fragwürdigen Präsentationen unglaubwürdig erschienen. Der Trabi mit Blaulicht oder die lächelnde Koexistenz aller beteiligten Personen an der Grenze seien nur einige Beispiele, die keinen Bezug zur Wirklichkeit hatten. Erst allmählich entwickelten sich die Grenzmuseen zu aussagekräftigen Orten, die als Mahnung vor den Gefahren einer Diktatur und als Erinnerung an die Opfer des DDR-Grenzregimes gelten können. Hänel kritisierte, dass die Ausstellungen zur DDR-Geschichte in Thüringer Museen häufig an finanzieller, personeller und räumlicher Knappheit leiden sowie an umsetzungsfähigen wissenschaftlichen Fragestellungen mangeln. Ziel müsse die Einrichtung fester Stellen, die Kooperation mit wissenschaftlichen Institutionen und die Einbindung der Grenzmuseen in die bundesweite Museumslandschaft und der –verbände sein.

Das große Interesse, auf das die Jenaer Tagung mit mehr als 80 Teilnehmer/innen stieß, verweist auf die noch immer brisante Thematik, die nicht nur von Historikern, sondern von Interessierten vielfältiger gesellschaftlicher Institutionen und Vereine aufgegriffen wird. Dies zeigt, dass Aufarbeitung auf mehreren Ebenen stattfinden muss, die sowohl den wissenschaftlichen, als auch gesellschaftlichen Rahmen betreffen. Zudem sollte sie vor staatlichem, aber auch nicht-staatlichem Hintergrund gesehen werden. Das Fazit der Tagung lässt sich in folgenden Punkten zusammenfassen:
1.) Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte kann noch lange nicht als „Ende einer Ära“ bezeichnet werden, sondern muss als Wertediskussion für zukünftige Generationen weitergeführt werden.
2.) Es besteht ein eklatantes Problem, die bisherigen Erkenntnisse wirksam in Bildung und Öffentlichkeit zu transferieren.
3.) Um diesen Prozess zu verbessern, müssen lebens- und alltagsgeschichtliche Erfahrungen in die Geschichte der Diktatur eingeflochten werden. Hierzu gehört auch die bisher kaum gestellte Frage nach Motiven und Mitverantwortung der Gesellschaft.
4.) Die Voraussetzungen für die Verbesserung der Kenntnisse in Bildung und Öffentlichkeit schaffen Dokumente demokratischen Werts wie sie im ThürAZ gesammelt werden.
5.) Die Aufarbeitung der „verflüchtigenden“ lebensgeschichtlichen Erfahrungen kann nicht nur Aufgabe der Archive sein, sondern muss auch übergreifend und kooperativ in Vereinen, Institutionen, Bildung, Wissenschaft und Kultur stattfinden.
6.) Die Aufgabe der Wissenschaft muss sich auf die Offenlegung der verschiedenen Facetten der DDR verstehen, um einseitige Geschichtskonstruktionen zu vermeiden. Voraussetzung ist jedoch eine Reflexion über die west- und ostdeutsche Prägung der Wissenschaftler selbst.
Das Ziel der Tagung, einen wechselseitigen Dialog zwischen Archiven und Geschichtswissenschaft herzustellen, konnte durch die beiden Schwerpunktpodien mit anschließender Diskussion sinnvoll umgesetzt werden. Auf diese Weise war es möglich, Eindrücke sowohl praktischer als auch theoretischer Kontexte aufzunehmen, die in Aufarbeitungsprozessen eine Rolle spielen. Zu wünschen bleibt, dass die Tätigkeit des ThürAZ weitergeführt werden kann, um Prozesse der Aufarbeitung zu ermöglichen und kritisch zu begleiten.

1 Lenski, Katharina et al. (Hg.), Die „Andere“ Geschichte. Kirche und MfS in Thüringen. Jena: Matthias-Domaschk-Archiv 1993.

2 Matthias-Domaschk-Archiv (Hg.), Opposition in Jena. Die Gruppe Künstler für Andere. Jena 1995.
Matthias-Domaschk-Archiv (Hg.), Opposition in Jena. Chronologie 1980-1989. Jena 1995.

3 Samisdat bezeichnet die Verbreitung von alternativer, nicht-systemkonformer Literatur künstlerischen oder politischen Inhalts. Diese wurde auf inoffiziellen Kanälen, z.B. durch Handschrift, Schreibmaschine, Ormik-, Wachs-, Siebdruck- oder Computerdruckverfahren an der staatlichen Kontrolle vorbei verbreitet. Zum Samisdat zählen Zeitschriften der Opposition, Aufrufe und Appelle, Reader, Offene Briefe u.a.

4 Mitter, Armin; Wolle, Stefan (Hg.), Ich liebe euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS, Januar bis November 1989. Berlin 1990.


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